NSA offiziell zum Big Brother gekürt
Neben Carnivore, der Stadt Tampa in Florida und der Firma ChoicePoint wurde die National Security Agency in den USA mit dem Big Brother Award ausgezeichnet
Immer mehr Firmen und Regierungen missachten die Privatsphäre der Nutzer und legen mit Hilfe der Computertechnik riesige Datenbanken über ihre Lebensgewohnheiten an. Die Organisation Privacy International outet daher seit 1998 die größten Datenschutzsünder. In den USA, wo der Big Brother Award am Mittwochabend zum dritten Mal verliehen wurde, fiel der Expertenjury dieses Jahr die Wahl nicht schwer: die meisten Geehrten hatten in der Presse bereits kräftig für Schlagzeilen gesorgt. Aber mit Evan Hendricks, der seit 20 Jahren die Postille Privacy Times herausgibt, und Julie Brill von der Vermonter Justizbehörde wurden auch eifrige Datenschützer ausgezeichnet.
Fast wäre das diesjährige Stelldichein der Cryptofreaks, Datenschützer und Bürgerrechtler in den USA, die "Computer Freedom and Privacy"-Konferenz (CFP) im Schneetreiben in Cambridge, Massachusetts, untergegangen. Doch nach mehrfachen Programmverschiebungen startete die Sause dann am Mittwoch. Ein erster Höhepunkt des Treffens war die Verleihung der amerikanischen Big Brother Awards am Abend, bei der dieses Jahr vor allem Regierungsstellen "punkten" konnten: Das FBI darf sich seit gestern genauso mit der "Auszeichnung" schmücken wie die National Security Agency (NSA) und die Stadt Tampa in Florida.
Vergeben werden die Preise, die im Herbst auch erstmals an deutsche Unternehmen und Regierungsvertreter gingen (Big-Brother-Preis in Deutschland), von der Organisation Privacy International. Sie wurde Mitte der Neunziger von über 100 Menschenrechtsorganisationen und Datenschutzexperten gegründet, um gegen das ungezügelte Datensammeln von Firmen und Regierungen mit Hilfe der Computertechnik zu protestieren.
Der Supergeheimdienst NSA, der erst am Dienstag erneut den Echelon-Ausschuss des Europäischen Parlaments beschäftigt hatte und dort des Lauschangriffs auf die europäische Wirtschaft geziehen wurde, erhielt die goldene Statue mit dem getretenen Bürger in der Kategorie "Lebenslange Bedrohung". Die Jury, die sich mit Namen wie David Banisar vom Electronic Privacy Information Center (EPIC), Jason Catlett von Junkbusters), dem Geheimdienstexperten Wayne Madsen oder dem Privacy-Wächter Richard Smith wie ein Who's Who der amerikanischen Bürgerrechtsszene liest, befand den Auslandsgeheimdienst der USA wegen "50 Jahre Spionage" als preiswürdig.
Tatsächlich kommt die NSA, die mit rund 70.000 Beschäftigten einem Staat im Staate gleicht und höchstens ihr Museum ausgewählten Besuchern öffnet, der Orwellschen Vorstellung von Big Brother am nächsten. Mit dem aus dem Kalten Kriege stammenden Lauschsystem Echelon (Inside Echelon), von dessen Existenz der Untersuchungsausschuss des Europaparlaments inzwischen ausgeht, hört die NSA in Kooperation mit britischen, australischen, kanadischen und neuseeländischen Geheimdiensten die weltweite Satellitenkommunikation ab. Es ist Teil eines globalen Überwachungssystems, das bereits über 50 Jahre alt ist. In Verknüpfung unterschiedlichster Abhörstationen werden dabei auch Nachrichten aus dem Internet, von Unterseekabeln und Funkübermittlungen angezapft. Die Jury vergaß außerdem nicht zu erwähnen, dass die NSA Anfang der Neunziger mit der Einführung des so genannten Clipper-Chips versuchte, eine Hintertür zur gesamten Email-Kommunikation der Nutzer in Rechner einbauen zu lassen.
Das FBI erhielt den Award für das umstrittene Abhörsystem Carnivore (Carnivore im FBI-Test). Die Verleiher missachteten geflissentlich die Umbenennung des Lausch- und Filterwerkszeugs in das neutraler klingende Akronym DCS1000 ("Data Collection System"). Sonst hätte auch der Zeremonie ein Gag gefehlt: Da sich die mit dem Big Brother Award Geehrten in der Regel nicht auf die Bühne trauen, holte ein als überdimensionierter Hund verkleideter Darsteller die Statue ab.
Das Publikum johlte bei der Anspielung auf den "Fleischfresser". Das FBI versuchte mit der Namensgebung eigentlich die Genauigkeit des Schnüffelsystems zu untermalen: Die Bundespolizei bewirbt Carnivore als "maßgeschneidertes" Abhörprogramm. Bürgerrechtsgruppen und Parlamentarier warnen dagegen davor, dass mit dem "Fleischfresser" eine Black Box mit immensen Missbrauchsmöglichkeiten bei Providern installiert wird. Entgangen scheint der Jury allerdings zu sein, dass Carnivore nach Angaben des FBI zumindest bereits in zwei Dutzend Fällen bei Internet-Providern im Einsatz war: Das System gewann den Preis in der Kategorie für eine "vorgeschlagene" Verletzung der Privatsphäre.
Verbrecherjagd beim Stadionbesuch
Als "schlimmste öffentliche Stelle" wurde die Stadtverwaltung von Tampa in Florida ausgezeichnet. Sie war Anfang Februar in die Schlagzeilen der US-Presse geraten, da die lokale Polizei die Besucher eines Football-Spiels der Oberliga mit Überwachungskameras filmte und dann die Konterfeis Zehntausender Fans mit einer Verbrecherdatenbank abglich.
Rechtsexperten und die American Civil Liberties Union (ACLU) verurteilten die dreiste Maßnahme als klaren Verstoß gegen die Privatsphäre der Superbowl-Besucher. Sie äußerten sich besorgt darüber, dass die Polizei ohne das Wissen der Bürger dank neuer Gesichtserkennungs-Software und ubiquitären Videokameras einen bedenklichen Vorstoß in Richtung Überwachungsstaat startete. Weit entfernt sind solche Praktiken jedenfalls nicht mehr von den Horrorvisionen von Datenschützern, die eine automatische Ahndung kleinster Gesetzesverstöße wie das Überqueren einer roten Ampel als Fußgänger durch die Kombination von Videoüberwachung und Computertechnik prophezeien.
Die amerikanische Firma, die nach dem Urteil der Jury im vergangenen Jahr den Datenschutz am stärksten mit Füßen getreten hat, ist Choice Point. Das Unternehmen, das in Atlanta beheimatet ist und rund 4000 Mitarbeiter in der ganzen Welt beschäftigt, ist im Bereich Datensammeln und Datenschürfen (Data-Mining) tätig. Auf der Kundenliste stehen Fortune-1000-Firmen genauso wie Regierungsstellen. Vor der Präsidentschaftswahl 2000 ließ sich auch George W. Bush von ChoicePoint beraten. Den Preis erhielt die Firma für den "massiven Verkauf von Datenbeständen - akkurat oder gefälscht - an Cops, Direktvermarkter und Wahlleiter". Stellvertretend für Abgesandte aus Georgia nahm ein Bush-Verschnitt den Award in Empfang.
DoubleClicks Wandel vom Saulus zum Paulus gelingt nicht ganz
Am meisten Spaß hatten die Konferenzteilnehmer aber, als Vertreter von DoubleClick mit einem Jahr Verspätung dann doch noch auf die Bühne geschleift wurden. Die Online-Marketingfirma hatte die Auszeichnung 2000 erhalten, nachdem bekannt geworden war, dass sie ihre Surferprofile mit den personalisierten Datenbankeintragungen des von ihr geschluckten Katalogversandhandels Abacus abgleichen wollte (Datensammler und Kundenjäger). Nach einem Sturm der Entrüstung wandelte sich DoubleClick in einem PR-Stunt vom Saulus zum Paulus, beendete die Aktion und stellte einen Konzerndatenschutzbeauftragten (Chief Privacy Officer) ein. Als weiteren Beweis für die neu entdeckte Liebe zur Unverletzlichkeit der Privatsphäre der Netzbürger übernahm die Firma nun auch das Sponsoring für die CFP-Konferenz. Doch der Schuss geht nach hinten los, da die versammelten Freaks nur umso mehr über die Cookie-Sammler lästern.
Die Konferenz läuft noch bis Freitagmittag. DoubleClick wird dabei weiterhin Gesprächsthema bleiben, da in einer Diskussionsrunde auch die Modeerscheinung der Chief Privacy Officers kritisch hinterfragt werden soll. Erneut beschäftigen werden sich die Privacy-Freunde auch mit Carnivore und dem Superbowl-Desaster. Auseinandersetzungen versprechen auch die Debatten um umstrittene internationale Verträge wie den Entwurf für eine Konvention des Europarats gegen Cyberkriminalität (Nur kosmetische Korrekturen beim Cybercrime-Abkommen) oder die Den-Haager-Konvention rund ums E-Business.