"Mitunter stehen auch Kriegsreporter im Dienst der krasseren Schlagzeile"
Seite 3: Vergleichbarer Aggression wurde "empörungsfrei" begegnet
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- Vergleichbarer Aggression wurde "empörungsfrei" begegnet
- Genre der Kriegsberichterstattung muss neu erlernt werden
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Die jüngsten Abstimmungen in der UNO lassen erahnen, dass man in anderen Weltregionen weniger aufgewühlt reagiert.
Michael Haller: Dass sich die Westeuropäer so anteilnehmend um die ukrainische Bevölkerung sorgen, dass sie helfen, wo sie können, hat nicht nur mit dem Aggressor Putin zu tun, sondern auch mit der kulturellen und geografischen Nähe. Die Ukrainer sind Europäer, nicht anders als die Portugiesen, die Sizilianer oder Nordiren! Zudem fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass Putins militärische Aggression im Erfolgsfall Richtung Westen weitergehen könnte – und von Polen ist es nicht mehr weit bis Dresden und Berlin.
Für uns ist es also mehr als nur ein Krieg, den die russische Armee gegen die Ukrainer führt. Es geht um eine Bedrohung, mit der wir die gesamte Ost-Politik seit der Schröder-Regierung in Frage gestellt sehen.
Vielleicht erklärt diese Dimension des Krieges wie auch die kulturelle Nähe des Opfers, warum wir vergleichbare militärische Aggressionen durch die USA "empörungsfrei" zur Kenntnis genommen haben. Ich denke etwa an die sogenannte Brutkasten-Lüge zur Vorbereitung des ersten Golfkriegs 1990/91. Dann an die noch viel dreistere Propaganda der Bush-Regierung mit dem folgenden Einmarsch der US-Army und der Briten im Jahr 2003 im Irak.
Erinnern Sie sich noch? Den Irak-Krieg haben die US-Amerikaner mit ganz ähnlichen Lügengeschichten propagandistisch vorbereitet wie Putin den Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine. Auch damals sprach das Pentagon von einer militärischen Operation, einem Präventivkrieg, um angebliche Massenvernichtungswaffen der Iraker zu vernichten.
Zur Begründung diente ein Video-Fake, das US-Verteidigungsminister Powell im UN-Sicherheitsrat vorführte. Als Kriegsbegründung hielt Bush eine Art Bergpredigt an das irakische Volk. Die lautete so: "We're coming with a mighty force to end the reign of your oppressors. We are coming to bring you food and medicine and a better life. And we are coming, and we will not stop, we will not relent until your country is free." Die US-Amerikaner fanden dies großartig.
Nach vielen Monaten der Berieselung mit Falschinformationen durch die staatsunabhängigen Medien war der überwiegende Teil der Bevölkerung tatsächlich der Meinung, Saddam Hussein sei ein ebenso schlimmer Terrorist wie Osama Bin Laden, zudem habe er Atomraketen und Atomsprengköpfe und könne die USA angreifen. Und alle machten mit.
Den Vergleich zwischen dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und dem Angriffskrieg der USA gegen Irak und andere Staaten haben Autoren auch bei Telepolis in den vergangenen Wochen wiederholt angestellt; ebenso zum Angriff der Nato auf Serbien im Sezessionskrieg um den Kosovo. In all diesem Fällen wurden die Waffengänge also medial, propagandistisch vielleicht sogar begleitet?
Michael Haller: Den Fall Kosovo sehe ich anders. Doch die Kampagnen der US-Regierung und jene Putins ähneln sich im propagandistischen Ansatz, auch wenn die US-Kampagnen sehr viel raffinierter, sehr viel professioneller ausgezogen wurden. Und es gibt noch einen wichtigen Unterschied: In den USA folgten die staatsunabhängigen Medien dem vermeintlich patriotischen Sound ganz ohne Zwang.
In Russland muss Putin mit scharfen Zensurgesetzen dafür sorgen, dass die Botschaft der Staatsmedien unwidersprochen bleibt. Man könnte dies dahin deuten, dass die US-Medien, auch die News York Times und die Washington Post, damals unter dem Schock des 9/11-Terroranschlags standen; dass sie mit der Bevölkerungsmehrheit auf Rache sannen und ihre machtkritische Aufklärungsfunktion völlig vergaßen.
Im Unterschied dazu konnte Putin seine Kriegsbegründung – die Erzählung über die angebliche Bedrohung durch die Nazis in Kiew – nur mit Hilfe strengster Zensurmaßnahmen unters Volk bringen. Es hat sehr gut funktioniert, die überwiegende Mehrheit der Russen scheint Putin recht zu geben.
Herr Haller, Sie haben gesagt, der Krieg Russlands gegen die Ukraine stelle die gesamte westliche Politik der letzten Jahrzehnte in Frage. Ist das ein Grund für die bedingungslose Solidarität mit der Führung in Kiew, die auf rechtsradikale Milizen setzt und Männer zwischen 18 und 60 Jahren an die Front zwingt. Darf man die Regierung in Kiew und Präsident Selenskyj derzeit überhaupt kritisieren?
Michael Haller: Ich denke schon, sofern Hinweise – nicht Meinungen, sondern Sachverhalte – auftauchen, die nahe legen, dass auch ukrainische Soldaten oder Truppen schwere Übergriffe begehen. Sie wissen vermutlich, dass auch in westlichen Onlinemedien Videos kursieren, die kriegsrechtswidrige Misshandlungen russischer Kriegsgefangener zeigen. Es ist bis heute allerdings unklar, ob diese Aufnahmen authentisch sind.
Sollte eine professionelle Überprüfung der Videos ergeben, dass sie authentisch sind, dann müssen die Medien selbstverständlich darüber berichten und auch die Selenskyj-Regierung respektive die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.
Dass wir uns durch den Einmarsch der Russen in die Ukraine bedroht fühlen, darf die Journalisten auf dem Auge, das die Ukrainer im Blick, hat nicht blind machen.