Mobilisierung der Aufmerksamkeit

Seite 2: Die Wirklichkeit ist ein Gerücht

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Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.

Niklas Luhmann

Dieser Einstieg in die Luhmannsche Soziologie der Massenmedien ist einsichtig und zugleich provokant. Das meiste, was wir zu wissen glauben, ist lediglich etwas, von dem wir gehört haben, das uns "erzählt" wurde - dessen Wahrheit gestützt wird durch Vertrauen in Instanzen, Autoritäten, Zeugen und Experten. Immer weniger können wir durch eigenen Augenschein in einer arbeitsteiligen Welt erfahren, die dank der Medien global wurde, weswegen wir wiederum die Medien benötigen, um uns über sie zu informieren. Aus Gerüchten, die heute durch die Massenmedien und nicht mehr von Mund zu Mund weitergegeben werden, setzt sich, so Luhmann, das Bild von unserer Welt zusammen.

Das mag bis vor kurzem so gewesen sein und für den Großteil der Bevölkerung noch immer stimmen. Mit der immer stärkeren Nutzung der Computernetze könnte sich allerdings wieder die traditionelle Weise verstärken, wie Gerüchte verbreitet werden - etwa durch Mailing-Listen oder News-Groups, gewissermaßen durch die sekundenschnelle Ausbreitung von Gerüchten von Computer zu Computer um den ganzen Globus herum. Aber auch das wird nichts daran ändern, daß wir gleichzeitig wissen, daß Medien uns ebenso wie andere Menschen nicht die unverfälschte Wahrheit ins Haus liefern, sondern lediglich eine bestenfalls mögliche Version, und vor allem, daß auch das Wissen über Falschmeldungen, Entstellungen oder Täuschungen und die Klagen über die Macht der Medien durch die Medien verbreitet wird. Ihre Selbstreflexivität macht ihre Macht aus.

Ganz ähnlich, wenn auch drastischer, funktioniert die Werbung. Sie versucht die Zuschauer zu manipulieren, aber alle Zuschauer wissen, daß sie dies tut. Die Ausgaben für Werbung steigen zunehmend an, auch wenn sich die Verteilung auf die verschiedenen Medien verschiebt. Es geht darum, präsent zu sein, die Aufmerksamkeit zu mobilisieren, nicht um den Verkauf eines bestimmten Produkts. Daher überwiegen mehr und mehr Werbungen, die nur noch kurz am Ende verraten, wer wirbt und für was geworben wird.

Angekoppelt an die trügerische und verspielte, mit Wahrheit und Täuschung souverän hantierende Wirklichkeit der Medien, wächst auch das Verlangen nach einer außermedialen Wirklichkeit, die durch Authentizität, Natürlichkeit, Körperlichkeit oder Spontaneität gekennzeichnet ist, die aber im selben Maße wächst, wie die Medien eben diese Merkmale zu simulieren suchen und Widerstand gegen sich selbst erzeugen..

Solche Paradoxien mag der Soziologe, der überall autopoeitische Systeme am Werke sieht und Schritt für Schritt versucht, alles - von der Liebe über die Kunst und das Risiko bis hin zur Wirtschaft, zum Recht oder zur Wissenschaft - in seine Theorie der unheilbaren Verstrickung in die beobachterabhängige Perspektive zu rücken. Ist man einmal Beobachter - und man kann nicht umhin, einer zu sein -, dann ist man bereits rettungslos in den Zirkeln der Selbstorganisation wie einst in Hegels Dialektik gefangen und gerät alles, wie von einem Zauberstab berührt, zu einem ebenso abgeschlossenen, sich selbst heckenden System, das alles gemäß seinem Code transformiert. Zwar gibt es noch ein Außen, doch tritt es nur in der Form von Irritationen auf, die gemäß der Eigenlogik verarbeitet und dargestellt werden. Und stets sind solche Systeme dem unendlichen Progreß zunehmender interner und externer Ausdifferenzierung - nur ein anderes Wort für Konkurrenz - anheimgegeben, aus dem nicht ausgestiegen werden kann und der kein Einhalten kennt. Paradoxien der weiter oben beschrieben Art sind das Lebenselixier. Sie zeigen, daß ein Schritt nach außen unmöglich ist.