Moskau-Terror zeigt, wie Russland und USA ihre gemeinsamen Feinde ignorieren

Seite 2: Konfusion der Prioritäten

Konfusion bei den Prioritäten hat auch die US-Politik und die Analyse der US-Medien bezüglich des Nahen Ostens tiefgreifend beeinflusst. Russische Beobachter haben nicht nachvollziehen können, dass die USA und ihre Verbündeten nach den Katastrophen im Irak sowie in Libyen darauf aus sein konnten, den Baath-Staat in Syrien zu stürzen, und damit Chaos und einen wahrscheinlichen Sieg des IS herbeizuführen (wie die CIA Präsident Obama sogar gewarnt hatte).

Die Russen fragten sich, wie es möglich sein konnte, dass Außenministerin Hillary Clinton Anfang 2011 auf die weitere Unterstützung der brutalen Diktatur von Hosni Mubarak in Ägypten drängte – mit der Begründung, dass andernfalls islamistische Extremisten triumphieren könnten – und dann später im selben Jahr die russische Unterstützung für die brutale Diktatur von Bashar al Assad als "verachtenswert" bezeichnete, obwohl sie aus genau denselben Gründen erfolgte.

Die einzige Erklärung, die man finden konnte, war, dass ein Großteil des US-Establishments von einem pathologischen Hass auf Russland besessen ist – und damit hatten sie nicht ganz unrecht.

Vor und während des zweiten Tschetschenienkriegs, der 1999 begann und durch blinde Feindseligkeit gegenüber Russland motiviert war, versuchten viele westliche Kommentatoren, die wachsende Rolle der islamistischen Extremisten in Tschetschenien zu übersehen und ihre Aktionen nicht als Terrorismus zu bezeichnen. Heute, obwohl der IS öffentlich die Verantwortung für den Anschlag in Moskau übernommen hat, versucht Präsident Putin, die Schuld auf die Ukraine zu schieben.

Die kriminelle Ignoranz der russischen Behörden

Solange er dafür keine echten Beweise vorlegen kann, sollten die russischen Eliten diesen Vorwurf zurückweisen. Andernfalls würden sie es wieder einmal versäumen, ihre Mitbürger gegen die realen Bedrohungen zu verteidigen, denen sie ausgesetzt sind.

Ebenso ist zu hoffen, dass kein westlicher Analyst der ukrainischen Behauptung – für die es keinerlei Beweise gibt – Beachtung schenken wird, dass diese Katastrophe Russlands das Werk der russischen Behörden war.

Schließlich stellt sich auch die Frage der Verantwortung. Es ist absolut unverzeihlich, dass nach der Warnung der USA und dem Beispiel des schrecklichen Terroranschlags auf ein Moskauer Theater im Jahr 2002 die Konzerthalle unbewacht gelassen wurde.

Das ist eine kriminelle Ignoranz seitens der russischen Behörden. Man kann nur hoffen, dass hochrangige Beamte aus Schamgefühl zurücktreten oder streng bestraft werden.

Die Frage nach Verantwortung

Aber wenn die jüngste Geschichte ein Anhaltspunkt ist, werden wir vergeblich hoffen, so wie wir vergeblich gehofft haben, dass US-Politiker und Offizielle persönliche Verantwortung für die Katastrophen übernehmen, in die sie die Vereinigten Staaten der vergangenen Generation geführt haben.

Es ist zum Teil eine Frage von Gesetzen und Institutionen, die in der Lage sind, die Eliten zur Rechenschaft zu ziehen – Dinge, die es in Russland nie gab und die im Westen schnell zerfallen.

Viel wichtiger ist jedoch, dass es sich um eine Frage des inneren Gewissens und des Pflichtgefühls handelt. Wir glauben gerne, dass wir in dieser Hinsicht besser sind als die Russen. Da wäre ich mir nicht so sicher.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).