Mursi und die Augen der Freiheit

Ägypten: Der Präsident manövriert den alten Machtapparat aus - "im Namen der Revolution". Kritiker fürchten einen "neuen Pharao"

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Mursi hat den Kampf gegen Vertreter des alten Regimes auf eine neue Stufe gehoben. Die Dekrete, Gesetze und Verfassungserklärungen des Präsidenten sollen fortan immun gegen gerichtliche Anfechtungen sein - ebenso das Oberhaus und die verfassungsgebende Versammlung, die nicht aufgelöst werden können. Der Generalstaatsanwalt wird mit sofortiger Wirkung entlassen und der Posten neu besetzt - der ägyptische Präsident Mursi hat gestern mit seiner Verfassungserklärung wichtige Regler betätigt, um den Machtapparat so zu schalten, dass er möglichst wenig behindert wird.

Ausgeschaltet werden soll vor allem die Machtfiliale des alten Regimes, die bislang in der Justiz gegen die "Revolution" waltete. So stellt man das in der Umgebung Mursis da. Diese Sicht wird aber nicht von allen geteilt. Für heute ist eine große Demonstration "Augen der Freiheit" auf dem Tahrir-Platz angekündigt.

Es ist kein Zufall, dass im ersten Artikel der Forderungen die Wiederaufname von Verfahren gegen Mitglieder des alten Regimes angekündigt werden, die der Verbrechen gegen die Revolution bezichtigt werden. Damit geht Mursi auf Forderungen ein, die auf der Straße gestellt wurden, und macht sogleich klar, wogegen seine Erklärung auch in den anderen Artikeln zielt: gegen die Reste der alten Macht in der Justiz. Vorweg das Verfassungsgericht, aber auch andere Gerichte, die der neuen Regierung immer wieder neue Riegel vorschob.

Sichtbar wurde dieses System der Alten nicht nur daran, dass, wie etwa beim Urteil über den berüchtigten Kamel-Angriff auf Demonstranten, eine Menge "Mubarak-Funktionäre" straffrei blieben, sondern auch in Großmanövern: so bei der Auflösung des gewählten Parlaments durch ein Urteil des Verfassungsgerichts, das noch mit Richtern besetzt ist, die Mubarak nominiert hat.

Ägyptischen Medien war zuletzt zu entnehmen, dass sich das Verfassungsgericht nun auch mit der Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung beschäftige. Dort hat die Partei der Muslimbrüder (Gerechtigkeit und Freiheit) die Mehrheit, das ist Mursis politische Basis.

Ganz so einfach, wie dies auf den ersten Blick aussieht, ist die Angelegenheit aber nicht. Das Verfassungsgericht hatte sich mit einer Frage beschäftigt, die auch andere Verfassungsgerichte beschäftigen würde: Ob eine Wahl rechtlich zu akzeptieren ist, wenn Parteimitglieder sich auch auf einer Liste zur Wahl stellen dürfen, die mit Absicht für Unabhängige freigehalten wurde, um eine Vielfalt zu garantieren und damit eine Art Schutzzone gegenüber etablierten Parteien.

Der Vorwurf des Verfassungsgerichts lautete, dass Mitglieder der Partei der Muslimbrüder, der Partei für Gerechtigkeit und Freiheit, dies getan haben und somit mehr Stimmen erhielten. Da die Besetzung des Parlaments auch Auswirkungen auf die Besetzung der verfassungsgebenden Versammlung hatte, geriet nun auch das zweite Organ ins Visier des Verfassungsgerichts. Formal ist das vielleicht nachvollziehbar, politisch aber eindeutig ein Schlag gegen die Muslimbrüder.

Mursi und die Verfassungsrichter

Zudem ist der Schritt des Verfassungsgerichts politisch prekär. Weil er Ägypten in der demokratischen Aufbauphase trifft und es für das Verfassungsgericht auch andere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben hätte als die radikalste, nämlich die gesamte Wahl für ungültig zu erklären und das Parlament für aufgelöst. Mursi konnte, was die ausstehende Entscheidung über die verfassungsgebende Versammlung betrifft, auch hier ein radikales Gegenmanöver befürchten. Er wäre dann im Chaos gestanden.

Die Entscheidung des Gerichts hatte Muris schon einmal versucht zurückzunehmen, mit einer Verfassungserklärung (Mursis Coup). Im Juli erregte dies großes Aufsehen, weil klar war, dass er sich damit auch gegen die de-facto-Machthaber des obersten Militärrats stellte.

Zudem gab es Streitigkeiten darüber, ob der Präsident legale Befugnisse für eine solche Revision überhaupt habe. Das Verfassungsgericht erklärte seine Entscheidung als verbindlich und für den Präsidenten nicht aufhebbar.

Genau dagegen richtet sich nun die gestrige Verfassungserklärung Mursis. Er will nicht mehr solche richterlichen Hindernisse in den Weg gelegt bekommen, bis die neue Verfassung verabschiedet ist und auf der Grundlage ein neues Parlament gewählt werden kann, das kein Übergangsparlament mehr ist.

Personell zugrunde liegt dem, wie die Entlassung des Generalstaatsanwalts zeigt, der Kampf zwischen einer alten Clique in der Justiz und einem Kreis aus Juristen, die Mursi nahestehen.

Und der Militärrat, die Militärgerichte?

Interessant und bislang nicht bekannt ist, wie sich die Armeeführung gegenüber dem neuen Machtmanöver Mursis stellt. Ist die Hinterzimmer-Vereinbarung, die Mursi mit dem SCAF vor einiger Zeit auf getroffen hat, als er Schlagzeilen mit der Entrmachtung des früheren starken Mannes Tantawi machte, so stark, dass die Führung im Hintergrund bleibt und seine Kreise nicht stören will, im guten Wissen, dass die eigenen Wirk-und Geschäftskreise unangetastet bleiben?

Dass Militärprozesse, die Tausende von Kritikern, - die doch in vielen Fällen, wenn nicht in den allermeisten, auch im Namen der Revolution gehandelt hatten - hinter Gittern brachte, nicht neu aufgerollt werden, ist eine beachtliche Lücke in der Erklärung Mursis (12.000 Zivilisten vor Armeetribunalen angeklagt).

Gegen den neuen Pharao

Publizisten und Oppositionelle, die sich während der Demonstrationen gegen die alte Mubarak-Macht einen Namen gemacht haben, sprechen Mursi den Anspruch ab, wonach er im Dienste der Revolution agiere, wie dies von seinem Sprecher dargestellt wird. Er sei einfach auf Macht versessen, auf unverhältnismäßig große Macht - so der Tenor mancher Kritiker, das Stichwort dazu heißt "Der neue Pharao".

Zu finden ist die Skepsis deutlich beispielsweise in der Analyse bei The Arabist oder wütender bei der Bloggerin Zainobia.

Wie beunruhigt Vertreter der Zivilgesellschaft sind, zeigt sich am Aufruf zur heutigen Demonstration. ElBaradaei bezeichnete den Schritt Mursis als "schweren Schlag gegen die Revolution". Doch gibt es auch viele positive Stimmen, die dem Schritt Mursis große Anerkennung zollen. Vielleicht gibt der Tahrir-Platz heute Auskunft darüber, wie die Verhältnisse zwischen Unterstützern und Kritiker aussehen.

Erste Reaktionen aus Kreisen der Justiz, wie sie vom bekannten ägyptischen Journalisten Hani Shukralla übermittelt werden, deuten daraufhin, dass dort versucht wird, ein Impeachment-Verfahren gegen Mursi einzuleiten.