Mitzahlen statt Mitreden

Die Reform der deutschen Hochschullandschaft nimmt immer deutlicher Gestalt an

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Mark McGowan ist das Thema Studiengebühren besonders auf den Magen geschlagen. Der Aktionskünstler wollte aus Protest gegen deren Einführung Anfang des Jahres einen neuen Weltrekord aufstellen und innerhalb von acht Stunden 70 Hamburger vertilgen. Doch obwohl sich der Koch der Hamburger Hochschule für bildende Künste bei der Zubereitung alle erdenkliche Mühe gab, musste McGowan nach der 22. Fast Food-Ladung kapitulieren. „They're so fucking salty”, stöhnte der übersättigte Revoluzzer und schlief mit Magenschmerzen ein.

Vier Monate später ist vielen Studentinnen und Studenten das Lachen vergangen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Garantie eines gebührenfreien Erststudiums am 26. Januar 2005 für verfassungswidrig erklärte (Scheckheftpolitik an den Hochschulen), hat in mindestens sechs Bundesländern die Einführung einer entsprechenden Abgabe in Höhe von bis zu 500 € pro Semester zur Folge. Gebühren für Langzeitstudierende oder Absolventen eines Zweitstudiums gehören ohnehin schon fast zur Normalität.

Nach Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen verabschiedete der Bayerische Landtag in der vergangenen Woche ein neues Hochschulgesetz, das ab dem Sommersemester 2007 sogenannte „Studienbeiträge“ vorsieht.

Auch Hessen plant die Einführung von Studiengebühren, obwohl ein solcher Schritt selbst nach Meinung der Jungen Union Fulda gegen Artikel 59 der Hessischen Verfassung verstößt. Doch das spielt für den zuständigen Minister Udo Corts (CDU) nur eine untergeordnete Rolle. Er will Hessen zum „Bildungsland Nummer eins“ machen und rechnet – bei 500 € pro Semester – schon mal mit zusätzlichen Einnahmen von 135 Millionen Euro. Sein Regierungschef, der am vergangenen Wochenende mit 97,8% wieder zum hessischen CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, ist ein ebenso entschiedener Befürworter der neuen Abgabe.

Wir sind umzingelt von gleich vier Nachbarländern, die Beiträge einführen werden. Wir haben ein ganz banales Problem, wir müssen Regelungen schaffen, damit unsere Universitäten nicht überlaufen. (...) Wir machen die Studenten zu Kunden, die durch die Beiträge, die den Universitäten direkt zu Gute kommen, auch bessere Lehre und Serviceleistungen vorfinden werden. Die Zeiten, in denen Seminarplätze ausgelost wurden, sind dann vorbei.

Roland Koch

Protest nach Lehrbuch?

Dass vor den Wiesbadener Rhein-Main-Hallen rund 800 Studenten lautstark gegen sein Vorhaben protestierten, diente Koch offenbar nur als Ansporn und Bestätigung. Im Grunde seien Studiengebühren sogar sozial gerecht, meinte der Ministerpräsident, denn schließlich müssten Krankenschwestern mit ihren Steuern nun nicht mehr das Studium der Chefärzte mitfinanzieren.

Die Banken und Sparkassen sind von diesen Aussichten begeistert. Für ihre potenzielle Klientel gilt das nicht, doch deren Widerstand dringt kaum bis zu den Entscheidungsträgern durch. Wenn Studenten in Düsseldorf leichtbekleidet auf die Straße marschieren, um dort „Prostitution für Bildung“ anzubieten, in Frankfurt am Main während der WM den Verkehr in der Mainmetropole blockieren wollen, sogar im rot-roten, praktisch gebührenfreien Berlin mit einem „heißen Sommer“ drohen, eine Freie Universität Bochum ins Leben rufen oder allerorten Rektorate besetzen ("Wir wohnen jetzt hier!"), stellen sie – mal mehr, mal weniger – ihre Kreativität unter Beweis, doch eine breite, mehrheitsfähige Basis hat die Protestbewegung bislang nicht. Die föderale Struktur der Bildungspolitik verteilt das Problem auf viele Schauplätze, und wenn in Großstädten bisweilen tatsächlich mehrere tausend Gegner von Studiengebühren zusammenkommen, gibt es an kleinen und mittleren Universitäten oft nur ein paar Dutzend Aktivisten. Der akademische Nachwuchs kann von seiner widerstandsfreudigen Eltern- oder Großelterngeneration also vielleicht doch noch etwas lernen, und mittlerweile gibt es bereits ein umfangreiches Handbuch zur studentischen Protestorganisation, das gleich zu Beginn 13 gute Gründe für die mangelnde Dynamik, personelle Stärke und Durchsetzungsfähigkeit der bisherigen Aktionen nennt. Die Autoren stellen fest, dass

die Studierenden zunehmend unpolitisch bzw. hoffnungslos in Bezug auf politische Veränderungen sind. Großteils hat sich das ideologische Konstrukt TINA ('there is no alternative') verbunden mit gesellschaftlicher Entsolidarisierung und medial propagiertem Egoismus bereits in den Köpfen der 'Jungen' manifestiert. Hier fehlt es unter anderem an Strategien, wie zukünftig und auch außerhalb von Streiks und Protesten nachhaltig an einer Bewusstseinsbildung und Politisierung gearbeitet werden kann.

Proben für den großen Krach. Handbuch zur studentischen Protestorganisation

Die unterschiedliche Wahrnehmung und Bewertung scheint den Blick auf den immerhin bemerkenswerten Umstand zu verstellen, dass alle Studentinnen und Studenten eines Bundeslandes von Studiengebühren betroffen sind, wenn sie denn einmal beschlossen wurden. Das bayerische Hochschulgesetz sieht für die Universitäten und Kunsthochschulen beispielsweise einen Studienbeitrag von mindestens 300 und höchstens 500 € pro Semester vor. Für Fachhochschulen soll er zwischen 100 und 500 € liegen, wobei den Einrichtungen frei steht, für einzelne Studiengänge Beiträge in unterschiedlicher Höhe festzulegen.

Das Bildungssystem zementiert den sozialen Status

Wissenschaftsminister Thomas Goppel und Ministerpräsident Edmund Stoiber halten diese Summe für „sozial verträglich“, was bei Letztgenanntem aber auch damit zusammenhängen mag, dass er sich und den Rest der Welt gern an die 160 oder 170 Mark „Hörgeld“ erinnert, die er selbst vor über 40 Jahren zahlen musste. Goppel hält die soziale Abfederung sogar für ein „Hauptanliegen“ des neuen Hochschulgesetzes. „Jeder leistungsfähige junge Mensch soll studieren können“, verspricht der Minister und verweist auf die „doppelte soziale Abfederung“ durch verschiedene Befreiungsmöglichkeiten und staatliche Darlehen. Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren Bayern will dieser Argumentation nicht folgen und präsentiert ein eigenes umfangreiches Gutachten, in dem die „neoliberalen Gebührenbefürworter“ für „zweifelhafte Studien zum Spareffekt durch den Studentenbonus“ und „suggestiv-verfälschende Umfragen zu Studiengebühren“ verantwortlich gemacht werden. Dass Studiengebühren mit Augenmaß und sozialverträglicher Absicherung erhoben werden könnten, wird hier grundsätzlich bestritten.

Tatsächlich sieht das Gesetz vor, Studierende für Urlaubs- und Praktikumssemester oder Promotionen von der Beitragspflicht auszunehmen. Auf Antrag können außerdem Studierende befreit werden, die ein Kind unter zehn Jahren oder ein behindertes Kind erziehen und deren Unterhaltsverpflichtete für drei oder mehr Kinder Kindergeld oder vergleichbare Leistungen erhalten. Gleiches gilt für ausländische Kommilitonen, denen infolge einer internationalen Vereinbarung Abgabefreiheit zusteht, und für Studierende, für die Gebühren „eine unzumutbare Härte“ bedeuten würde. Darüber hinaus dürfen die Hochschulen nach eigenem Gutdünken 10% ihrer Kundschaft „für besondere Leistungen“ von der Beitragspflicht befreien, und zwar ganz, teilweise oder auch rückwirkend.

BAföG-Empfänger und Studierende, die sich in besonders schwierigen sozialen oder wirtschaftlichen Notlagen befinden, sollen weder in Bayern noch in einem anderen Bundesland, das Studiengebühren einführen will, zwingend von der Beitragspflicht ausgenommen werden. Von Sozialverträglichkeit und Chancengleichheit kann da kaum noch die Rede sein. Der Präsident des Deutschen Studentenwerkes, Hans-Dieter Rinkens, erklärte am Montag anlässlich des Starts der mit Spannung erwarteten 18. Sozialerhebung (Hohe Arbeitsbelastung und mangelnde Chancengleichheit):

Wir wissen aus unserer aktuellen Sozialerhebung, dass mehr als ein Viertel der Studierenden mit weniger als 600 Euro im Monat auskommen muss; für sie sind 500 Euro Studiengebühren im Semester kein Kleckerbetrag! Von 100 Kindern aus einkommensstarken, bildungsnahen Familien studieren 81, von 100 Kindern aber aus einkommensschwachen, bildungsfernen Haushalten sind es gerade mal 11. In keinem anderen Land zementiert das Bildungssystem den sozialen Status so sehr wie in Deutschland.

Hans-Dieter Rinkens

Das Bundesverfassungsgericht könnte wenigstens dem seltsamen Vorhaben der zuständigen Behörden, die das BAföG durch Studiengebühren offenbar gleich wieder einkassieren wollen, einen Strich durch die Rechnung machen. In einer kürzlich bekannt gewordenen Entscheidung zur Klage einer Studentin aus Baden-Württemberg, die im Gegensatz zu langzeitstudierenden BAföG-Empfängern nicht von den Studiengebühren befreit wurde, stellten die Karlsruher Richter bereits Ende März fest:

Die Erhebung einer Langzeitstudiengebühr von förderungsberechtigten Studierenden würde im Widerspruch zu den bundesrechtlichen Vorschriften über die Ausbildungsförderung stehen und finanzielle Mittel abziehen, die zuvor auf deren Grundlage gewährt wurden.

Bundesverfassungsgericht

Immer weniger Mitbestimmung

Unter diesen Vorzeichen kann weiter kontrovers über den Sinn und Zweck von Studiengebühren diskutiert werden. Wenn 2007/08 auch das Saarland die umstrittene Abgabe einführt, wächst überdies der Druck auf die anderen Bundesländer, die ebenfalls erhebliche finanzielle Probleme haben. Sollte dann noch die Zahl der Studierenden in den kommenden Jahren auf die angepeilten 2,5 oder sogar 2,7 Millionen steigen, dürfte es mit der Zurückhaltung der anderen Länder schnell vorbei sein.

Umso wichtiger wäre es, das soziale Gleichgewicht jetzt zu wahren und die Verwendung der Gebühren einvernehmlich und transparent zu regeln, damit den Einzahlenden wenigstens das Gefühl bleibt, in eine nachvollziehbare Verbesserung von Lehre und Forschung investiert zu haben. Über die Höhe der Abgabe dürfte freilich auch noch geredet werden – der Asta der Hochschule Niederrhein hat als möglichen Kompromiss bereits eine Summe von 250 € vorgeschlagen.

Doch von Mitbestimmung halten die Gebührenbefürworter in aller Regel wenig. Verfasste Studierendenschaften wird es in Bayern auch in Zukunft nicht geben, nachdem diese Organisationen sowohl hier als auch in Baden-Württemberg vor rund 30 Jahren abgeschafft wurden, um den „terroristischen Sumpf an den Hochschulen auszutrocknen“, wie es Hans Filbinger, Ministerpräsident des Ländles und vorheriger NS-Jurist, seinerzeit formulierte. In Nordrhein-Westfalen befürchten die Studierenden, dass sie aufgrund des geplanten Hochschulfreiheitsgesetzes einen Großteil ihrer Mitbestimmungsrechte verlieren, was umso wahrscheinlicher ist, als schon der unschuldige Begriff auf 160 Seiten nur einziges Mal erwähnt wird. Die Maßnahmen, welche die Autonomie der Hochschulleitung stärken und ihr mehr Handlungsspielraum verschaffen sollen, reduzieren gleichzeitig die Einflussmöglichkeiten der Studierenden auf ein halbdemokratisches Minimum, weil diese in den entscheidenden Gremien nicht ausreichend repräsentiert sind.

Katharina Binz vom freien zusammenschluss von studentInnenschaften plädiert deshalb neben dem Verzicht auf Studiengebühren auch für ein Umdenken auf struktureller Ebene.

Eine Hochschule in gesellschaftlicher Verantwortung muss immer auch demokratisch verfasst sein. Was hier als Hochschulautonomie verkauft wird, ist nichts anderes als der Abbau demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten. Statt unternehmensähnlicher Leitungsstrukturen brauchen wir mehr demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten an Hochschulen.

Katharina Binz

Gegen diese Forderung kann wenig eingewendet werden, wenn die deutsche Bildungslandschaft ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will. Der Versuch, junge Menschen zu selbstbewussten, mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen und sie als solche zu respektieren, darf schließlich nicht auch noch den allgemeinen Sparzwängen geopfert werden.