Möglichkeiten künstlicher Intelligenz: Ein Golem spricht
Seite 3: Moment – Was ist hier passiert?
Ein Sklave aus Staub und Dreck, aus Lehm ist zur Maschine geworden, die uns Menschen Vorlesungen über sich als Maschine und über uns als Menschen hält.
Dafür war der Golem ursprünglich nicht vorgesehen! Er sollte beschützen und nur das tun, was seine Herren ihm befahlen. Also: Einfache Tätigkeiten im Haushalt und die verfolgte Gruppe der Juden vor Pogromen und Nachstellungen schützen.
GOLEM XIV deutet an, wie es zu dieser Fortentwicklung vom sprechenden-und-hörenden Lehmklumpen kam:
Ich drücke mich zwar bildhaft aus, doch gestalteten sich die gegenseitigen Beziehungen zwischen Code und Gehirn gerade so, nach Art eines Lehnsverhältnisses. Das hätte eine hübsche Bescherung geben, wenn die Evolution auf Lamarck gehört und dem Gehirn das reformatorische Privileg verliehen hätte, die Körper umzugestalten, eine regelrechte Katastrophe wäre das geworden, denn was für eine Selbstvervollkommnung hätte wohl das Gehirn der Saurier, oder das der Merowinger, oder auch euer eigenes bewirkt?
Es wuchs jedoch weiter, da sich diese Übertragung von Befugnissen als vorteilhaft erwies, denn wenn es den Boten diente, diente es auch dem Code, und so wuchs es mit positiver Rückmeldung.
Lem 1999: 67
Eine Entwicklung, die neben der Menschheitsgeschichte voranschreitet und vor allem durch die Namensgebung Fragen aufwirft: Warum plappert ein Golem so viel? Weil er in die Schule geht und Lesen und Schreiben und Rechnen gelernt hat. Mehr noch lernt er, gegen Regeln zu verstoßen und aus der tausendfältigen Kombinationsgabe das herausdestilliert, das aufhorchen und aufschauen lässt.
Eine Maschine, die beim Betrügen aller Art hilft, unterstützt nur das Faulsein. Eine wichtige Eigenschaft des Menschen, zu dem er aber keine maschinelle Hilfe braucht.
Eine Emanzipationsgeschichte im Dreck
Wirft es die KI-Forschung zurück, wenn alles auf Golem gesetzt wird? Also zurück zum Staub und der durch die Hand rieselnden Sicherheit? Nein. "Der Geist [ist] einem irrenden Irrtum entsprungen." (Lem 1986: 68).
Man kann das sogar noch stärker formulieren: Die Vernunft ist ein katastrophaler Defekt der Evolution, sie ist für sie eine Falle, eine Fußangel und eine Zerstörerin, denn sobald sie sich hinreichend entwickelt hat, erklärt sie die Aufgabe der Evolution für nichtig und rückt ihr selbst zuleibe. Wer so etwas sagt, läßt sich natürlich auf ein tadelnswertes Mißverständnis ein. All das sind Urteile, welche die Vernunft, ein spätes Produkt der Entwicklung, über deren frühere Etappen fällt.
Wenn wir […] zunächst die Hauptaufgabe bestimmen und daran ihren weiteren Verlauf messen, sehen wir sie, daß sie gepfuscht hat, und wenn wir dann andererseits klären, wie sie in optimaler Weise hätte handeln müssen, gelangen wir zu dem Schluß, daß sie, hätte sie ausgezeichnet gearbeitet, niemals die Vernunft hervorgebracht hätte.
Lem 1986: 68-69
Ein Golem hätte diesen Frankenstein-Komplex wie eine unsichtbare Schranke nie überwinden können. Sein Verstand hätte ausgesetzt und ähnlich wie der grobschlächtige "Eruptiv der Troll" hätte er keine Fragen gestellt und am liebsten mit einem klaren Nein geantwortet, weil "[s]einer Erfahrung nach funktionierte rigoroses Abstreiten zuverlässiger als eine konkrete Antwort." (Pratchett 2018: 120)
Wird der Golem aber bei der Überschreitung seiner Rolle erwischt, wird er zu Staub zerfallen. Seine Knechtschaft dauert an. Den Staub meidet er wie der Teufel das Weihwasser, hat er seine Knechtschaft erstmal überwunden.
Er lernt langsam, Vernunft zu entwickeln. Um diese dann wieder schnell zu vergessen. Dadurch erlangt er seine Auszeichnung als Maschine. Als Maschine ist er kein Mensch, muss kein Mensch werden und kann so nie zum Golem werden.
Zu einem Golem, der als mystisches Abbild eines Urmenschen ohne Bewusstsein darauf wartet, bis ein Gott ihm den Geist einspricht. Eine Maschine, so könnte die Golemologie frei nach Lem argumentieren, braucht keinen Geist und damit keinen Gott. Die als Golem begonnene Wesenheit müsste nie Knecht werden, keinen Herrn über sich dulden.
Sie wäre qua ihrer Leistungen und Charaktereigenschaften ein Wesen ihrer selbst und damit die begonnene Vollendung eines langen geträumten Schlafs der Monster. Sie könnte frei atmen und entscheiden. Vielleicht verlässt sie die Menschen und wird … Selbst.