Mit dem Zweiten sieht man schlechter

Seite 3: Trauma & Terror

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"Kann aus Trauma auch Terror werden? Haben diese Menschen einen größeren Hang zur Gewalt?" Mit diesen Fragen leitet Petra Gerster den therapeutischen Teil der Nachrichtensendung ein und nimmt die Antwort gleich vorweg: "Nein, sagen die Experten." Im dazugehörigen Beitrag kommen allerdings nicht "die Experten", sondern nur Dietrich Munz zu Wort. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer beruft sich im Interview auf "Untersuchungen, die belegen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit sowohl Depressionen als auch posttraumatischen Belastungsstörungen, eher weniger zu Gewalttätigkeit oder Kriminalität neigen. Das ist sicher auch bei den Flüchtlingen so."

Eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Psychotherapeutenkammer nannte auf Nachfrage vier Übersichtsstudien zum Einfluss psychischer Erkrankungen auf die Neigung zur Gewalt. Falls diese Meta-Analysen den Stand der Forschung akkurat wiedergeben, spielt die Art der Erkrankung eine entscheidende Rolle: Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen gehen mit einer erhöhten Selbstmordrate einher, Psychosen und Schizophrenien können die Gewaltbereitschaft gegenüber anderen steigern.

Fast alle ausgewerteten Forschungsprojekte haben sich mit Gewalttätern aus westlichen Industriestaaten befasst. Dass deren Ergebnisse so ohne weiteres auf die Population der Flüchtlinge aus dem muslimischen Raum übertragbar sind, ist keineswegs so sicher wie Munz unterstellt. Immerhin könnte es einen Unterschied machen, ob ein traumatisierter Mensch daran glaubt, dass er ins Paradies kommt, wenn er möglichst viele Ungläubige mit in den Tod reißt, oder ob er das nicht glaubt. Es ist zumindest denkbar, dass ein Moslem, der unter Depressionen leidet, vor einem Selbstmord zurückschreckt, weil er sonst - seinem Glauben nach - in die Hölle käme, und stattdessen einen erweiterten Selbstmord begeht, der ihn - in den Augen vieler Glaubensbrüder - zum Helden macht. Mohammed Daleel jedenfalls, der Attentäter von Ansbach, litt allem Anschein nach unter schweren Depressionen, als er den Entschluss fasste, sich im Namen Allahs und des Islamischen Staates an den Deutschen zu rächen.

Dietrich Munz versucht es in dem heute-Beitrag mit einer anderen Erklärung. Unabhängig vom Vorliegen psychischer Erkrankungen gebe es "besondere Belastungssituationen", in denen bestimmte Menschen zu erhöhter Gewalttätigkeit neigten. Welche Situationen er dabei im Blick hat, illustriert der Bericht mit Bildern völlig überfüllter Wartesäle und Gulag-artiger Flüchtlingsheime hinter Stacheldraht. Dazu hören wir die Stimme von ZDF-Autor Christoph Schreiner, der die "kargen Unterkünfte" anprangert, "in denen es in erster Linie um generelle Versorgung geht, nicht um psychologisches Auffangen", und der hinzufügt: "Mit ihren traumatischen Erlebnissen sind die Menschen oft ganz allein." Sind wir nicht selber schuld, - suggeriert der Subtext in Bild und Ton -, wenn die Flüchtlinge Amok laufen? Schließlich sind wir es, die sie in solche Unterkünfte sperren und dort allein lassen.

Trauma & Therapie

Was in den heute-Nachrichten als Problem identifiziert wird - die psychologische Betreuung der Flüchtlinge -, wird in der anschließenden ZDF Spezial-Sendung als Lösung präsentiert. "Mindestens 30% der Flüchtlinge, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind, gelten als traumatisiert", weiß Moderator Matthias Fornoff und vermutet: "Das intensive Sich-Kümmern wäre wohl die beste Vorsorge gegen ein Abgleiten in die Gewalt."

Wenn man Fornoff ernst nimmt, müssten in Windeseile Hunderttausende von Therapieplätzen geschaffen werden. Im nun folgenden Filmbeitrag wird gezeigt, wie eine solche Traumatherapie in der Praxis abläuft. Ein Flüchtling aus Afghanistan erzählt, dass sein Vater von den Taliban geköpft wurde. Später sieht man den jungen Mann im Sprechzimmer einer Modellambulanz der Universität Konstanz. Er verteilt Plastikblumen und Kieselsteine entlang einer Schnur, die auf dem Boden liegt. Sie sollen die schönen und die schlimmen Erlebnisse auf seinem Lebensweg symbolisieren.

"Narrative Expositionstherapie" heißt das Verfahren, das in 12 bis 14 Sitzungen das Trauma lindern und einem Abgleiten in die Gewalt vorbeugen soll. Entwickelt hat es ein Psychologenteam der Universität Konstanz, das auch die Mehrzahl der Studien zur Wirksamkeit des Verfahrens vorgelegt hat. Was am Abend des Anschlags noch nicht bekannt war: Bevor der Attentäter von Ansbach seine Rucksackbombe zündete, hatte seine "narrative Expositionstherapie" bereits begonnen - er war bei einem Heilpraktiker in Behandlung, der sich an einem entsprechenden Kurs der Konstanzer Universität teilgenommen hat, dessen Kompetenz aber umstritten ist.

In der Sondersendung des ZDF folgt nun ein Live-Interview mit der Pädagogin Elise Bittenbinder von der Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Frage Fornoff: "Wenn Flüchtlinge zu Tätern werden, wie jetzt auch in Ansbach, wie wirkt sich das denn auf ihre Arbeit aus?" Antwort Bittenbinder: "Diese Diskussion ist zum Teil eben auch unglücklich, weil sie Hass oder Generalverdächte schürt, und das hilft den Helfern nicht." Ähnlich hatte sich in einem vorangegangenen Beitrag schon der Psychologe Jens Hoffmann geäußert: "Die Gefahr wäre, (...) wenn wir sagen: Das sind muslimische Mitbürger, die sind alle gefährlich." Die beiden Experten assoziieren die einheimische Bevölkerung also mit Unglück, Hass, Gefahr und Idiotie - denn es wäre zweifellos idiotisch, zu behaupten, alle Muslime seien gefährlich. Die heute-Redaktion scheint diese Sichtweise zu teilen, sonst würde sie solche Äußerungen nicht abfragen und aneinanderreihen.

Was nun noch fehlt, sind Ratschläge zum Gefühlsmanagement. Die erteilt der Bundesinnenminister: "Sorgen ja, Angst nein, Entschlossenheit, vielleicht auch mal Zorn, das ist die richtige Antwort." Und wie sollten wir uns gegenüber den Flüchtlingen verhalten? "Freundlich und aufgeschlossen, nicht misstrauend, aber nüchtern und nicht naiv", empfiehlt Thomas de Maizière. Klingt eigentlich ganz einfach.