Mitsprache: Parlament setzt "Bürgerrat Ernährung" ein
Bundestag stimmt dafür, dass ausgeloste Bürger den Mund zu Ernährungsfragen aufmachen und beraten: Welche Aufgaben sollen dem Staat zukommen und was ist Privatsache?
Der Bundestag hat gestern die Einsetzung eines ersten Bürgerrats beschlossen: Im Bürgerrat Ernährung sollen 160 aus der Bevölkerung ausgeloste Einwohner in mehrtägigen Sitzungen u.a. über Lebensmittelkennzeichnung, Tierwohl und Klimaverträglichkeit der Landwirtschaft beraten und dem Bundestag zum 29. Februar 2024 die Ergebnisse als sogenanntes Bürgergutachten vorlegen.
Mit der Durchführung wird neben einer neu geschaffenen Stabsstelle bei der Bundestagsverwaltung der Verein "Mehr Demokratie" gemeinsam mit den Beteiligungsunternehmen nexus, ifok und Institut für Partizipatives Gestalten beauftragt.
Zwar gab es in der Vergangenheit schon einige bundesweite Bürgerräte – der erste fand 2019 zum Thema Demokratieentwicklung statt; doch diese waren von gesellschaftlichen Gruppen initiiert und z.T. von Stiftungen finanziert worden. Die Ergebnisse des ersten Bürgerrats waren damals an Bundestagspräsident Schäuble übergeben worden. Eine der Empfehlung war: mehr Bürgerräte einsetzen.
Suche nach verbesserter Partizipation
Beim zweiten bundesweiten Bürgerrat zu "Deutschlands Rolle in der Welt" war Wolfgang Schäuble dann auch Schirmherr. Die von 2018 bis 2021 regierende Große Koalition hatte in ihren Koalitionsvertrag zwar die Suche nach neuen Partizipationsformen vereinbart:
Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann. Zudem sollen Vorschläge zur Stärkung demokratischer Prozesse erarbeitet werden.
Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD 2018, S. 163
Doch eine solche Expertenkommission wurde nie eingesetzt. Die nun regierende Koalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag auf das Instrument der Bürgerräte festgelegt:
Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren. Dabei werden wir auf gleichberechtigte Teilhabe achten. Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt. Das Petitionsverfahren werden wir insgesamt stärken und digitalisieren und die Möglichkeit schaffen öffentliche Petitionen in Ausschüssen und im Plenum zu beraten.
Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP, 2021, S. 8
Schon im April 2022 hatte der Ältestenrat des Bundestags beschlossen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in der laufenden Wahlperiode Bürgerräte eingesetzt werden können. Zu diesem Zweck wurde die Bundestagsverwaltung mit den Vorbereitungen für eine entsprechende Ausschreibung beauftragt.
Dafür ist im Spätsommer 2022 der Aufbaustab Bürgerräte eingerichtet worden, der inzwischen "Stabsstelle Bürgerräte" heißt und die organisatorischen Vorbereitungen für den nun beschlossenen ersten Bürgerrat leitet.
Parteien mit unterschiedlichen Positionen
Den Einsetzungsantrag für den ersten vom Bundestag beauftragten Bürgerrat hatte neben den Parteien der Regierungskoalition auch die Linke unterstützt. In der 40-minütigen Aussprache argumentierten Vertreter von CDU und CSU dagegen, die AfD hatte sogar einen eigenen Antrag eingebracht, der Bundestag möge sich für den Volksentscheid auf Bundesebene und gegen Bürgerräte aussprechen.
In der Plenardebatte wurde deutlich, dass Bürgerräte überwiegend als ein Instrument der Bürgerbefragung verstanden werden. Im Beschlusstext heißt es dazu:
Der Mehrwert des Bürgerrates für den Deutschen Bundestag besteht darin, ein genaues Bild davon zu bekommen, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten.
Bundestagsdrucksache 20/6709 zur Einsetzung eines Bürgerrats Ernährung
Die Befürworter der Methode Bürgerrat betonten, es sei den Parlamentariern völlig freigestellt, wie sie mit den Ergebnissen umgehen werden. So meinte der Grüne Leon Eckert, selbstbewusste Abgeordneten könnten sagen, wo sie die Meinung der Bürger teilen und wo nicht.
Gero Clemens Hocker, FDP, betonte, ausgeloste Bürger müssten niemandem Rechenschaft geben und seien keine Erklärung schuldig, weshalb ihre Funktion strikt auf das Beraten beschränkt sein müsse.
Christina Stumpp und Steffen Bilger, beide CDU, argumentierten unabhängig voneinander, ihr Bürgerrat sei der Wahlkreis, in dem sie jedes Wochenende mit den Bürgern im direkten Gespräch seien.
In der Einführungsrede von Marianne Schieder, SPD, klang es noch so, als sei die Union nur mit dem gewählten Thema nicht einverstanden, sei aber sonst in den zehn Sitzungen der Berichterstattergruppe konstruktiv dabei gewesen. Gestern sprachen Unions-Vertreter von einer politischen Showveranstaltung, die große Enttäuschungen produzieren werde.
Gökay Akbulut, Die Linke, hätte sich gewünscht, ein Thema aus den Eingaben an den Petitionsausschuss zu nehmen. Auch die Reform des Wahlrechts wäre ihrer Ansicht nach ein geeignetes Thema für einen Bürgerrat gewesen.
Für die AfD lehnte Götz Frömming den Antrag ab. Es gebe schon einen Bürgerrat, nämlich das gewählte Parlament. Zur Stärkung der Demokratie forderte er die Einführung von Volksentscheid und Referendum auf Bundesebene.
Die Beauftragung des Vereins "Mehr Demokratie" mit der Durchführung des Bürgerrats sei zudem undemokratisch, weil dieser Verein jede Zusammenarbeit mit der AfD ablehne. Damit stoße man Millionen Wählern vor den Kopf.
In namentlicher Abstimmung votierten für die Einsetzung des Bürgerrats schließlich 403 Abgeordnete, 251 stimmten dagegen, 12 enthielten sich.
Methode Bürgerrat: Was dort passiert
Bei der Methode Bürgerrat diskutieren ausgeloste Bürger ab 16 Jahren in moderierten Tischgruppen über einzelne, konkrete Fragen, zu denen sie dann gemeinsame Positionen entwickeln. Zu jeder Themeneinheit gibt es Input von Fachleuten und Interessensvertretern (ausführlicher hier).
Für die Teilnahme am Bürgerrat gibt es eine Aufwandsentschädigung von 100 Euro pro Präsenztag und 50 Euro pro Online-Tag. Insgesamt soll der Bürgerrat Ernährung laut der Abgeordneten Christina Stumpp neun Millionen Euro kosten.