Muss Berlin noch einmal wählen?
Inzwischen wurden zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Stimmangabe zum Abgeordnetenhaus bekannt. Ergebnis könnten verfälscht worden sein. Wer trägt die politische Verantwortung?
Im Windschatten der Sondierungen für die neue Bundesregierung gab es auch in Berlin erste Gespräche zwischen SPD, Grünen und – getrennt davon – mit den Linken. Am Montag will sich die SPD mit der CDU treffen, um die Bildung einer neuen Regierungskoalition in der Hauptstadt zu besprechen.
Dabei ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof eine Wiederholung der gesamten Abgeordnetenhauswahl anordnet. Grund sind die massiven Unregelmäßigkeiten am Abstimmungstag.
Die Liste der Pannen ist lang: Vor manchen Berliner Wahllokalen mussten die Wähler bis zu zwei Stunden warten. Andere konnten überhaupt nicht mehr wählen, weil nicht genügend Stimmzettel vorhanden waren. In einem Wahllokal in Friedrichshain-Kreuzberg wurden Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf verteilt. An vielen Orten reichte die Zahl der Wahlkabinen nicht aus. In mindestens 99 Wahllokalen waren auffällig viele Stimmzettel ungültig.
Es gab auch Wahlkreise, in denen die Beteiligung bei über 100 Prozent lag. Mittlerweile wurden einige Protokolle von ehrenamtlichen Wahlhelfern und Wählern veröffentlicht, die das Ausmaß der Unregelmäßigkeiten deutlich machen.
Der Begriff "Panne" verharmlost den Skandal
Es ist falsch von "Pannen" bei der Wahl zu schreiben, wie das viele Medien machen. Da nimmt man schon mal die Ergebnisse einer Untersuchung vorweg, die noch gar nicht eingeleitet wurde. Wenn das Wort "Panne" dafür benutzt wird, trägt das zur Verharmlosung des Vorgangs bei. Was zu den Unregelmäßigkeiten bei der Wahl führte, hingegen sollte zunächst untersucht werden, ohne den Vorgang aber als Bagatelle abzutun.
Der Politikwissenschaftler Timm Beichelt weist darauf hin, dass in einem Wahlkreis eine Kandidatin der SPD lediglich acht Stimmen Vorsprung hat, in anderen Wahlkreisen bewegen sich die Differenzen zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten im zweistelligen Bereich.
Es ist noch nicht klar, ob es in Wahlkreisen mit knappem Ergebnis keine Probleme gegeben hat. Nach Ansicht von Beichelt jedenfalls sind die Unregelmäßigkeiten mandatsrelevant. In mindestens vier Wahlkreisen könnte sich eine Änderung ergeben.
Berlins SPD-Innensenator Andreas Geisel verantwortlich
Beichelt stellt auch die Frage der politischen Verantwortung für die Unregelmäßigkeit bei den Wahlen und verweist zugleich auf Innensenator Andreas Geisel (SPD). Man dürfe die Kritik nicht lediglich auf die Verantwortlichen in der Verwaltung beschränken. Mit dem Rücktritt der ehrenamtlich arbeitenden Berliner Landeswahlleiterin wurde in diesem Bereich Konsequenzen gezogen. Doch die politische Ebene hat bisher den Eindruck erweckt, sie habe mit dem Desaster nichts zu tun. Das weist Beichelt zurück.
Er erinnert daran, dass in Berlin jahrzehntelang bei der Verwaltung gespart wurde. Zahlreiche Stellen bleiben unbesetzt. Viele Bürger haben das zu spüren bekommen, wenn sie lange auf einen Behördentermin warten mussten, wenn sie etwa ein wichtiges Dokument verlängern müssen.
Auch die Pannen bei den Wahlen ist nach Beichelts Ansicht zumindest teilweise eine Folge der Sparpolitik bei den Behörden. Sollte es tatsächlich zu einer Wahlwiederholung kommen, würden hohe Kosten entstehen. Zudem könnte die Politikverdrossenheit befördert werden. Schließlich wird der Eindruck erweckt, dass selbst die Organisierung von bürgerlichen Wahlen in Berlin ein Problem ist.
Muss man Satire-Partei sein, um die Wahl ernst zu nehmen?
Beichelt stellt sich auch die Frage, wie die Bevölkerung in Berlin darauf reagiert. Bisher kaum, muss man konstatieren. Es ist auffallend, dass vor allem die Linke sehr still ist. Dabei hat LInken-Kultursenator Klaus Lederer seinen Wahlkreis mit nur wenigen Stimmen Abstand verloren. Er war nicht der Einzige. Lässt die Linke die Angst schweigen, in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn man eine fundamentale Kritik an dem Ablauf der Wahlen formuliert?
Mitunter wurde darauf verwiesen, dass man sich damit in das Fahrwasser rechter Populisten begäbe. Schließlich sei von Trump und Konsorten bekannt, dass sie Wahlen nur anerkennen, wenn sie gewinnen. Aber darf das die Linke davon abhalten, einen Wahlverlauf wie am 26. September in Berlin zu kritisieren? Die Satirepartei "Die Partei" immerhin will die Wahlen überprüfen lassen – und das ganz im Ernst.
Auf einer Online-Plattform können sich Wähler melden, die in Berlin Unregelmäßigkeiten festgestellt haben. Wenn "Partei"-Chef Martin Sonneborn fragt, ob man Satirepartei sein muss, um die Wahlen ernst zu nehmen, trifft er einen wichtigen Punkt.
Auch die Rossiskaja Gaseta aus Russland registriert "beispiellose Verstöße bei der Berlin-Wahl". So haben russische Medien mal die Gelegenheit, den Spieß umzudrehen. Schließlich kommt sonst immer aus Deutschland die Schelte, in Russland könnte eine Wahl nicht nach bürgerlichen Kriterien abgehalten werden.
Wahlkritik nur mit Blick auf das Ausland?
Derweil haben die meisten Medien in Deutschland andere Probleme. So erteilt taz-Berlin-Kommentator Stefan Alberti der Vorsitzenden der Berliner Linkspartei, Katina Schubert, eine scharfe Rüge, weil sie an die SPD-Kandidatin Franziska Giffey den tatsächlich missverständlichen Vorwurf richtete, sie könne einen Wahlbetrug vorbereiten.
Dabei bezog sie sich allerdings nicht auf die Unregelmäßigkeiten bei den Berliner Wahlen, sondern auf das Bestreben von Giffey, eher mit der CDU und der FDP als mit der Linken eine Koalition bilden zu wollen. Die Sozialisten fühlten sich übergangen und Schubert wählte einige scharfe Ausdrücke.
Dabei hat sie inhaltlich recht: Es wäre eine Kriegserklärung an die 57 Prozent Unterstützer des Volksbegehrens Deutsche Wohnen und Co. Enteignen, wenn Giffey, auf Konservative und Liberale orientiert. Überraschend wäre es nicht: Sie hatte sich schon lange gegen die Ziele des Volksbegehrens ausgesprochen.
Gegen diese Haltung müsste die Linke eine scharfe Opposition im Parlament und auch auf den Straßen bilden, statt sich beleidigt zu zeigen, weil man womöglich nicht mit Regierungssitzen bedacht wird. Angesichts des überzeugenden Ergebnisses beim Volksbegehren könnten die Linken zumindest eine rasche Umsetzung des Vorhabens zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung machen
Zugleich könnte sie die Unregelmäßigkeiten bei der Berlin-Wahl kritisch thematisieren. Als Beleg etwa, dass für den Staatsapparat in Deutschland penibel durchgeführte Wahlen nur dann von Interesse sind, wenn es um ohnehin kritisierte Führungen im Ausland geht.