Mutationen der Clubkultur
Der ehemals so in den Vordergrund gestellte technologische Aspekt elektronischer Musik gerät in der Clubkultur zunehmend in den Hintergrund
Alle Augen Richtung Bühne: Die Körper-Performance verdrängt die technologischen Aspekte der elektronischen Musik. Der Live!-Auftritt ist zurück. Allerorten stellt er derzeit den Höhepunkt in elektronischer Musik und Clubkultur dar. Wird das alte Medium wieder über das Neue siegen?
Abgang: Technologie. Auftritt: Performance
Wenn Kritik eine immer wieder neue und an Grenzen stoßende Haltung zur Aktualität ist, wie Foucault uns immer beibringen wollte, dann ist klar, dass die Vermittlung einer musikalischen Form nicht immer dieselbe sein kann, wenn sie kritische Sprengkraft haben möchte. Oder nochmal von der anderen Seite: Es ist klar, dass sich die Formate, wie man elektronische Musik zusammen im Club hört, verändern müssen. Die Richtung, in die sie sich allerdings derzeit verändert, kommt insgesamt eher gruselig rüber. Auf dem Musikfestival Sonar in Barcelona konnte man das dieses Jahr deutlich bemerken. Clevere Leute wie Chicks on Speed und Supercollider, deren Musik man auf CD durchaus schätzt, zwängen sich in Bühnenkostüme und führen etwas auf. Der technologische Aspekt der Musik, über den man die traditionelle Autorenkonzeption ehemals aushebelte, tritt in den Hintergrund. Seltsam, wundert man sich vor der Bühne und kratzt sich am Kopf. Siegt da wirklich wieder das alte Medium über das neue?
Wie jetzt?
Wenn wir die Musikgeschichte vor uns ausbreiten und das eine Auge zukneifen, um uns darauf zu konzentrieren, wie sich Musik vermittelt, wird klar, dass es auf jeden Fall zuerst das Konzert gegeben hat, dann lange, lange nichts, und dann, Jahrhunderte später, entwickelte sich neben dem Live!-Spielen das Abspielen von Aufnahmen. Edison entwickelte im Jahre 1877 einen Phonographen, der noch auf Walzen aufzeichnete. Zehn Jahre später, 1887 erfand Emil Berliner dann das Grammophon, das straight zum heutigen Speichermedium Vinyl führte. Vinyl und Konzert, diese beiden Formate haben sich gegenseitig natürlich nicht in Ruhe gelassen und friedlich nebeneinander koexistiert. Das Konzert, das seinen Alleinvermittlungsanspruch Musik hörbar zu machen, seitdem teilen musste, trug fortan ein paar Mythen in Tüten mit sich herum. Beispielsweise, dass "live!" im Vergleich zu "von Platte" vor allem deshalb die adäquatere Erfahrung von Musik ist, weil man in den Produktionsprozess beinahe hineinkriechen kann (live! dabei eben) und deshalb eine bestimmte Magie entsteht, die beim Aufnehmen, d.h. der Loslösung vom konkreten Raum, Musikinstrument und Person, verloren geht. Das Konzert wurde zur natürlichen und authentischen Existenzform von Musik erklärt. Weggeschummelt hat man dabei natürlich, dass das Zusehen, wie die Musik entsteht, erstmal im Proberaum eingeübt wird. Man soll uns also jetzt nicht damit kommen, dass "live!" ein intensiveres, weil authentischeres Musikerlebnis sei.
Livesetformate
Das Liveset ist also per se ebensowenig magisch, wie es verdammenswürdig ist. Aber trotzdem anstrengend. Bei elektronischer Musik gibt es drei Möglichkeiten, Livesets zu absolvieren. Entweder man setzt die Betonung auf die Musik, wie es beispielsweise Modernist weise in seinen Livesets tut, die einem nie auf die Füße treten und Aufmerksamkeit von einem fordern, sondern um einen herumfloaten, einen begleiten und ab und zu mal anstupsen, mit im Groove zu wippen. Das wäre eine Möglichkeit, bei der sich das Liveset in freundschaftlicher Nachbarschaft zum DJ-Set befindet. Live ohne Ausrufezeichen sozusagen. Gemeiner Weise schiebt man solche Leute dann mal gerne nicht zur Kategorie der DJs, sondern erwartet muntere Unterhaltung, und falls sie beim Auflegen nicht genug grooven, beschimpft man sie als "Knöpfchendreher" oder "Frickler".
Oder man nutzt zweitens das Liveset, um die Produktion von Musik auf die Bühne zu beamen, wie man auf Sonar bei Herbert bestaunen konnte. Um mit leerer Coladose einen Housetrack in weniger als 15 Sekunden zaubern zu können, muss man zwar viel üben und jede Menge herumhampeln (also visuell deutlicher werden), damit genügend Geräusche im Takt passieren und gleichzeitig mit Händen und Füßen Knöpfe anderer Geräusche gedrückt werden können. D.h. man beginnt zu performen (Herbert war früher Schauspieler, hat mir Cristian Vogel verraten), stellt aber jede seiner Bewegungen in den Dienst der Musik. Musik ist die Verbindung von Mensch und Maschine.
Schließlich, bei der dritten Möglichkeit von Liveact rutscht das Ganze rüber und kippt eher auf die Seite der Performance. D.h. das, was man sieht, wird mindestens gleichwertig, meistens sogar wichtiger als die Musik. Bei Chicks on Speed etwa. Oder auch bei Supercollider, die auf Sonar neben Cristian und Jamie extra noch einen Filmprojektor plus dritten Mann zum Jamie-aufs T-Shirt-Sprühen auf die Bühne befördert haben. Eigentlich überall sprießen performende Live!-Projekte aus den Maschinen, am auffälligsten sind da Fischerspooner, abgemildert lugt das aber auch bei Artists Unknown, Zombie Nation oder Dakar & Grinser hervor.
Anton aus Tirol featuring DJ Ötzi und andere Derivate
Bis Mitte der Neunziger war elektronische Musik u.a. damit beschäftigt, den Menschen beizubringen, Partys neben Konzerten als gleichberechtigtes Format zu verstehen. Damit verlagerte man natürlich die Musik nicht einfach nur von der Gitarre auf die Plattenteller, sondern versuchte auch ein anderes Konzept "künstlerischer" Arbeit durchzusetzen. Bei elektronischer Musik stand nicht mehr die Person, der Autor, das Subjekt im Mittelpunkt, das klassisch als der Ursprung künstlerischer Arbeit angesehen wird, sondern die Arbeit. Lieblingsbeispiel Underground Resistance riefen etwa Musik als Verbindung von Mensch und Maschine aus und verbargen ihre Identität in Kapuzenpullies.
Der DJ wurde neu erfunden. Anders als bei Rock- oder Popmusik war das Leitmedium damit nicht mehr das Album und der maßgebliche Ort des Musikhörens nicht mehr die heimische Stereoanlage, sondern - klar - die Party. Auch damit verschob man das ganze Gefüge, wie Musik funktioniert. Als Band lebte man bis dato immer mit klaren Schnittstellen. Man produzierte Musik, die man für den Hörerkonsumenten auf Platte presste oder auf einem Konzert live spielte. Elektronische Musik dagegen vervielfachte die Schnittstelle zwischen Produzent und Konsument: Als Partygänger konsumierte man die Musik des DJs, produzierte aber gleichzeitig die Atmosphäre der Party mit, die als ebenso wichtig wie die Musik galt. Der DJ wiederum konsumierte die Musik der Producer, die wiederum Musik anderer Produzenten sampelten oder remixten.
Angestrengt war man bestrebt, dass sich die Schlange in den Schwanz biss, um im so entstandenen Kreis das bisherige Prinzip aus Konsument und Produzent unwichtig zu machen. Und ganz nebenbei rettete man außerdem das schon verloren geglaubte Vinyl. Irgendwann ist das alles mal durch, sicher. Schon lange sind Partys nicht mehr unglaubliche Ereignisse, auf denen man schon zeitlich gesehen das Leben der normalen Bürger auf den Kopf stellte. Normale Bürger sind mittlerweile scheinselbständig, arbeiten desöfteren die Nächte durch und krabbeln prinzipiell morgens frühestens um zwölf Uhr aus dem Bett. Eine durchaus partykompatible Lebensorganisation also. Als Party ist man außerdem mittlerweile nicht mehr nur ein Konzerten gleichberechtigtes Format, sondern wird als kostengünstigere Musikvermittlung vom Musikbusiness eindeutig bevorzugt, beispielsweise auf der Popkom. Und dann sind da noch so Erscheinungen, wie dass von der depperten deutschen Nationalmannschaft des nächtens "Anton aus Tirol feat. DJ Ötzi" skandiert wird, beispielsweise.
Forward ever, backwards never
Trotzdem muss das alles nicht heißen, dass man das DJ-Kind mit dem -Bade ausschüttet und resigniert in den Schoß des zweischnittstelligen Großvaters auf die Bühne zurückkriecht. Damit macht man es sich dann auch zu einfach. Nur weil der Feind die eigenen Formate benutzt, ist man noch lange nicht berechtigt, sie fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel, und schnurstracks auf die gegenüberliegende Seite überzuwechseln (eh ein fauler Trick des Kritizismus, über den man viel zu oft stolpert). Konzerte sind nicht wieder toll, nur weil man sie lange aus den Augen verloren hatte. (Wenn, dann sind sie vielleicht nie durchweg schlecht gewesen.) Das Problem mit Live! ist, dass Projekte, wie Chicks oder Supercollider, denen es durch Kurzschluss mit anderen Feldern wie Punk, 80er-Jahre-Songs (Chicks) oder Funk (Supercollider) gelingt, elektronischer Musik neue Felder zur Bearbeitung zu erschließen (forwards ever), auf dem Weg zur Live!-Bühne zu Großvätern mutieren. Alle Clubbesucher wieder marsch zurück auf die Ebene des passiven Betrachters und im Gleichstand zur Bühne hin ausgerichtet.
Punk without Pogo
Anstelle sich zu überlegen, wie man das Format Bühnenshow transformieren und den Errungenschaften elektronischer Musik anpassen kann, greift man einfallslos rüber in das Feld der Kunst - zur 80er Performance oder zum Punkkonzert ohne Pogo. Das reicht vor allem deshalb nicht, weil nicht nur die Musik schon weiter gewesen ist in ihrem Entwurf von künstlerischen Verhältnissen, sondern die Kunst selbst auch nicht in den 80ern stehengeblieben ist. Wir fordern deshalb: Avantgardekunst zum Tanzen! Der Autorenfalle entgegen zu treten, indem man sich selbst als stellvertretendes Experimentierfeld erklärt oder auf Pappfiguren verdoppelt, bleibt eben irgendwie an der Subjektkonzeption von Marina Abramovic hängen: Zwar wird man dann mehr, als man selbst, letztendlich weist dieses "Mehr" aber immer auf einen zurück und wird nicht zu etwas Eigenständigem, was vor allem Porträts immer besonders schwer fällt.
Man kann es sich natürlich leicht machen, indem man sich weigert, darüber nachzudenken und intuitiv rummacht. Dann darf man sich jedoch nicht wundern, wenn andere Menschen kopfkratzend davorstehen, weil die visuelle Ebene mit der musikalischen nicht mithält, jeder technologische Aspekt, der immer ein Aspekt elektronischer Musik gewesen ist, schon vorher von der Stage gepurzelt ist und der Auftritt schnurstracks als Kleinkunst in sich zusammenstürzt. Und warum überhaupt alle wieder auf EINE Bühne ausrichten? Warum können nicht elektronische Musiker, die damit loslegen wollen, Musik mit einer Performance auszustatten und zu visualisieren, gefälligst darauf achten, dass sie nicht nur für ein Guckkastenloch namens Bühne zuständig sind, sondern für einen ganzen Raum (das hatten ausgerechnet Orbital schon seit Jahren begriffen)? Wer daran interessiert ist, wieder alle Menschen im Gleichstand zu formieren und in eine Richtung (auf sich) auszurichten, sollte sich rechtzeitig vor Augen führen, dass so etwas nur zu neun Toten führt, wie man beim Konzertfestival in Roskilde kürzlich gesehen hat. Es bleibt also von den Künstlern zu fordern: Holt die Technologie als Unterstützung zurück. Arbeitet an einem neuen visuellen Performance-Format. Nieder mit der Kunst! Es lebe die tanzende Avantgarde!
Dieser Artikel erschien in leicht abgewandelter Form in der Zeitschrift DE:BUG