"Mit der Entfesselung der Finanzmärkte vor 50 Jahren begann der lange Weg in die gegenwärtige Krise"
Seite 3: In der neoliberalen Theorie kann es keine Moral geben
- "Mit der Entfesselung der Finanzmärkte vor 50 Jahren begann der lange Weg in die gegenwärtige Krise"
- Der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Marktreligiösität
- In der neoliberalen Theorie kann es keine Moral geben
- Auf einer Seite lesen
Sie legen manchmal einen "heiligen Zorn" an den Tag und setzen die Österreichische Volkspartei mit Bibelzitaten unter Druck. Nützt dieser christlich-moralische Appell noch etwas oder ist die Partei jetzt ganz auf "neue Gerechtigkeit" eingestellt, wie es die ÖVP selbst nennt?
Stephan Schulmeister: Das ist sicherlich ein Teil einer Gegenmaßnahme. Mir geht es ja nicht um die ÖVP als solche, sondern um die Ideologie, die von der Partei vertreten wird. Eine Strategie gegen den Neoliberalismus besteht darin, deutlich zu machen, dass es in dieser Theorie überhaupt keine Moral geben kann. Einfach weil die Frage untersagt ist: "In welcher Gesellschaft wollen wir leben?" Die Frage ist sinnlos, weil das eben der Markt macht.
Es ist eine die Politik entmündigende Theorie und da kommen Parteien in Schwierigkeiten mit ihren ideologischen Wurzeln. Parteien wie die CSU oder die ÖVP haben sehr wohl christlich-soziale Wurzeln. Genauso wie die Sozialdemokratie in Probleme gerät, weil sie ja auch einmal einen moralischen Anspruch verfolgt hat. Das ist eine der vielen Formen der Kritik am Neoliberalismus.
Sie sagten einmal, an Rousseau, Marx und Lenin behage Ihnen nicht, dass diese postulieren, dass der Mensch gut sei und dass Verhältnisse geschaffen werden müssen, die es ihm ermöglichen, auch so zu leben. Das sei historisch widerlegt. Besser sei aus den Krisen zu lernen und die menschlichen Widersprüche in einer evolutionär sich verbessernden Gesellschaft aufzufangen. Jetzt könnte man entgegnen, das klappt ja auch nicht. Tatsächlich werden heute Menschen zu Eigennutz und Dummheit erzogen.
Stephan Schulmeister: Nun ja, das ist nicht immer so gewesen. Betrachten wir die 1950er und 1960er Jahre, dann war dies zwar nicht ein Goldenes Zeitalter, aber es war insgesamt eine Zeit, wo die Lebenszufriedenheit, das Lebenstempo, der soziale Ausgleich in höherem Maße verwirklicht war als in den letzten vierzig Jahren. Und gleichzeitig war diese Zeit ein typisches Beispiel eines ökonomischen Systems, das versucht hat, ohne großartige Theorie Polaritäten auszugleichen. Eben die Polaritäten zwischen Eigennutz und Altruismus, zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Markt und Staat, zwischen Ökonomie und Politik.
Es war eine Art Kompromisssystem, das man in Deutschland "Rheinischer Kapitalismus" genannt hat. Das scheint besser funktioniert zu haben als Systeme, die logisch konsistent sind. Der Neoliberalismus ist in gewisser Weise logisch konsistent, wenn er sagt, der Mensch ist nur ein egoistisches Individuum. Aber da der Mensch in der Tat ein widersprüchliches Wesen ist, funktioniert eine Politik auf Basis eines solchen Denksystems nicht.
Das philosophische oder erkenntnistheoretische Problem besteht eben darin, dass innerhalb eines Denksystems das Denksystem selbst nie als Krisenursache erkannt werden kann. Prinzipiell geht dies nicht und in dem Problem stecken wir gerade drin, denn die Eliten sind sehr verhaftet im neoliberalen Denksystem und können nicht erkennen, dass dies die Hauptursache ist.
Gab es in den 1950er Jahren nicht auch einen Beitrag der Sowjetunion, die dem "Rheinischen Kapitalismus" das Fürchten vor einer kommunistischen Revolution beigebracht hat?
Stephan Schulmeister: Ganz sicher. Die Drohung des Kommunismus hat einen Kapitalismus mit sozialem Gesicht erzwungen. Keine Frage, aber das ist eben ein Teil der Frage der Integration von Polaritäten. Die erfolgt nicht primär aus Einsichten, sondern auch unter Druck von außen.
Der Neoliberalismus hat, wenn wir auf Ressourcenverbrauch und die Umweltproblematik schauen, eine Situation erzeugt, wo wir mit immer höherer Geschwindigkeit auf einen Abgrund zufahren. Der Keynesianismus aber verlangsamt diese Fahrt auf den Abgrund lediglich, da er letztlich auch den gesamten Weltbestand in Waren verwandeln will und alle Ressourcen ökonomisch vernutzen möchte.
Stephan Schulmeister: Nein, das stimmt sicher nicht. Jedenfalls nicht für den Herrn Keynes selber. Man denke nur an den wunderbaren Artikel von ihm, der für jeden Nicht-Ökonomen sehr empfehlenswert ist, weil er nicht technisch ist: "Die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder" aus dem Jahr 1930. Darin beschreibt Keynes genau, dass wir vernünftigerweise auf eine Welt zusteuern sollten, in der es kaum mehr ein Wirtschaftswachstum gibt, weil alle Grundbedürfnisse gut versorgt sind und - wie er betont - es doch völlig ausreicht, wenn man 15 Stunden in der Woche arbeitet und das Leben zu genießen versucht.
Keynes sagte aber auch: "In the long run we are all dead".
Stephan Schulmeister: Das ist wieder etwas anderes. Keynes hat viele Bonmots produziert. Mit dem Zitat hat er nur gemeint, dass es keinen Sinn hat, wenn ein ökonomisches System in einer akuten Krise ist, dass man sich nicht auf das konzentriert, was jetzt aktuell notwendig ist, um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen. Damit wollte er aber nicht zum Ausdruck bringen, dass ihn langfristige Fragen nicht interessieren. Das hat er mit seinen eigenen Schriften widerlegt.
Aber Sie haben schon Recht, in der Rezeption von Keynes ist es eindeutig feststellbar, dass gewisse Teile seiner Theorie verdrängt wurden. Es sind genau jene Teile, die er leider theoretisch nicht mehr fundieren konnte, die er aber als Anregungen sehr pointiert formuliert hat. So hat er gefordert, dass Finanzmärkte prinzipiell anders behandelt werden müssen als Gütermärkte. Das haben die Wirtschaftswissenschaftler, auch die Keynesianer, im großen Ganzen verdrängt.
Sie stellen gerade ein Buch fertig?
Stephan Schulmeister: (lacht) Quasi mein Lebenswerk. Ich arbeite seit langem an diesem Gedanken, der durchaus Dinge betrifft, die wir soeben besprochen haben. Wenn ich versuche, es auf einen Punkt zu bringen, dann würde ich sagen: Wie ökonomische Theorien ihr Objekt, also die Wirklichkeit verändern und zwar nicht nur bei Fragen wie Beschäftigung, sondern auch unsere Werte, unsere Gefühle, unser Umgehen mit anderen Menschen. Die Auswirkungen dominanter ökonomischer Theorien sind somit viel, viel weitergehend als das, was man üblicherweise in Betracht nimmt.
Wie wird das Buch heißen?
Stephan Schulmeister: Stephan Schulmeister: Na, soll ich den schon verraten? - Gut, es wird heißen: "Der Weg zum Wohlstand". Es ist natürlich der Anti-Hayek. Sie werden wissen, die neoliberale Revolution begann 1944 mit dem Buch "Der Weg zur Knechtschaft" von Hayek. Deswegen habe ich diesen Titel gewählt.
Wann wird es erscheinen?
Stephan Schulmeister: Im Mai.
Vielen Dank für dieses Gespräch.