"Mitunter stehen auch Kriegsreporter im Dienst der krasseren Schlagzeile"

Seite 2: Behauptungen werden angepasst

Michael Haller: Meinen Sie das ironisch?

Was ich meine: Wenn die Schuldfrage medial vermeintlich schon als geklärt präsentiert wurde und die Konsequenzen politisch schon gezogen wurden, dann sind doch weitere Untersuchungen obsolet. Was können etwaige Untersuchungen denn noch ändern?

Michael Haller: Wenn ich über die Medien rede, und zu diesem Thema sprechen wir ja hier, möchte ich konstatieren: Die meisten Journalisten haben kein Problem damit, ein paar Tage später was anderes zu behaupten. Dazu gibt es vor allem im Feld der Politik genügend Beispiele, Stichwort Baerbock hier und Scholz dort im Laufe des Wahlkampfs.

Oder nehmen Sie das im Vergleich zum Geschehen in der Ukraine absolut triviale Beispiel des Sängers Gil Ofarim in Leipzig. Da wird eine Woche lang in praktisch allen Medien über diesen schrecklichen Antisemiten in Leipzig geschrieben - und dies allein aufgrund der Behauptung, eines nicht sonderlich erfolgreichen Sängers mit einem übersteigerten Geltungsbedürfnis.

Es folgte die Untersuchung einer eigens beauftragten externen Agentur, dann polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen. Das Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft wird nicht gegen den von Ofarim und der Presse beschuldigten Hotel-Mitarbeiter Anklage erheben, sondern gegen den Sänger wegen diffamierender Verleumdung. Sie ahnen, welchen Schaden dieser Medienhype angerichtet hat: Er brachte viel Wasser auf die Mühlen der ultrarechten Antisemiten.

Doch Selbstkritik scheint viele Journalisten zu überfordern. Für sie hat sich einfach der Wind gedreht und jetzt wird halt umgekehrt berichtet und kommentiert. Ich will damit sagen: Die sogenannten Mainstreammedien hängen ihre Fahnen nach dem Wind. Und der wird jetzt dem Sänger Ofarim frontal ins Gesicht blasen, vielfach verstärkt von den Windmaschinen der Medien.

Sie haben in den vergangenen Jahren mehrere entsprechende Fälle kritisch hinterfragt: die Berichterstattung über die Flüchtlingskrise oder die mehrheitliche Haltung der deutschen Presse zum Afghanistankrieg. Es gibt aber auch aktuelle Beispiel: die Wahlergebnisse aus Ungarn.

Wenn man am Vorabend der Wahl öffentlich-rechtliches Radio im Berlin-Brandenburger Raum gehört hat, dann wurde man dort darüber informiert, dass es sehr, sehr knapp für Orban werde und dass die Opposition geeint sei wie nie. Am Morgen danach waren die Wahlergebnisse da: Viktor Orban hat 53 Prozent der Stimmen erhalten, die Opposition 35 Prozent.

Es gibt immer wieder diese Fälle, bei denen man den Eindruck erhält, der Wunsch sei Vater des Gedanken – und der Berichterstattung.

Michael Haller: Ja, das gilt umso mehr, wenn man sich, sinnbildlich gesprochen, auf einem so unwegsamen Gelände wie dem Politikfeld Ungarns bewegt. Wenn man gar nicht so richtig weiß, wie zuverlässig dort die demoskopischen Erhebungen sind und inwieweit Prognosen gesteuert werden.

Jedenfalls traue ich Orbans Fidesz-Partei allerhand Tricks zu. Meine These: Indem erzählt wurde, die vereinigten Parteien der Opposition seien unglaublich stark, konnte nachher der eigene Sieg umso glanzvoller präsentiert werden. Und die Medien spielten mit.

Besser wäre es, wenn man auch hier auf Distanz bliebe und die Behauptungen und Selbstdarstellungen der politischen Akteure nur mit spitzen Fingern entgegennimmt – für Gegenrecherchen in Ungarn fehlt vielen deutschen Redaktionen die Expertise und wohl auch das Interesse.

Nun ist es bekannt, Herr Haller, dass Medien gerade auch in Kriegszeiten, um auf die Situation in der Ukraine zurückzukommen, beide Seiten hinterfragen müssen. Warum ist das denn – mal ganz grundsätzlich gefragt – so schwer im Moment?

Michael Haller: Wir haben durch den Angriffskrieg der russischen Armeen in der Ukraine eine Situation, die es in vielerlei Hinsicht leicht macht, eine moralisch wie auch völkerrechtlich eindeutige Position zu beziehen und sich mit dem Opfer, der ukrainischen Bevölkerung, zu identifizieren.

Denn es steht ja außer Frage, dass dieser Einmarsch ein Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, egal, wie man die politischen Zusagen und Versprechen der zwei vorausgegangenen Jahrzehnte im Rückblick beurteilt.

Das ungeheure Unrecht, das im Fortgang dieses Einmarsches stattfindet, ist derart erschütternd, dass sich die überwiegende Mehrheit der Medienmacher wie auch der Bevölkerung instinktiv auf die Seite der Betroffenen stellt.