"Mitunter stehen auch Kriegsreporter im Dienst der krasseren Schlagzeile"

Journalist auf dem Maidan in Kiew, 2014. Bild: Mstyslav Chernov/Unframe, CC BY-SA 3.0

Der Medienwissenschaftler Michael Haller über das Massaker in einem Kiewer Vorort, mangelnde Selbstkritik im Journalismus und warum Georg Restle Recht hat

Der Medienwissenschaftler Michael Haller lehrte von 1993 bis zu seiner Emeritierung im Herbst 2010 an der Universität Leipzig (Lehrstuhl für Journalistik), wo er den 1993 reformierten Diplomstudiengang Journalistik aufgebaut hat. Seine Hand- und Lehrbücher zur journalistischen Praxis haben im Journalismus Standards gesetzt. Heute leitet er als wiss. Direktor das gemeinnützige "Europäische Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung" (EIJK) in Leipzig. Seit 2018 entwickelt er dort das Programm "fit for news" zur Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz in den Schulen wie auch für die Erwachsenenbildung.


Herr Haller, das Massaker im Kiewer Vorort Buscha (auch: Butscha) bewegt Presse und Politik. Was ist Ihrer Meinung nach gesichert, wie sollte mit so einer Situation journalistisch umgegangen werden?

Michael Haller: Den Bilddokumenten zufolge erscheint der Sachverhalt unstrittig: In den Straßen von Buscha wurden sehr viele erschossene Zivilisten aufgefunden. Da anfangs noch keine unabhängigen Reporter vor Ort waren, lautete zunächst die Frage: Welche Erklärungen geben die beiden Kriegsparteien zu diesem Massaker ab?

Aus Moskau kam die Behauptung, man habe Buscha schon am 31. März verlassen. Zwischen dem Abzug und den vorgefundenen Leichen seien drei Tage vergangen. Man wisse nicht, was da passiert ist. Die ukrainische Seite sagte, die Soldaten seien jetzt in Buscha eingetroffen und hätten die Lage so vorgefunden, wie sie sich in den Bildaufnahmen darstellt.

Lassen sich diese Darstellungen verlässlich bewerten?

Michael Haller: Die russische Behauptung besagt eigentlich gar nichts, denn die Russen haben die Zivilisten vielleicht schon vor mehreren Tagen oder gar Wochen ermordet. Gerichtsmediziner könnten das Sterbedatum ermitteln, sofern sie sich die Reise ins Kriegsgebiet zumuten.

Dann würde klar, ob die Menschen tatsächlich schon während der russischen Besatzungszeit umgekommen sind. Zudem müsste die angetroffene Situation genau dokumentiert und Beweise gesichert werden – eine sehr aufwändige und anspruchsvolle Arbeit, von der es abhängt, ob man am Ende Putin und Konsorten als Kriegsverbrecher anklagen kann.

Die Behauptung der ukrainischen Seite lässt sich leichter überprüfen, weil die Reporter mit dem Augenschein vor Ort auch Beobachter sowie Zeugen – überlebende Einwohner, die möglicherweise etwas gesehen haben – befragen können. Und so geschah es während der folgenden Tage ja auch.

Michael Haller Bild: Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0

Gehen die hiesigen Medien generell richtig und angemessen mit der Situation um?

Michael Haller: Das Problem der deutschen Medienredaktionen sehe ich darin, dass sie sofort eine Beurteilung mit klarer Schuldzuweisung treffen wollen, noch ehe der Sachverhalt aufgeklärt ist. Doch gerade in Kriegszeiten gilt: Solange man die Ursachen und Folgen des Geschehens nicht beurteilen kann, weil man noch viel zu wenig weiß, sollte man streng sachlich berichten.

Das heißt: Man beschreibt die Situation, zitiert Zeugen und referiert die Behauptungen der Kriegsparteien. Also zur Schuldfrage nur indirekte Rede und kein Indikativ.

Das Massaker selbst, Sie haben es erwähnt, hat es ohne Zweifel gegeben, die Leichen sind nicht zu leugnen. Das haben auch Journalisten und Presseorganisationen bestätigt. Im Raum steht aber die Frage nach der Schuld. Wenn man zu Wochenbeginn einen Blick in die Nachrichtenagenturen geworfen hat, traf man da auf eine Reihe von Reaktionen, gleichsam von politischer wie auch von journalistischer Seite.

Die Jungen Liberalen in Deutschland etwa fordern schnellstmöglich ein Energie-Embargo gegen Russland und die dänische Zeitung Politiken sprach sich in einem Kommentar für einen Haftbefehl gegen Putin aus. Schießen beide Seiten nicht über das Ziel hinaus? Müsste das Geschehen nicht erst einmal seriös aufgeklärt werden?

Michael Haller: Der brutale Medienwettbewerb im Internet zwingt die News-Macher wie auch die News-Aggregatoren, so schnell wie möglich mit krasser Schlagzeile online zu gehen. Wir wissen ja, dass die ersten 20, 30 Minuten darüber entscheiden, ob ich ein paar hunderttausend User mehr oder weniger auf meinem Kanal habe.

Zerstörung im Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Zerbombte Trambahn in Charkiw. Bild: Mvs.gov.ua / CC-BY-4.0

Da fällt es vielen Medienmachern schwer, entsprechend der aktuellen Informationslage angemessen zu publizieren. Man will immer sofort auch die Einschätzung, die Beurteilung und Bewertung mitliefern, noch ehe die Sachverhalte klar sind.

Mitunter stehen auch die Kriegsreporter im Dienst der krasseren Schlagzeile. Wir konnten dies in den ersten Apriltagen auch beim Massaker in Buscha beobachten. In der ARD-Tagesschau vom 3. April erklärte der aus Kiew zugeschaltete Journalist Georg Restle: "Für Journalisten war es heute nicht möglich, sich ein eigenes Bild von der Lage in Butscha zu machen". Am folgenden Abend sprach er in der Tagesschau von "mutmaßlichen Kriegsverbrechen".

Mehrere Kriegsreporter vorwiegend aus dem Springer-Haus, die von ukrainischen Militärs nach Buscha mitgenommen wurden und die Situation dort abfilmen und Leute befragen konnten, höhnten auf Twitter über Restle und die ARD: Die Anstalten hätten viele Wochen keinen Reporter in Kiew gehabt, kein Wunder, dass der frisch eingeflogene Restle keine Ahnung habe, was abgeht. Er solle sich erst mal genau informieren, statt falsch zu berichten.

Man kann diesen Zorn verstehen. Und doch liegt Restle darin richtig, dass er im Unterschied zum Bild-Reporter nicht mit Schaum vor dem Mund den Russen-Hass anheizt, sondern recht nüchtern von "mutmaßlichen Kriegsverbrechen" spricht.

Emotion und Moralisierung spielt eine große Rolle in der Berichterstattung. Das heißt aber doch im Grunde genommen, Herr Haller, dass hier ein ganzes Untersuchungsregime internationaler Organisationen außen vorgelassen wird. Die spielen ja im Grunde gar keine Rolle mehr, wenn es um die Untersuchung und die Zuordnung der Schuldfrage geht. Ist ja alles schon geklärt!