Mit dem Zweiten sieht man schlechter
Seite 2: Öffentlich-rechtliche Regierungssprecher
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Über eine Million Flüchtlinge sind letztes Jahr nach Deutschland gekommen - die genaue Zahl kennt bis heute niemand. Die Mehrheit von ihnen stammt aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen muslimisch geprägten Ländern. Allein unter den rund 450.000 Flüchtlingen, die 2015 einen Erstantrag auf Asyl gestellt haben, waren dem Bundesamt für Migration zufolge über 100.000 Männer im Alter von 16 bis 25 Jahren.
Gemessen an den hohen Erwartungen, die sie selber und ihre Familien zu Hause mit einem Leben in Deutschland verbinden, können viele dieser jungen Männer hier nur scheitern. Doch ihnen allen bleibt eine Möglichkeit, die eigene Ehre und den Respekt ihrer Angehörigen mit einem Schlag wiederherzustellen, und das ist der Märtyrertod. Fest steht: Bei drei der vier spektakulären Gewalttaten, die innerhalb einer Woche in Bayern begangen wurden, waren die Täter Flüchtlinge. Sahra Wagenknecht sagt dazu im ZDF: "Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Zuwanderern und Flüchtlingen natürlich mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als uns Frau Merkels leichtfertiges 'Wir schaffen das' im letzten Herbst einreden wollte".
Die heute-Redaktion rahmt diesen Interviewauszug mit eigenen Kommentaren ein, damit der Zuschauer weiß, was er von Wagenknechts Äußerung zu halten hat. "Der Täter von Ansbach war bereits vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen", heißt es in dem Beitrag von ZDF-Mann Florian Neuhann, "VOR der Flüchtlingswelle im letzten Herbst". Trotzdem werde von manchen beides - gemeint ist die Flüchtlingswelle und die Gewaltserie - miteinander verknüpft. Anschließend ist die Fraktionsvorsitzende der Linken zu sehen und zu hören, wie sie vollkommen unaufgeregt und mit dem Anflug eines Lächelns in die Kamera spricht. Danach der Kommentar von Neuhann: "Eine aufgeheizte Debatte. Die Bundesregierung wehrt sich gegen einfache Gleichungen."
Wie komplex die Berechnungen sind, mit denen sich die Bundesregierung gegen Wagenknechts vermeintliche Vereinfachungen zur Wehr setzt, belegt der ZDF-Beitrag mit einem O-Ton der stellvertretenden Regierungssprecherin Ulrike Demmer: "Die meisten Terroristen, die in den letzten Monaten in Europa Anschläge begangen haben, waren keine Flüchtlinge. Diese Erkenntnis deckt sich mit aktuellen Untersuchungen, nach denen die Gefahr des Terrorismus nicht größer und nicht kleiner ist als in der übrigen Bevölkerung." Purer Zufall also, dass es ein Flüchtling aus Syrien war, der sich vor der Weinstube in Ansbach in die Luft sprengte. Es hätte auch jemand aus der übrigen Bevölkerung sein können, ein Urlauber aus dem Sauerland zum Beispiel.
Die Untersuchungen, auf die sich Demmer beruft, sind die laufend aktualisierten Lageberichte des Bundeskriminalamts. Das teilte eine Sprecherin des Bundespresseamtes auf Nachfrage mit. Allerdings enthalten die BKA-Berichte nur Vergleichsdaten zur Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen. Es finden sich darin keine vergleichenden Statistiken zu der Terrorgefahr, die von verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgeht. Mit anderen Worten: Die Aussage der Regierungssprecherin ist irreführend. Warum ist das in der ZDF-Redaktion niemandem aufgefallen? Vielleicht, weil Ulrike Demmer selber einmal ZDF-Redakteurin gewesen ist, zur selben Zeit übrigens, als ihr Presseamtskollege Steffen Seibert noch die heute-Nachrichten verlesen hat.
Feldwebel Walde
Nachdem schon Elmar Theveßen und Florian Neuhann zur Differenzierung der Gewalttaten gemahnt haben, ist nun Thomas Walde an der Reihe. In einer Live-Schalte auf den Rasen des Reichstagsgebäudes weist der stellvertretende Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios auf ein Problem hin: "So unterschiedlich diese Fälle auch sind, (haben sie) doch eine gemeinsame Wirkung: dass Menschen Angst haben und eine möglichst schnelle, gemeinsame Antwort auf die Gewalt wollen." "Ja, das ist sicher richtig", pflichtet ihm Moderatorin Petra Gerster bei.
Dass Walde selber zu den Menschen gehört, die möglichst schnelle Antworten verlangen, konnte man tags zuvor bei einem sogenannten "Sommerinterview" mit Sahra Wagenknecht erleben. In 18 Minuten stellte Walde rund 30 Fragen und Nachfragen. Nur am Anfang ließ er die Befragte ausreden, danach fiel er ihr immer öfter ins Wort. Sobald Wagenknecht anfing zu sprechen, dauerte es höchstens 20 Sekunden, bis Walde mit einem Heben der Hand oder einem Betätigen der Mundwinkel seine Unzufriedenheit signalisierte.
Der Interviewer hatte offensichtlich den Eindruck, dass die Interviewte seinen Fragen auswich, und sagte das auch mehrmals oder stellte dieselbe Frage nochmal oder fasste die Antwort in einer Weise zusammen, die sie vollkommen absurd erscheinen ließ. Dabei waren manche Fragen so ungenau, dass man sie gar nicht präzise beantworten konnte, oder sie enthielten Unterstellungen, auf die sich Wagenknecht nicht einlassen wollte - was ihr gutes Recht ist. Es kam auch vor, dass Walde die Antwort nicht richtig mitkriegte, weil er gerade nach den Fragekärtchen mit den Bodo Ramelow-Zitaten linste, mit denen er die Linken-Politikerin in Verlegenheit bringen wollte.
Körpersprache und Störgeräusche brachten unmissverständlich zum Ausdruck, welche Zumutung es für den ZDF-Journalisten bedeutete, der Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag zuhören zu müssen. Denn Waldes Urteil über Wagenknecht - er unterstellte ihr Kompromisslosigkeit, Russlandhörigkeit, Verlogenheit etc. - stand offenkundig schon fest, bevor die Angeklagte auch nur einen Satz zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte.
"Hart aber unfair" wäre der treffendere Titel für dieses Kreuzverhörformat, dem man den niedlichen Namen "Sommerinterview" gegeben hat und in dem alles nur angerissen und nichts vertieft wird. Das gilt auch für das Thema, das Walde mit der Formel "Politik in Zeiten der Terrorangst" ankündigte - also nicht etwa "Politik in Zeiten des Terrors".
Mit dem Habitus eines Feldwebels, der an Magengeschwüren leidet und sich über die Weicheier unter den Rekruten ärgert, forderte Walde von Wagenknecht Rapport, was sie gegen "die Angst der Menschen" zu tun gedenke. Woher er zu wissen glaubt, Angst sei das alles bestimmende Gefühl der Menschen in Deutschland und nicht etwa Wut - Wut über das, was in den Lageberichten des BKA "importierte Konflikte" genannt wird -, das behält der Sommerinterviewer für sich. Doch eines muss man Thomas Walde zugutehalten: Den Entlarvungsautismus, in den viele Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verfallen, sobald jemand von der Regierungslinie in Sachen Flüchtlingspolitik abweicht, verkörpert niemand so zackig wie er.