Mit Tunnelblick auf die Zukunft?
Keinen Bock mehr auf Coronazahlen - Teil 4
Nachdem das RKI noch Mitte April 1600 Coronatote innerhalb einer Woche meldete, liegt die Zahl der wöchentlich an oder mit Covid-19 Verstorbenen seit Mitte Juni unterhalb von 100. Zum Vergleich: Die Gesamtsterblichkeit in Deutschland beträgt etwa 18.000 Menschen pro Woche. Wie im Diagramm zu sehen, hatte der Anstieg bei den Positiv-Getesteten über nahezu drei Monate kaum Auswirkungen auf die Zahl der Coronatoten.
Vor dieser Entwicklung erscheint die Forderung vernünftig, Corona-Eindämmungsmaßnahmen nicht mehr ausschließlich von den Positiv-Gestesteten abhängig zu machen, sondern auch von der tatsächlichen Bedrohungslage, die durch die Zahl der schwer Erkrankten und Verstorbenen repräsentiert wird.
Hyperargument "Neuinfektionen"
Corona-Eindämmungsmaßnahmen zielen darauf ab, die Gesundheit der Menschen zu schützen. Ob dieser Schutz gelingt, ist an den Zahlen der Cov-19-Krankenhauspatienten, Intensivpatienten und Verstorbenen ablesbar. Gesundheitsminister Spahn hat zwar vor wenigen Tagen eingeräumt: "Nur die Zahl der Neuinfektionen alleine ist kein ausreichender Parameter zur Einschätzung der Lage."
Dennoch wird bei politischen Entscheidungen zu Eindämmungsmaßnahmen fast ausschließlich mit diesen "Neuinfektionen" argumentiert.
Zahl der Schwererkrankten in den Fokus rücken
Wenn schnelles Reagieren gefordert ist, punkten die Positivtest-Zahlen durch ihre kurzfristige Verfügbarkeit. In Extremfällen, wie dem Tönnies-Ausbruch, kann man nicht auf Verstorbenen-Zahlen warten. Betrachtet man jedoch die durchschnittliche Ausbreitungssituation der vergangenen Monate, ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen ein hervorragender Parameter, um eine aktuelle Gefahrenlage einzuschätzen. Die entsprechende Statistik ist in jeder Dienstag-Ausgabe des RKI-Lageberichts zu finden.
Das Meldewesen für Covid-19-Hospitalisierte ist jedoch optimierungsfähig, was regelmäßig an zahlreichen, um Wochen verzögerten Nachmeldungen erkennbar ist. Würden nicht die Gesundheitsämter, sondern die Krankenhäuser direkt alle täglichen Daten ans RKI melden, bekäme man eine äußerst aufschlussreiche Faktenübersicht, die sogar noch aktueller sein könnte als die mit Meldeverzögerungen behaftete, aber dennoch stets in den Vordergrund gepushte Positivtest-Zahl.
Dass eine schnelle statistische Erfassung aller Covid-19-Krankenhauseinweisungen funktionieren kann, zeigen die tagesaktuellen Meldungen der Krankenhäuser zur Intensivbettenbelegung. Dieses DIVI-Intensivregister ist ebenfalls eine ergiebige Covid-19-Informationsquelle, erfasst aber einen kleineren Personenkreis und hinkt durch die längere Zeitspanne zwischen Symptombeginn und Intensivstation-Einweisung dem aktuellen Infektionsgeschehen deutlich hinterher.
Was können PCR-Tests und was können sie nicht?
Die den Positivtestzahlen zugrunde liegenden PCR-Tests erfüllen wichtige Funktionen, beispielsweise in der Diagnostik, bei der Nachverfolgung von Infektionsketten oder beim Schutz von Risikogruppen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen. Für epidemiologische Bewertungen sind sie jedoch von begrenztem Nutzen:
- Die Positiv-Getesteten-Zahlen sind stark von der Testhäufigkeit abhängig.
- Ein Positivtest gibt weder Auskunft über die Schwere einer Erkrankung noch darüber, ob überhaupt eine Erkrankung im klinischen Sinn vorliegt.
- Die Testergebnisse geben (derzeit noch) keine Auskunft darüber, ob die betreffende Person infektiös ist; ob sie also andere Menschen anstecken kann.
- Es fehlen qualitätssichernde Studien zur Bestimmung der Falsch-Positivenrate. (Eine Reduzierung der aktuellen Infektionssituation auf Falsch-Positive, wie etwa von Dr. Schiffmann verkündet, ist jedoch faktenfern.)
- Die Dunkelziffer liegt bei den Covid-19-Infizierten wesentlich höher als bei den an Covid-19 Verstorbenen und schwer Erkrankten.
Es geht nicht darum, die Zahl der täglichen Positivtests gänzlich aus dem Blick zu nehmen. Aber ihre Bedeutung sollte relativiert und an die Realität angepasst werden - nicht nur in ihrer Funktion als entscheidende Größe für das Verordnen einschneidender Maßnahmen, sondern auch was die öffentliche Darstellung der Covid-19-Bedrohungssituation betrifft.
Weniger Covid-19-Krankenhausfälle durch Eindämmungsmaßnahmen?
Rückt man die vergleichsweise harten Zahlen - Hospitalisierte, Intensivpatienten, Verstorbene - in den epidemiologischen Fokus, ergeben sich auch rückblickend interessante Erkenntnisse.
Das RKI hatte im April eine Grafik veröffentlicht, die für Aufregung sorgte. Zeigte sie doch, dass die Reproduktionszahl, die aus Positivtests errechnet wird, nach Verhängung von Kontaktverboten am 23.03. nicht sank, sondern anstieg.
Maßnahmengegner führen die Grafik als Beweis der Ineffektivität staatlicher Maßnahmen an, und noch heute tun sich regierungsnahe Experten wie Prof. Drosten schwer, diesen Kurvenverlauf überzeugend zu erklären. Selbst Jens Spahn sah sich genötigt, in einer laut Bild "brutal ehrlichen Corona-Bilanz" frühere Lockdown-Maßnahmen als teilweise übertrieben zu relativieren.
Betrachtet man die Corona-Eindämmungsmaßnahmen dieses Frühjahrs vor dem Hintergrund der Krankenhauseinlieferungen, ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild.
Um die Wirkung der Maßnahmen auf die Hospitalisiertenzahlen darzustellen, muss die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Symptombeginn und Krankenhaus-Einlieferung von 4 Tagen berücksichtigt werden. Hinzu kommen 5 bis 6 Tage Inkubationszeit plus Meldeverzögerung, sodass sich eine durchschnittliche Ansteckung etwa 2 Wochen vor der Krankenhaus-Einweisung ergibt. Im folgenden Diagramm sind die Hospitalisierungszahlen entsprechend 14 Tage rückdatiert.
Aus dieser Perspektive erweisen sich gerade die Kontaktverbote als durchschlagender Erfolg, nachdem Großveranstaltungsabsagen und Schulschließungen noch keine Wende bringen konnten. Dass die Politik diesen Zusammenhang offensichtlich selbst nicht bemerkt hat, zeigt einmal mehr, mit welchem Tunnelblick sowohl Entscheidungsträger als auch die meisten Experten auf Infektionszahlen fixiert sind.
Zahl der Krankenhauseinweisungen als Alarmgeber
Höchste Zeit, dies zu ändern - vor allem im Hinblick auf zukünftige Entscheidungen. Eine Strategie, die sich bis zum Tag der erhofften Impferlösung auf Positiv-Getestete fokussiert, könnte weniger erfolgreich sein als eine Strategie, die bei den genannten Kennziffern der gesundheitlich stark betroffenen Covid-19-Patienten ansetzt.
Wie kann man den seit Monaten erfolgreichen Schutz der Risikogruppen erhalten und mit gezielten Maßnahmen in einer Weise verbessern, die das gesellschaftliche Leben möglichst wenig beeinträchtigt?
Einen möglichen Baustein hat dieser Artikel skizziert:
- Lasst uns ein erstklassiges, tagesaktuelles und regional aufgeschlüsseltes Register zu Covid-19-Krankenhauseinweisungen einführen. Dieses Register sollte auch informieren, ob eine Person wegen Covid-19 hospitalisiert ist oder ob Covid-19 nur einen Nebenbefund darstellt.
- Sobald die Hospitalisierten-Zahlen lokal über ein festzulegendes Maß ansteigen, wird umgehend ermittelt, wodurch dieser Anstieg verursacht wurde. Die Ursachen können von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein.
- Anschließend werden lokale Maßnahmen ergriffen, die bei genau diesen Ursachen ansetzen.
Warten auf die Impferlösung
Auch im Hinblick darauf, dass die Positiv-Getesteten-Zahlen zum Winter hin voraussichtlich weiter ansteigen, sollte die Kernfrage nicht lauten: Wie können Neuinfektionen - koste es, was es wolle - vermieden werden? Sondern: Wie gelingt es, die Zahl der schwer Erkrankten, die sich derzeit leider wieder im Aufwärtstrend befindet, weiterhin auf einem niedrigen Niveau zu halten?
In der Vergangenheit war häufig von den Zielen staatlicher Corona-Strategie die Rede: Verhinderung von Krankenhausüberlastungen durch flatten the curve! Verdopplungszeit der Neuinfektionen auf zehn Tage begrenzen! Reduzierung der Reproduktionszahl unter eins!
Die meisten dieser Ziele wurden tatsächlich, zumindest zeitweise, erreicht. Irgendwann war es dann aber vorbei mit Zielvorgaben und seitdem gilt: Fahren auf Sicht, bis irgendwann die Impfung kommt. Vielleicht läuft es ja tatsächlich wie in so vielen Hollywoodfilmen: Ein harter, steiniger Weg und am Ende wird alles gut. Die Erfahrung lehrt leider etwas anderes: Meistens wird eben nicht alles gut, es geht einfach nur irgendwie weiter - mal besser, mal schlechter, manches eskaliert, manches schleicht sich davon - und dieses "Weiter" will gestaltet werden.
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