NATO und Russland
Nach den Terroranschlägen stehen neue Entscheidungsmechanismen in der NATO auf der Tagesordnung
Auf der Tagung der NATO-Außenminister am Ende dieser Woche wird leise eine kleine Revolution vorbereitet. Noch während des Kosovo-Krieges wurde der internationalen Staatengemeinschaft deutlich, dass friedliche Lösungen in Europa nur gefunden werden können, wenn Russland auf die eine oder andere Weise mit "ins Boot" geholt wird. Über die konkreten Mechanismen und Formen, wie dies geschehen kann und sich alte Differenzen der einstigen Gegnern überwinden lassen, wird in diesen Tagen in Brüssel mit frischem Schwung nachgedacht. Am Ende könnte die Beziehungen zwischen Russland und dem westlichen Militärbündnis eine neue Qualität bekommen.
Seit Anfang November liegt ein neuer Vorschlag des britischen Premier Tony Blair auf dem Tisch. In einem vierseitigen Brief an Putin schlug Blair vor, einen gemeinsamen "Russland-Nordatlantikrat" ins Leben zu rufen. In diesem neuen Gremium würde Russland zusammen mit dem höchsten poltisch-militärischen Entscheidungsgremium der NATO, dem Nordatlantikrat, gleichberechtigt beraten und Entscheidungen treffen können. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, das Problem der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und zukünftige Peacekeeping-Einsätze sind mögliche Themen, die als "gemeinsame Interessen" zum Gegenstand des Gremiums werden könnten.
Zum ersten Mal würde Russland dabei nicht nur eine Stimme in der NATO erhalten, sondern auch eine aktive Rolle im Entscheidungsprozeß spielen können. Zwar erhält Russland auch mit dem Blair-Vorschlag kein Vetorecht in NATO-Angelegenheiten, aber es wird ein Gremium geschaffen, in dem gemeinsam "entschieden" und "gehandelt" wird. Nach den Vorstellungen von Blair wäre die Formel der neuen Zusammenarbeit im gemeinsamen "Russland-Nordatlantikrat" nicht mehr 19 gegen 1 sondern 19 plus 1.
Bislang waren die Beziehungen zwischen Russland und der NATO auf den unverbindlichen Dialog innerhalb des 1997 gegründeten "permanenten NATO-Russlandrat" und der Teilnahme von Manövern im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" von 1994 beschränkt. Dieser Dialog wurde zeitweise während des Kosovo-Krieges außer Kraft gesetzt. In der Vergangenheit erfüllte der Rat nicht das was, die sich die russischen Vertreter von seiner Gründung 1997 versprachen. Sie wurden in diesem Gremium weniger zu wichtigen Fragen konsultiert, als im nachhinein über das informiert, was die Allianz bereits beschlossen hatte. Mit der Gründung des permanenten Rates sollte damals der russischen Seite die erste Runde der NATO-Osterweitung 1999 (Ungarn, Polen und Tschechische Republik) schmackhaft gemacht werden.
Das in der Beziehung zwischen Russland und der NATO ein frischer Wind weht, darauf weisen auch die bilateralen Entwicklungen zwischen den USA und Russland nach den Anschlägen in New York hin. Auf dem Bush-Putin-Gipfel in Texas wurde der Wandel der Allianz ausdrücklich begrüßt. Darüber hinaus kursierten in der NATO-Zentrale in Brüssel ähnliche Vorschläge, so genannte "Non-Papers" von Seiten Kanadas, Italiens und Deutschlands, in denen ebenfalls neue Ideen vorgestellt wurden, wie mit Russland eine neue Form der Kooperation gefunden werden könnte.
In der seiner Eröffnungsrede sprach der Generalsekretär Robertson daher von einer "Logik des gemeinsamen Interesses" die Russland und die NATO bei wichtigen sicherheitspolitischen Fragen näher bringt. Zugleich sprach er von einer Politik der "Null Toleranz" gegenüber dem internationalen Terrorismus. Weitere Themen auf der Agenda der NATO-Tagung werden durch die Folgereignisse des 11. Septembers bestimmt. So müssen die Außenminister der NATO-Länder der Frage nachgehen, ob die Feststellung des Bündnisfalls dem Zusammenhalt der 19 Staaten geholfen oder eher geschadet hat. Denn in einem Statement am 27. September vor der Bombardierung Afghanistans machte der amerikanische Vize-Verteidigungsminister und Hardliner Paul Wolfowitz deutlich, dass die USA keine kollektive Verteidigung mit Hilfe des Bündnisses wünschten, sondern bilateral einzelne Nationen um spezielle Unterstützung bitten werden. Das Ziel war das Schmieden einer "Koalition der Willigen".
Im Kampf gegen den Terror wurde das NATO-Bündnis als solches nur indirekt aktiv mit der Bereitstellung von 5 AWACS Flugzeugen, die fortan den amerikanischen Luftraum überwachen. Darüber hinaus stellten zwar die NATO-Länder ihre Häfen und Basen den Amerikanern zur Verfügung, aber im Vergleich mit der US-Militäroperation in Afghanistan hat dies kaum mehr als ein symbolisches Gewicht.
Im Schlusskommunique des Nordatlantikrates wird ein ungewöhnlich rascher Zeitplan für Schaffung des neuen Konsultations- und Entscheidungsgremium vorgelegt. Bis zum nächsten Treffen in Reykjavik im Mai 2002 will man ihn eingerichtet haben.
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass damit die Beziehungen zwischen Russland und der NATO eine neue Qualität erreichen. Ob allerdings auch dieses Gremium nur wieder genutzt wird, um der russischen Seite die zweite, bald fällige NATO-Erweiterungsrunde besser verkaufen zu können, bleibt offen. Denn innenpolitisch gibt es in Russland immer noch eine starke Fraktion, die jegliche Erweiterung der NATO ablehnt und die diesmal nicht mit einem substanzlosen Gremium zu ködern sein wird. Auch ist dahin gestellt, wie die neuen NATO-Anwärter der zweiten Runde darauf reagieren, wenn sozusagen der Fuchs plötzlich im Hühnerstall ein Mitspracherecht erhält und in wichtigen Fragen auch Mitentscheiden darf. Ebenso würde eine volle Mitgliedschaft Russlands Fragen nach dem Selbstverständnis der Bündnismitglieder als Gemeinschaft demokratischer Staaten aufwerfen. Nach dem 11. September aber scheint vieles möglich zu sein. Am Freitag dieser Woche wird der russische Außenminister Ivanow im dann noch alten "permanenten NATO-Russlandrat" empfangen.
Olivier Minkwitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main (HSFK).