Muschelkette als Statussymbol
Schon vor 100.000 Jahren trugen unsere Vorfahren Schmuck
Sich zu schmücken, gehört zu den ersten Formen von Kunst und Kultur, die der Mensch praktizierte. Wissenschaftler haben jetzt in verschiedenen Museen gesucht und uralte Muscheln aus Israel und Algerien gefunden, die durchbohrt wurden, um sie als Schmuck tragen zu können. Sie könnten als Amulette getragen worden sein, und sehr wahrscheinlich hatten die Schmuckstücke schon vor 100.000 Jahre einen symbolischen Wert.
Der Beginn der kulturellen Ausdrucksformen wird von den meisten Paläoanthropologen vor 40.000 Jahren angesetzt. Der zugewanderte moderne Mensch, der Homo sapiens sapiens, der sich vor ungefähr 200.000 Jahren in Afrika entwickelte (Echt alt), soll der erste Künstler gewesen sein. Denn mit ihm zusammen taucht in Europa die steinzeitliche Aurignacien-Kultur) auf, benannt nach einem wichtigen Fundort in den Pyrenäen.
Auch in anderen Teilen Europas fanden sich bei Grabungen in Höhlen sorgfältig bearbeitete Werkzeuge, Schmuckgegenstände und Kunstgegenstände wie Schnitzereien aus Knochen, Elfenbein oder Horn. Die Menschen beginnen zu dieser Zeit auch, Felsbilder zu malen. Wahrscheinlich waren die ersten Künstler anatomisch moderne Menschen, es könnten aber auch Neandertaler unter ihnen gewesen sein (Steinzeitkünstler Neandertaler?).
Vor zwei Jahren kam dann die große Überraschung: Forscher entdeckten, dass der Homo sapiens sapiens schon lange vorher Schmuck getragen hatten. In der Blombos-Höhle in Südafrika fanden sich durchbohrte und mit Farbresten versehene Muscheln, die vor 75.000 Jahren irgendjemanden zur Zierde gereicht hatten. Diese Nachricht schlug unter den Experten ein wie eine Bombe.
Die Idee, dass es noch mehr solche Muscheln geben könnte, die bislang als unerkannte Schätze in den Kellern von Museen ruhen, ließ das Team um Marian Vanhaeren vom Centre for the Evolution of Cultural Diversity am University College London nicht mehr los. Sie begannen systematisch zu suchen und wurden tatsächlich im Natural History Museum in London und im Musée de l’Homme in Paris fündig.
Jetzt veröffentlichen Marian Vanhaeren und Kollegen vom Institut de Préhistoire et de Géologie du Quaternaire, vom Natural History Museum in London und von der israelischen Tel Aviv University in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science ihren Bericht über die Entdeckung und genaue Datierung dieser uralten Schmuckanhänger (Middle Paleolithic Shell Beads in Israel and Algeria).
Zwei perforierte Muscheln der Art Nassarius gibbosulus, einer Meeresschnecke, entstammen der Grabung, die Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in El-Skhul durchgeführt wurde. Die Höhle liegt am Berg Carmel drei Kilometer südlich von Haifa und 3,5 Kilometer vom Meer entfernt.
Die fossilen Schneckenhäuser stammen aus einer Schicht, in der Knochen von zehn unterschiedlichen anatomisch modernen Menschen begraben lagen. Ihre genaue Altersdatierung machte Probleme, zumal vor rund siebzig Jahren moderne Methoden für eine genaue Analyse noch nicht zur Verfügung standen. Inzwischen geht aber eine Mehrheit der Paläoanthropologen davon aus, dass diese Homo sapiens sapiens vor 100.000 bis 130.000 Jahren lebten (Dating the human burials from Skhul). Um das Alter der Muscheln zu verifizieren, analysierten die Forscher die anhaftenden Sedimente und verglichen sie mit den Schichten der Fundstelle. Das Resultat bestätigte klar ein Alter von 100.000 Jahren.
Die dritte durchbohrte Nassarius gibbosulus stammt aus Oued Djebbana, einer Fundstätte in Algerien, die 200 km vom Mittelmeer entfernt, 97 km südlich von Tebassa, nahe an der tunesischen Grenze liegt. Die Datierung der Funde ist unklar, aber ein Vergleich des Stils und der Herstellungstechnik der Steinwerkzeuge, in deren direkter Umgebung die Muscheln aus dem Boden geholt worden waren, lässt die Gruppe um Marian Vanhaeren davon ausgehen, dass sie bis zu 95.000 Jahre alt sein könnten.
Alle drei versteinerten Exemplare sind deutlich größer als die heutigen Muscheln der gleichen Art, die nur im östlichen Mittelmeer vorkommen. Dieser Größenunterschied ist ein weiterer Beleg für das hohe Alter der Schmuckstücke.
Beide Fundorte liegen nicht am Meer. Oued Djebbana war seit dem oberen Pleistozän immer mindestens 190 km von der Küste entfernt, Skhul immerhin stets mehrere km – zudem liegt der Fundort zu hoch, als das es möglich scheint, dass ein Sturm die Muscheln zufällig in die Höhle spülte. Außerdem sind natürliche Perforationen in der Mitte der Schale bei dieser Art von Meeresschnecken äußerst selten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Menschen die Durchbohrungen vornahmen oder mindestens die raren Exemplare der von der Natur gelochten Muscheln wertschätzten und über weite Strecken transportierten. Da die Fundorte derartiger Muschelanhänger ein Dreieck von Südafrika über Algerien bis Israel aufspannen, vermuten Marian Vanhaeren und seine Kollegen, dass es überall bereits so früh in der Geschichte des Homo sapiens sapiens ähnlichen Schmuck gab, den es nun zu entdecken gilt. Das Forscherteam ist überzeugt:
Diese Schmuckanhänger sind ein weiterer Beleg für die Hypothese, dass es in Afrika und der Levante eine bereits lang andauernde und weit verbreitete Tradition der Verwendung von Schmuckperlen gab, bevor der anatomisch moderne Mensch in Europa ankam.
Die Herstellung von Schmuck ist ein Anzeichen von symbolischem und damit kognitivem Denken. Wer sich mit Muscheln behängt, besitzt höchst wahrscheinlich ein Bewusstsein für soziale und kulturelle Identität. Derartige Stücke sind Statussymbole und wurden vielleicht als Zeichen der Wertschätzung weitergegeben oder ausgetauscht. Marian Vanhaeren erklärt:
Persönlicher Schmuck könnte viele verschiedene – und oft auch multiple – Funktionen gehabt haben. Er könnte dazu benutzt worden sein, den Körper zu verschönern, als „Liebesbrief“ bei der Werbung um einen Partner, oder als Amulett, um individuelle oder Gruppenidentitäten auszudrücken.
Die Funktion der ältesten Schmuckperlen in Afrika und Europa war wahrscheinlich unterschiedlich, denn im ersten Fall haben wir nur einen Typ von Anhänger, im zweiten Fall eine reiche Typenvielfalt. Wir denken, dass das afrikanische Fundmaterial darauf hinweist, dass die Schmuckanhänger für den Geschenke-Austausch genutzt worden sein könnten, um die sozialen und ökonomischen Beziehungen zu stärken. Nach vorliegende Fundsituation weist daraufhin, dass die europäischen Schmuckstücke als Symbole für ethnische, soziale oder persönliche Identität genutzt wurden.
Mit Sicherheit ist jetzt eine heftige Debatte der Experten zu erwarten, denn drei durchbohrte Muscheln sind ein schwacher Beweis für die Verbreitung von Schmuck über ganz Afrika vor 100.000 Jahren.