"Modern Monetary Economics" auf dem Weg zum ökonomischen Mainstream?
Nachdem die neoklassische Nationalökonomie weitgehend diskreditiert wurde, überholen die "Modern Monetary Economics" derzeit die libertären "Austrian Economics" in der Frage, wer die Krise zutreffender vorausgesagt hat und die bessere Kur anbietet
Die in Europa als eigene ökonomische Denkschule noch kaum etablierte und unter anderem von Bill Mitchell, Professor of Economics, University of Newcastle (Australien), sowie James K. "Jamie" Galbraith, dem Sohn des berühmten US-Ökonom John Kenneth, sowie von Randall Wray vertretene "Modern Monetary Economics" (kurz "MME" – oft auch als "Chartalists" bezeichnet) hat den Vorteil, sich weitgehend auf die Arbeiten des Ökonomen Hyman P. Minsky stützen zu können, der schon frühzeitig die Realitätsferne der neoklassischen Ökonomie thematisiert und den enormen Einfluss der Finanzmärkte auf die Ökonomie festgestellt und analysiert hatte. Darüber hinaus neigt auch Ives Smith, die derzeit vielleicht einflussreichste Ökonomie-Bloggerin, diesem Ansatz zu und bietet zudem den MME-Ökonomen Marshall Auerback und Rob Parenteau in ihrem Blog Naked Capitalism eine ständige Plattform.
Ideengeschichtlich lässt sich der MME-Ansatz über Minsky auf John Maynard Keynes zurückführen, denn Minsky (ein Schüler Schumpeters!) hatte seinen vom ökonomischen Mainstream lange ignorierten Ansatz als dynamische Interpretation von Keynes General Theory aufgefasst, während er deren neoklassische Interpretation, die seit dem Ende des 2. Weltkriegs die Nationalökonomie revolutionieren sollte, strikt abgelehnt hatte.
Den Kern des mathematisch-formalistischen Ansatzes der Neoklassiker oder Neo-Keynsianer bildete der Gedanke des "allgemeinen Gleichgewichts", dem die Märkte "von Natur aus" zustreben würden, sofern sie sich nur ungestört von öffentlichen Eingriffen entwickeln könnten. In noch radikalerer Form wird dieser Hands-off-Ansatz übrigens von den (wenigen) Vertretern der "Austrian Ecomomics" vertreten, die seit jeher die Manipulation der Leitzinsen (also die öffentliche Fixierung des Preises für Geld durch die Notenbank) als Grund für alle bisherigen Finanzkrisen angegeben und staatliche Budgetdefizite sowie alle regulierenden Eingriffe strikt ablehnen, dies übrigens mit finanzieller Unterstützung berüchtigter US-Milliardäre wie der Koch-Brüder (Libertäre als Tea-Party-Großsponsoren).
Die MME unterscheidet sich vom ökonomischen Mainstream vor allem durch eine neue Sicht der Geldpolitik angesichts der Realität von Fiat Money, dem Geld ohne intrinsischen Wert, seit dem Ende des Währungsregimes von Bretton Woods. In diesem waren bis 1972 weltweit fixe Wechselkurse gegenüber einem an eine bestimmte Menge Gold gebundenen Dollars festgelegt. Nach dem Zusammenbruch dieses Systems wurde die Goldbindung des Dollar aufgehoben und flexible Wechselkurse eingeführt.
Laut MME bedinge das eine völlig neue Betrachtungsweise von Geldpolitik und öffentlichen Schulden, als sie vom ökonomischen Mainstream geleistet werde. Die MME betont zudem, dass die ökonomische Theorie der Bilanzierungslogik der realen Wirtschaft entsprechen müsse, was bei den gängigen Mainstream-Ansätzen zumeist ebenfalls nicht der Fall ist. Daraus folgt auch die saldenmechanische Betrachtung der Makroökonomie, der übrigens auch an dieser Stelle bereits am Beispiel Spaniens nähergetreten wurde ("Club Med"-Staaten in der Zwickmühle).
Annäherung an die Realität mit steigendem mathematischen Aufwand
Aber vorerst zurück zu Minsky. Betrachtet man das große Gewicht, dass Keynes selbst dem Kreditsystem sowie der Zyklizität und Dynamik der Ökonomie eingeräumt hat und dem fast vollständigen Fehlen einer mathematisch formalisierten Darstellung in Keynes General Theory drängt sich die Vermutung auf, dass Keynes selbst viel eher der Minskyschen Interpretation zugeneigt hätte, als der bis zuletzt dominierenden "neoklassischen Synthese" bzw. der Gleichgewichtsökonomie.
Diese hatte gegenüber Minsky jedoch den offenbar unschlagbaren Vorteil, die Sozialwissenschaft "Ökonomie" mittels der mathematischen Methode auf anscheinend solide naturwissenschaftliche Beine zu stellen, was freilich auf Kosten der Realitätsnähe geschah. Denn um mathematisch formulieren zu können, mussten jede Menge an vereinfachenden Annahmen getroffen werden, wodurch die in der Realität höchst komplexen Zusammenhänge auf einfache, mathematisch leicht fassbare Modelle reduziert wurden. Dadurch wurden nun zwar logisch in sich konsistente Modelle ermöglicht, die der Ökonomie inhärente Dynamik musste allerdings ausgeblendet werden. Natürlich wurden die Unzulänglichkeiten der Modelle auch innerhalb des Mainstreams erkannt, so dass die weitere Entwicklung der neoklassischen Analyse durchaus auch als Versuch einer Annäherung an die Realität betrachtet werden kann, die mit immer höherem mathematischem Aufwand erreicht werden sollte.
Jedoch entwickelte sich die Mainstream-Ökonomie dadurch zu einer Art von Geheimwissenschaft, die für Menschen ohne mathematisches Training unzugänglich wurde. Als besonders schädlich sollte sich erweisen, dass in der neoliberalen Vulgärform die Grundannahmen, d.h. die Vereinfachungen, die erforderlich waren, um ökonomische Modelle überhaupt mathematisch formulieren zu können, sowie einige der daraus resultierenden Ergebnisse zur wirtschaftsliberalen Folkolore mutierten und als unhinterfragbare Grundgesetzen in die Wirtschaftspolitik eingingen; so etwa die Annahme des stets rational-nutzenmaximierend handelnden "homo oeonomicus" oder die Irrelevanz der Einkommensverteilung für den Konsum oder der Kapitalstruktur (d.h. auch der Verschuldung) für den Marktwert eines Unternehmens (laut dem Modigliani-Miller-Theorem).
Inhärent instabiles Wirtschaftsystem
Während die neoklassische Ökonomie sich dabei selbst als naturwissenschaftlich "wertfrei" gerierte, hatte Keynes noch die normative Meinung vertreten, dass das Ziel gesellschaftlicher Gerechtigkeit durch Regierungsprogramme erreicht werden solle, die einen ausreichenden Umfang an Beschäftigung für arbeitswillige Menschen garantieren. Er betonte zudem – wiederum im Gegensatz zu den Neoliberalen – die Notwendigkeit einer günstigen Einkommens- und Vermögensverteilung, was von Minsky vollinhaltlich übernommen wurde. Für Minsky war das Wirtschaftssystem inhärent instabil, so wie es sich auch bei Keynes herauslesen lässt, der unter anderem die "Animal Spirits" der Börsianer für die Wirtschaftszyklen von Boom und Bust verantwortlich machte.
Laut Minsky verlaufe diese grundlegende Instabilität zudem "nach oben", d.h. es profitierten die Wohlhabenden und die Starken, wogegen die Politik einschreiten müsse. Dies sollte sie nach den beiden Ökonomen am besten durch stark progressive Einkommens- und Vermögenssteuern, wodurch zudem in Boomzeiten ein preisdämpfender Effekt erzielt werden würde.
Die immer wieder auftretenden Finanz- und Wirtschaftskrisen wären vor allem durch die Instabilität der (Finanz-) Portfolios und der finanziellen Wechselbeziehungen begründet, die für die Schwankungen des privaten Investitionsaufkommens verantwortlich wären. Obwohl Minsky wie Keynes wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit als Ziele der Ökonomik voraussetzen, konzentrierte er sich in seiner Forschung jedoch vor allem auf die Analyse von Finanzkrisen – so wird der Moment, an dem an den Finanzmärkten die Stimmung plötzlich von Euphorie auf Panik umschalten, heute gemeinhin als "Minsky-Moment" bezeichnet – sowie auf Wege, wie das private Investitionsaufkommen und das Finanzsystem zu stabilisieren sei. Dabei ist für Minsky die Zentralbank als "Lender of Last Ressort" unabdingbar, während regulierende staatliche Eingriffe in die Finanzmärkte sowie öffentliche Konjunkturstimulierung ebenfalls erforderlich wären – was die US-Mainstream-Ökonomie lange abgelehnt hatte.
Während Minskys Rezepte von der Wirtschafts- und Geldpolitik aber längst umgesetzt werden, postuliert die Mainstream-Ökonomie (zumindest in den Grundkursen) nach wie vor die freien Märkte und das Gleichgewicht, dem diese von selbst zustreben würden. Der 1996 verstorbene Minsky hätte hingegen über die Banken wohl längst wesentlich höhere Eigenkapitalvorschriften verhängt und wohl auch deren Größenwachstum beschränkt, um das von ihm gewünschte "dezentrale System" zu fördern. Was die internationalen Währungsverhältnisse angeht, wünschte Mynski wiederum in Anlehnung an Keynes stabile bzw. fixe Wechselkurse und eine einzige, üppig bereitgestellte supranationale Reservewährung mit einem internationalen "Lender of Last Ressort".
Beruht die gegenwärtige Schuldenhysterie auf falschen Prämissen?
Die MME geht in der Betrachtung von Geld und Fiskalpolitik indes über Minsky hinaus. Besonders kontrovers ist die Idee, dass in einem Fiat-Money-System der Staat, der dieses Geld kontrolliert, keinerlei Budgetbeschränkungen unterliege. So führt Bill Mitchell, Ökonomieprofessor an der australischen University of Newcastle, der den Begriff der "Modern Monetary Economics" für diese Denkschule eingeführt hat, den Fiat-Money-Ansatz konsequent weiter und kommt zu dem Schluss, dass Staaten mit eigener Währung grundsätzlich keinen Kreditrestriktionen unterworfen wären.
Die Währung hat anders als beim Gold-Standard keinen intrinsischen Wert. Ihr Wert wird allein dadurch garantiert, dass es die einzige Währung ist, in der die Steuern und sonstigen Forderungen des Staates bezahlt werden können. Die Haushalte, die Nutzer der Währung, müssen ihre Ausgaben finanzieren, bevor sie sie durchführen können. Die Regierung, die die Währung ausgibt, muss hingegen zuvor ausgeben, bevor sie Steuern einheben kann. Die Analogie die von der Mainstream-Ökonomie zwischen Staatshaushalt und den Budgets privater Haushalte gezogen wird, ist daher falsch. Denn die Regierungsausgaben sind die (einzige) Quelle für die Fonds, die der Privatsektor benötigt um Steuern zu zahlen und zu sparen, und der Staat ist daher nicht durch sein Einnahmenpotential (und die Kreditwürdigkeit der öffentlichen Hand) beschränkt.
Aussagen wie "die Bundesregierung gibt das Geld der Steuerzahler aus" sind daher auf die operationale Realität unseres Geldsystems nicht anwendbar. Besteuerung entzieht dem Privatsektor zwar Kaufkraft, stellt aber keinerlei zusätzliche Finanzkapazität für öffentliche Ausgaben zur Verfügung. So entspricht ein Budgetdefizit (-Überschuss) in der "modernen" volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung genau dem privaten Überschuss (-Defizit). Aggregiert kann es keine privaten Nettoersparnisse ohne kumuliertes Defizit-spending der Regierung geben. Nur die Regierung kann dem Privatsektor netto Finanzanlagen (zum Sparen) zur Verfügung stellen und simultan dazu die Netto-Sparneigung befriedigen und die Arbeitslosigkeit eliminieren.
Bill Mitchell
In weiterer Folge sei es daher auch unsinnig, wie die Mainstream-Ökonomie ein "über den Zyklus ausgeglichenes" Staatsbudget anzustreben, weil dadurch zwangsläufig auch der private Sektor (samt Ausland) ausgeglichen budgetieren müsse. Der Staat sollte viel mehr stets so viel Geld drucken und ausgeben bis Vollbeschäftigung erreicht ist und hätte dabei einzig die Preisstabilität zu beachten. Und diese gerate erst dann in Gefahr, wenn der Staat seine Ausgaben weiter erhöht, obwohl bereits Vollbeschäftigung erreicht wurde.
Die Regierungen haben sich in der neoliberalen Ära selbst Regeln unterworfen, die vielleicht in der Zeit des Goldstandards vernünftig waren, nicht aber der heutigen Realität entsprechen. Die gegenwärtige Schuldenhysterie, die die aktuelle makroökonomische Debatte beherrscht, beruht auf falschen Prämissen über das Funktionieren des monetären Systems und über die angeblichen öffentlichen Ausgabenrestriktionen.
Bill Mitchell
Während die These von der unbeschränkten Verschuldungskapazität eines Staates mit eigener Währung wohl für ein großes Land wie die USA, China und vielleicht noch Großbritannien gelten mag, das sich auch im Ausland in der eigenen Währung verschulden kann, gilt sie aber offenbar kaum für ein Land wie etwa Island, das von seinen ausländischen Kreditgebern abhängig bleibt. Unklar ist auch, wie sich dies bei Ländern in einer gemeinsamen Währungsunion darstellt.
Demgegenüber wurde ein weiterer paradigmatischer Kritikpunkt der MME an der Mainstream-Ökonomie inzwischen selbst von der US-Notenbank akzeptiert, nämlich dass bei der Geldschöpfung nicht zuerst die Notenbank den Banken die Reserven zuteilt und durch diese dann die entsprechenden Kreditvergaben erfolgen, sondern umgekehrt die Banken zuerst die Kredite vergeben und sich erst dann die dafür nötigen Reserven besorgen.
Das stellt immerhin einen analytischen Paradigmenwechseln im Verständnis der operativen Geldpolitik dar und könnte als erster Schritt des ökonomischen Mainstream in Richtung der MME gewertet werden. Bis freilich die Hysterie über die allseits ausufernden Staatsschulden auf Basis der Erkenntnisse der MME verebbt, dürfte indes noch etwas Zeit vergehen und eine gründliche Beweisführung erforderlich sein.