Mobilisierung der Aufmerksamkeit
Seite 3: Aufmerksamkeitsinszenierungen - auf Dauer gestellt
- Mobilisierung der Aufmerksamkeit
- Die Wirklichkeit ist ein Gerücht
- Aufmerksamkeitsinszenierungen - auf Dauer gestellt
- Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien
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Gefangen in der von den Medien konstruierten Realität, deren Themen oder Produkte gleichwohl Waren sind, die auf dem Markt der Öffentlichkeit um die Gunst des Publikums konkurrieren, mag das Gefühl der Manipulation entstehen, also die oft geäußerte Kritik, daß die Medien eine von bestimmten Interessen geprägte Wirklichkeit erzeugen und die Wahrheit verschleiern. Eine Systemtheorie, auf Selbstorganisation basierend, muß dem natürlich entgegentreten, denn sie kennt keine Zentren und Subjekte mehr, die über den Prozessen stehen, und keine objektive Wahrheit, die irgendein Beobachter unverzerrt feststellen könnte. Die Dynamik des Ganzen entfaltet sich durch die Aktionen der atomisierten, nur lokal interagierenden Einzelnen hindurch, die stets als Partikel in einem Netz agieren - ebenso wie die Milliarden von Neuronen aus den in ihrer Sprache codierten Irritationen unsere Wahrnehmung erzeugen.
Obgleich alles für den Blick des Soziologen nur von innen heraus geschieht, neigt Luhmann doch zu einer Sprache, die Strukturen vom Standpunkt eines Beobachters beschreibt, der entfernt vom Geschehen auf dem Feldherrnhügel steht. Daher geht es ihm ihm nicht um einzelne Themen, sondern nur um die Beobachtung der Maschinerie. Dennoch werden Beispiele benötigt, um die Funktionsweise zu illustrieren. Der Golfkrieg etwa war der Versuch, die Eigenlogik der Medien zu bändigen, indem man eben diese für Zwecke eines anderen Systems benutzte. Luhmann sieht in der erfolgreich praktizierten Militärzensur zwar eine externe Einwirkung auf die mediale Darstellung eines Ereignisses, die unabhängige Beobachtung weitgehend ausschloß. Als Medienereignis inszeniert, das gleichzeitig auch militärischen Interesse diente, hätte eine Entkopplung von vorgegebenen Informationen und Medienberichterstattung sowieso nur zu einem "totalen Informationsausfall" geführt. Weil die Medien notorisch aufmerksam und stets vom Neuen angezogen seien, wurden sie permanent mit Neuigkeiten versorgt, um ihren Hunger zu stillen und den Markt zu beliefern. Medien springen nicht an, wenn einmal etwas geschieht, sie haben die Aufgabe, um überleben zu können, permanent etwas zu liefern - 24 Stunden am Tag wie CNN, der Vorreiter des Fernsehens und Wegbereiter der Netznews, die kein Erscheinungsdatum mehr kennen, sondern permanent im Fluß sein wollen.
So wurde vor allem die Militärmaschinerie im Einsatz gezeigt. Daß damit die Opferseite des Krieges ausgeblendet wurde, hat beträchtliche Kritik ausgelöst; aber doch wohl nur, weil dies der durch Medien selbst aufgebauten Vorstellung, wie ein Krieg auszusehen hat, vollständig widersprach.
Niklas Luhmann
Die Kritik der Erwartungshaltung ist sicher zutreffend. Sie wollen in den Medien das Andere des Alltags, das Spektakel oder, wie Luhmann sich ausdrückt, Informationen sehen, die einen Unterschied setzen. Trotzdem ist das sicher keine vollends befriedigende Erklärung für die Enttäuschung an der Berichterstattung. Die Menschen wollen vielleicht die Wahrheit, wichtiger ist jedoch, daß man in einer modernen Gesellschaft von der Freiheit des Marktes ausgeht, also auch von dem der medialen Berichte. Das scheint die Autonomie der Medien zu implizieren. Nicht umsonst kämpfen die Netizens derzeit verbissen darum, das Medium Internet frei von Beschränkungen und Zensur zu erhalten, als ob sich einzig dadurch Demokratie und der Zugang zur Information sichern ließe. Kaum eine Rolle spielt hingegen, wie sich möglicherweise die Grundversorgung an Information überhaupt erst für die Mehrzahl der Menschen sichern ließe, was hieße, möglicherweise in die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einzugreifen.
Medien mit ihrer selektiven und inszenierten Beobachterrolle, dem Diktat der Aufmerksamkeitsattraktivität in der Konkurrenz mit allen anderen Angeboten unterworfen, sind die vorgeschobenen Posten der kollektiven Wahrnehmung. Sie folgen ähnlichen Gesetzen wie die der einzelnen Menschen, aber sie befinden sich nicht in der Situation eines naiven Beobachters der ersten Ordnung, denn ihre Agenten sind nicht nur Beobachter oder beobachten Beobachter, sie richten ihre Aufmerksamkeitsfallen an den vermeintlichen Erwartungen der Zuschauer aus. Ganz anonym sind sie nicht, denn intern werden sie als Zielgruppe aus der Menge aller möglichen Zuschauer bestimmt. Diese Brechung oder dieser permamente Bezug auf ein außen fällt bei Luhmann weitgehend aus, denn auch die Fremdreferenz wird von innen erzeugt. Funktioniert sie nicht, dann scheitert ein Medium und stirbt, ebenso wie einzelne Themen durchfallen und die Auflagenzahl oder die Quote sinken lassen.
Aber auch für diese Vernachlässigung hat er einen Grund, denn Massenmedien seien dadurch definiert, daß schon durch die "Zwischenschaltung von Technik" keine Interaktion "unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger" stattfinden könne. Deswegen sind die Medien darauf angewiesen, ihre Information aufgrund von Vermutungen über die Wünsche der möglichen Benutzer zu gestalten und auszusenden, die stets als Schatten verdeckt bleiben und nur nachträglich als Gruppen, nicht aber individuell in ihrem Entscheidungsverhalten erfaßt werden können. Das mag bei den klassischen Massenmedien wie Zeitung, Rundfunk und Fernsehen zutreffen, ist aber bei interaktiven und vernetzten Medien völlig anders, denn hier kann zumindest das Aufmerksamkeitsverhalten auch der einzelnen direkt und punktspezifisch erfaßt werden. Ungewißheit kann dadurch reduziert werden und Anpassung viel schneller erfolgen. Aber die Definition von Massenmedien auf eine nicht stattfindende Interaktion von Anwesenden wie bei Vorträgen, im Theater, bei Austellungen oder in Konzerten zu konzentrieren. Der ganze Online-Bereich, zumal wenn wie bei IRC-Chats oder in MUDs eine wirkliche Interaktion zwischen telepräsent miteinander Kommunizierenden möglich ist, fällt aus dieser Beschreibung heraus.
Doch immer kennzeichnet ein Medium die permanente Versorgung von Empfängern mit stets neuen Informationen, die jeweils zu einer gegebenen Zeit, zugeschnitten auf die medienspezifischen Formate, vorhanden sein müssen und damit andere Themen als bekannt, uninteressant und veraltet erscheinen lassen. Die permanente Darbietung des Neuen rechnet nicht nur mit dem Vergessen, sie betreibt das Vergessen aktiv. Das Alte und Bekannte, aber auch das durch die Selektionsmechanismen Hindurchfallende, wird gelöscht. Das reicht bis hin zu dem Paradox, daß das, was in den Medien angekommen ist, bereits an Aktualität verloren hat. Zurecht erinnert Luhmann daran, daß ein derartiger Markt der Neuheit mit seiner unwahrscheinlichen Dynamik historisch jungen Datums und zugleich höchst erstaunlich ist.
Es gehörte beachtlicher Unternehmensgeist, eine zunächst sicher risikoreiche Markteinschätzung und eine r Informationsbeschaffung ausreichende Organisation dazu, wenn man ein Unternehmen starten wollte auf Grund der Erwartung, daß auch nächste Woche genügend druckbare Informationen anfallen würde.
Niklas Luhmann
Luhmann untergliedert die wesentlichen medialen Informationsarten in Nachrichten/Berichte, Werbung und Unterhaltung. Dem sei hier nicht nachgegangen, wohl aber der Funktion der Medien und ihrer Informationszubereitung in der Gesellschaft.