NGOs vor der Küste Libyens: "Alle Anschuldigungen gegen die Retter sind heiße Luft"
Nach der Beschlagnahme des Schiffes Open Arms der NGO Proactiva in Sizilien erheben die Organisationen schwere Vorwürfe gegen die libysche Küstenwache und europäische Regierungen
Es kommen weitaus weniger Migranten aus Libyen nach Italien. 6.161 Ankünfte in Italien von 1.Januar bis 18.März dieses Jahres meldet die Internationale Organisation für Migration (IOM). Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr zählte man im selben Zeitraum 16.238 Ankünfte in Italien.
Der Unterschied zwischen 16.000 und 6.000 ist beträchtlich; demgegenüber nimmt sich der Unterschied bei den gezählten Toten nicht so deutlich aus. Im Vorjahr wurden in den ersten elf Wochen 498 Toten auf der sogenannten Zentralen Mittelmeerroute registriert, im laufenden Jahr 358.
Über 6.000 in Italien ankommende Migranten - noch bevor die für Überfahrten bessere Saison begonnen hat - sind aber auch nicht wirklich wenige Asylsuchende, um die sich das Land in Zeiten kümmern muss, in denen von anderen EU-Mitgliedsländer Beistand kaum oder gar nicht bei der Aufnahme, sondern bei der Abschottung gegen neuhinzukommende Migranten erwartet werden kann.
Italien hat längst für den Abschottungskurs Initiativen ergriffen: Die libysche Küstenwache wurde verstärkt und unterstützt, es gab neue Boote, bessere Ausstattung und vor allem wurde die Einrichtung einer "Search & Rescue-Zone" nachhaltig unterstützt, die, internationalen Regelungen und dem Seerecht zum Trotz, einseitig als Hoheitsgebiet deklariert wird, für das NGO-Rettungsschiffe eine Erlaubnis brauchen, um es zu befahren.
Einschüchterndes Vorgehen der Küstenwache
Richtig offiziell ist das nicht, entsprechend sind auch die Angaben, dass die S&R-Zone bis etwa 70 Kilometer von der libyschen Küste aus reicht, "unsicheres Terrain". In Wirklichkeit hängt sie wohl vom Ermessen der libyschen Küstenwache ab. Diese hat den Ruf, dass sie sehr ruppig, manchmal mit harten, kriegerischen Drohungen, und sogar auch schon mit Warnschüssen die Machtverhältnisse in den Gewässern vor der Küste klarmacht. In jedem Fall agiert sie einschüchternd.
Die meisten NGOs ließen - nachdem die libysche Küstenwache ein Einverständnis für das Eindringen in das stark ausgeweitete Hoheitsgebiet verlangte und mit kräftiger Unterstützung Italiens ein Verhaltenskodex gefordert wurde, der für sie unakzeptabel war - von ihrer Mission vor der Küste Libyens ab.
Wenige blieben, zum Beispiel die spanische NGO Proactiva. Deren Schiff Open Arms geriet vor ein paar Tagen in eine Auseinandersetzung mit der libyschen Küstenwache darüber, wer befugt ist, Migranten, die in Seenot geraten sind, aufzunehmen und zu einem "sicheren Hafen" zu bringen.
Wo ist der nächste sichere Hafen?
Die libysche Küstenwache bringt gerettete Migranten zurück nach Libyen. Seit Anfang 2017 waren das nach Informationen der eingangs erwähnten IOM 24.189, seit Anfang Januar 2018 sind es 3.399. Das Problem ist, dass die Migranten in Lager gebracht werden, die Haftanstalten sind, mit, wie häufig und von verschiedenen Stellen berichtet wurde, unmenschlichen Bedingungen; mit Fällen von Folter, Vergewaltigungen, Erpressung, sexueller Ausbeutung, Prostitution, miserabler sanitärer Bedingungen, schlechter Ernährung etc..
Der nächste Höllenkreis besteht darin, dass sowohl die Küstenwache wie auch die Aufsicht der Internierungslager für illegale Migranten sich häufig aus dem Personal von Milizen rekrutieren, die im gesetzlosen Libyen einerseits sehr viel Gestaltungs- bzw. Freiraum haben und anderseits gute Beziehungen zu staatlichen oder offiziellen Akteuren, so dass sie von mehreren Seiten möglichst gut abschöpfen können.
Die NGOs halten sich daher an die Vorgabe des Seerechts und bringen die in Seenot geratenen Migranten in den nächstgelegenen sicheren Hafen, meist nach Italien. Das hat sie Verdächtigungen ausgesetzt, wonach sie über Kontakte von gut vernetzten Schleppern in einem Geschäftsmodell einkalkuliert wurde, das bis letztes Jahr Juni gut funktionierte. Dann funktionierte die nächste "Abwehrstufe" Italiens.
Dessen Vertreter hatten nach Angaben unterschiedlicher Quellen Verhandlungen mit Bürgermeistern, die guten Kontakt zu Milizen hatten, oder durch direkten Kontakt mit den Milzen selbst - was Italien dementiert - das Geschäftsmodell verändert: Die Milizen passten nun darauf auf, dass zumindest in bestimmten Küstenabschnitten möglichst keine Boote mit Migranten mehr ablegen.
Konflikt zwischen Open Arms und der libyschen Küstenwache
Das traf aber nicht auf die insgesamt weit über 200 Migranten zu, die am 15.März angeblich drei Meilen außerhalb der 70-Seemeilen-Zone in Seenot waren und von dem NGO Proactiva-Schff Open Arms aufgenommen wurden. Laut der Angaben der Besatzung des Schiffes wurden sie von der Seenotleitstelle in Rom (Italian Maritime Rescue Coordination Center (IMRCC) dorthin geführt. Allerdings hatte laut IMRCC die libysche Küstenwache das Kommando über die Operation. Die Crew der Open Arms solle ihr eigenes Urteil fällen ("use their judgment").
Die Open Arms war zuerst da, das Patrouillenboot der libyschen Küstenwache kam später, es gab Streit, in dessen Verlauf die Crew des NGO-Schiffes harte Drohungen zu hören bekam, sollte sie nicht die Migranten übergeben ("We will kill you").
Das NGO-Schiff führ dann schließlich mit über 200 Migranten in den sizilianischen Hafen Pozallo, wo das Schiff beschlagnahmt wurde, weil der Staatsanwalt Carmelo Zuccaro - der schon zuvor Verdachtsmomente gegen NGO-Aktivitäten im Mittelmeer geltend gemacht hatte, aber keine Beweise fand - der NGO Mithilfe beim Schleusergeschäft vorwirft.
NGOs warnen vor einer Kriminalisierung ihrer Tätigkeit
Der deutsche Mitbegründer der Mission Life Line, Axel Steier, der Erfahrungen mit der libyschen Küstenwache gemacht hat, zeigt sich bestürzt über das Vorgehen:
Nachdem die sogenannte Libysche Küstenwache in internationalen Gewässern die Besatzung des Rettungsschiffs mit Waffen bedrohte und die Herausgabe von Schiffbrüchigen verlangte, um diese zurück nach Libyen zu bringen, ist mit der Beschlagnahme eine neue Stufe des Rechtsbruchs erreicht. Die NGOs handeln auf Grundlage geltenden internationalen Rechts. Alle Anschuldigungen gegen die Retter sind heiße Luft.
Axel Steier
Die NGO Ärzte ohne Grenzen ergänzte dies heute mit der Warnung, dass sich ein Trend abzeichne, wonach Italien und andere europäische Regierungen aktiv eine Kriminalisierung der NGOs und eine Blockadepolitik gegen deren Rettungsarbeit auf der zentralen Mittelmeerroute betreiben.
Die deutsche Regierung ist aktive Unterstützerin eines viele Millionen Euro teuren Programms zur Verbesserung der libyschen Verhältnisse, wozu ganz besonders die Migrationsaktivitäten und die Überwachung der Küsten gehören.
Wichtiger Teil dieser Unterstützung ist die Ausbildung- und Schulung der libyschen Küstenwache, das auch, zumindest wird das in offiziellen Stellungnahmen herausgestellt, die Beherzigung von Menschenrechten mit einschließt. Man darf gespannt sein, zu welchen Verbesserungen die Ausbildung führt.