Mobilizing und Organizing

Die Gewerkschaften entdecken ihre Basis neu

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Den Gewerkschaften kommen die Mitglieder abhanden. Die Alten gehen in Rente oder sterben und bei den jungen Arbeitnehmern kommen nicht viele Mitglieder nach. Klassische Industriebetriebe haben ihre Produktion oft verlagert und geblieben sind die Angestellten, auf die die Industrie-Gewerkschaften bislang nicht oder weniger setzten. Das neue Erfolgskonzept kommt aus Amerika. "Machtaufbau durch Organizing" lautet das Motto und landauf, landab finden Seminare oder Workshops zu dem Buch "Keine halben Sachen" von Jane McAlevey statt.

Mobilizing

Mobilizing steht für die bisherige Gewerkschaftspolitik, die zu Tarifrunden oder politischen Anlässen ihre Mitglieder antreten lässt, sonst aber auf ihre Betriebs- und Aufsichtsräte setzt. Dem früheren Verdi-Chef wird dazu der Spruch nachgesagt: Ein guter Gewerkschafter müsse es nicht nur schaffen, die Kollegen auf die Palme zu bringen, sondern auch wieder herunter. Womit ausgedrückt sein soll, dass ein guter Gewerkschafter die Kollegen im Griff hat und antreten lässt, wenn die Gewerkschaft es braucht, und wieder an den Arbeitsplatz schickt, wenn sie ihr Ziel erreicht hat.

Diese Politik steht nun in der Kritik. Man bescheinigt ihr ein Stellvertreterdenken, hier präsentiere sich die Arbeitnehmervertretung den Mitgliedern als eine Art Dienstleistungsbüro. Die Vertrauensleute würden sich zunehmend als "Briefträger des Betriebsrates" (alle Zitate aus: express, 1/2020) betätigen. "Die Kampagnenmaterialien landen oft - unter Tränen - in den Mülltonnen des Betriebsratsbüros, oder auch in der Geschäftsstelle." Arbeitnehmervertreter hätten sich isoliert und von ihren Beschäftigten und deren Problemen entfernt.

Dafür wissen Gewerkschaftler zur eigenen Entschuldigung Gründe anzugeben: "Durch permanente Kostensenkungsforderungen, Personal- und Strukturmaßnahmen seitens des Managements werden die Betriebsräte mit Arbeit eingedeckt und können ihrer eigentlichen Aufgabe nur noch begrenzt nachkommen." Eine eigenartige Entschuldigung, die deutlich macht, dass Kostensenkungsforderungen von Seiten des Managements nicht abzulehnen, sondern für einen heutigen Betriebsrat eine Herausforderung sind, der es sich zu stellen gilt. Ist doch zu prüfen, wie der Erfolg des Betriebs mittels solcher Kostensenkungen zu sichern geht und wie die Folgen für die Belegschaft abgemildert werden können. Wenn Personalmaßnahmen anstehen, sprich Entlassungen oder Versetzungen, hat ein Betriebsrat viel zu tun und muss sich Gedanken machen, wen es treffen soll. Und Strukturmaßnahmen stehen immer an, schließlich finden in den Betrieben ständig Rationalisierungen statt, die zu Umsetzungen, Abgruppierungen oder Entlassungen führen; nichts geht da ohne den Betriebsrat, dessen eigentliche Aufgabe nach dem Betriebsverfassungsgesetz darin besteht, für den Betriebsfrieden zu sorgen, und zwar durch vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung. Insofern ist die Selbstkritik unberechtigt.

Dies alles steht mit dem Mobilizingkonzept nicht in der Kritik. Was nun alles ganz anders werden soll, ist der Umgang mit den Kollegen. Hier sollen Neuerungen die Gewerkschaften wieder in die Lage versetzen, erfolgreich Dinge durchzusetzen und politisch an Einfluss zu gewinnen. Dafür steht der Begriff des Organizing.

Organizing

Unter diesem Titel wollen die Gewerkschaften neue Ansprachen und Beteiligungsmethoden praktizieren. Das aus Amerika kommende Konzept ist nicht speziell für Gewerkschaften entwickelt, sondern soll in der Lage sein, allen Bewegungen zum Erfolg zu verhelfen, Gewerkschaften wie Bürgerprotest. Dazu werden Befragungen bei den Beschäftigten durchgeführt oder überbetriebliche Solidaritätskomitees geründet.

Die systematische und fokussierte Arbeit, das Aufgreifen der Themen der Beschäftigten und ihre Beteiligung an der Entwicklung und Umsetzung von Lösungen, wie Andreas Flach, Projektleiter des GEP (Gemeinsames Erschließungs-Projekt) Baden-Württemberg, es beschreibt (spw 233), soll flächendeckendes Prinzip der gesamten Geschäftsstelle und für alle Betriebe der vertretenen Branche sein… "Wir gehen an jeden Schreibtisch und an jede Werkbank und reden mit den Leuten".

Durch die Befragungen soll herausgefunden werden, wo die Beschäftigten der Schuh drückt - das können Probleme im Betrieb oder auch außerhalb sein. Wenn dann nach gemeinsamen Lösungen unter Einbeziehung der Betroffenen gesucht wird, geht es um Lösungen, die unter den gegebenen Bedingungen erreichbar erscheinen. Wer in diese Gemeinsamkeit einbezogen werden soll, ob auch die Arbeitgeber dazugehören, bleibt dabei offen. Es handelt sich hier eben um alles andere als eine Rückbesinnung der Gewerkschaft auf ihre Wurzeln, also auf den Gegensatz zum Kapital, der einmal ihren Ausgangspunkt bildete.

So ist es kein Zufall, dass die Bewegung der IG-Metall "Wir in Mannheim - Gemeinsam stark!" sich in Erinnerung an vergangene Kämpfe erwärmt, bei denen es wegen Schließung eines Werkes zu breiter Solidarität kam: Nicht das Ergebnis des Kampfes - Entlassungen konnten nicht verhindert werden, die Kampfposition ist eben schwach, wenn Unternehmen Arbeitnehmer nicht mehr benutzen wollen -, sondern das Gemeinschaftsgefühl wird da gefeiert und hochgehalten.

Umgesetzt wurde das Konzept im Prinzip schon 2018 beim Streik der Pflegekräfte in den Universitätskliniken Essen und Düsseldorf. Der Streik setzte am Ideal der Kliniken an, für eine gute Pflege zu sorgen - ein Anspruch, der in der Realität des Wirtschaftsunternehmens Krankenhaus nur kaum aufzufinden ist, da es hier um den profitablen Einsatz von Kosten und eben um deren Einsparung beim Personal geht. Ein Ideal bleibt die gute Pflege deshalb, weil sie staatlicherseits gerade von der Geschäftstätigkeit des Krankenhauses abhängig gemacht ist und über die Fallpauschalen gesteuert wird.

Der Kampf für eine gute Pflege schloss im genannten Fall eine bessere Personalausstattung der Stationen ein. Die streikenden Pflegekräfte konnten sich in ihrer Aktion auch der Unterstützung von Patienten und Angehörigen sicher sein, und ihre Aktion zielte nicht nur auf den Klinikbetrieb, sondern auch auf die Politik. Der Streik galt als erfolgreich, weil eine Zusage bezüglich einer besseren Personalausstattung erreicht wurde. Das Resultat: In einigen Stationen hat dies zu mehr Personal und damit zu besseren Arbeitsbedingungen geführt, in anderen Bereichen hat sich die Klinikleitung hinter der Aussage verschanzt, qualifiziertes Personal sei nun einmal schwer zu finden, so dass man die zugesagten Stellen nicht zu besetzen könne. Tja, die Zusage ist das eine, die Umsetzung etwas anderes.

Von einem "Meilenstein für die Entlastung von Beschäftigten in Krankenhäusern" sprach Verdi vor einem Jahr. Da hatte sich die Gewerkschaft nach langen Streiks gerade mit den Unikliniken Düsseldorf und Essen geeinigt. Doch die Umsetzung der Vereinbarung stockt.

Rheinische Post

Durch den Organizing-Ansatz sollen Neumitglieder gewonnen werden, und dort, wo dieses Konzept umgesetzt wird, scheint die Rechnung aufzugehen, dass sich der Erfolg in höheren Mitgliederzahlen niederzuschlägt. Es gibt aber auch Bedenken: "Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie sich die betriebsnahe Herangehensweise dauerhaft so gestalten lässt, dass sie trotz aller Sensibilität für die konkrete Situation vor Ort nicht zum Einfallstor wird für eine weitere Aushöhlung des Tarifgefüges in der Fläche." Ein seltsames Bedenken von Seiten eines IG-Metallers! Hat doch seine Gewerkschaft seit Jahren Öffnungsklauseln in die Tarifverträge aufgenommen und so die Flächentarifverträge durchlöchert.

Auch das Moratorium, das die IG-Metall den Arbeitgebern jüngst angeboten hat (vgl. Wem nutzt eine solche Gewerkschaft?), zielt doch gerade auf Vereinbarungen mit einzelnen Betrieben zur Zukunftssicherung. Was dies bedeutet, hat die Vergangenheit oft genug gezeigt: Ausnahmen vom Tarifvertrag, Lohnsenkungen, die den Betrieb retten sollen und die so die Konkurrenz der Unternehmen über die Löhne stattfinden lassen, statt diese durch Flächentarifverträge einzudämmen.

Wenn daher die Parole im Raum steht, durch Organizing "aktionsfähige, harte Kerne betrieblicher Gegenmacht auszubilden", dann stellt sich die Frage, gegen wen sich diese Macht wenden soll. Ist doch das ganze Bestreben der DGB-Gewerkschaften darauf gerichtet, die Betriebe mitzugestalten, weil von deren Erfolg das Einkommen ihrer Mitglieder abhängt.

Radicalizing?

Oder sollte das Ganze die Ankündigung sein, dass man wieder zur Kenntnis nehmen will, wie der Hase im Kapitalismus, alias Marktwirtschaft, läuft: dass nämlich der Erfolg der Betriebe regelmäßig auf Kosten der Belegschaft hergestellt wird, weil Löhne und Gehälter scharf zu kalkulierende Posten in der Gewinnrechnung sind und bleiben? Dass daher die Interessen der Beschäftigten in einem antagonistischen Gegensatz zur Rendite der Unternehmen stehen und die Organisierung von Arbeitnehmern dazu dient, durch Aufhebung ihrer Konkurrenz untereinander der Kalkulation der Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen, weil diese schließlich mit ihrem ganzen Wirtschaftserfolg auf die Arbeit der Kollegen angewiesen sind?