NSU-Prozess: Ankläger verteidigen ihre tendenziöse Anklage

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Vor dem Oberlandesgericht in München hat die Bundesanwaltschaft mit ihrem Plädoyer begonnen

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"Hoher Senat!" - Kurz nach 12 Uhr am 375. Sitzungstag begann die Anklagebenhörde mit dieser Formel vor vollbesetzter Tribüne ihr Plädoyer gegen die Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze. Damit ist die seit über vier Jahren laufende Hauptverhandlung wegen der zehn NSU-Morde nun tatsächlich in ihre Schlussphase getreten. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft (BAW) sei ihre Anklage, erhoben im November 2012, bei "allen fünf Angeklagten in allen wesentlichen Punkten bestätigt" worden.

Das war nicht anders zu erwarten. Auch nach fast fünf Jahren Aufarbeitung im ganzen Land, nach immer neuen Enthüllungen wie Vertuschungen in dieser Skandalaffäre bleibt sich die oberste Ermittlungsbehörde treu. Ihrer tendenziösen Anklageschrift, mit der dieser Mammutprozess begann, lässt sie nun ihren nicht weniger tendenziösen Schlussvortrag folgen. Tag eins ihres auf mehrere Tage angelegten Plädoyers.

Die eigene Beweisführung der Strafverfolger aus Karlsruhe war am ersten Plädoyertag eher dünn. Dafür war ihr politisches Statement umso deftiger, mit dem sie bemerkenswerterweise ihren Part einleitete. Bundesanwalt Herbert Diemer, der die BAW-Delegation vor dem Gericht in München anführt, setzte sich zunächst kritisch mit Politik und Medien auseinander.

Deren Erwartungen habe der Prozess nicht erfüllen können, weil ihm strafprozessuale Grenzen gesetzt seien. Hier gelte es, Gerüchte von Fakten zu trennen. Beispielsweise wenn kolportiert wurde, "irgendwelche Hintergründe" der Taten oder "irgendwelche Unterstützerkreise" der Täter seien nicht geklärt. Es habe im Ermittlungsverfahren auch keine Anhaltspunkte für eine Verstrickung staatlicher Behörden in die NSU-Verbrechen gegeben, so Diemer.

Eine schwer zu überprüfende Aussage einer Behörde, die allein im Besitz sämtlicher Ermittlungsunterlagen ist.

Im Übrigen stünden weitere Ermittlungen aus, so Diemer, die aber nicht Gegenstand dieses Prozesses seien. Der Gegenstand des laufenden Prozesses definiere sich einzig durch die zur Anklage gebrachten fünf Personen. Etwas anderes zu behaupten, verunsichere die Opfer und die Bevölkerung.

"Experten, wie Irrlichter, wie Fliegengesurre!"

Was der Ankläger als scheinbar objektiv und unabänderlich hinstellt, ist jedoch die Entscheidung seiner Behörde gewesen. Sie ist für die Auswahl - nur - dieser fünf Angeklagten verantwortlich, ganz subjektiv. Gegen neun weitere Verdächtige ermittelt sie bisher lediglich.

Die Mörder seien Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos "und niemand anderes", beharrte Diemer, Beate Zschäpe sei Mittäterin, unterstützt worden sei der NSU von den Angeklagten "hier im Saal". Warum die Menschen sterben mussten, sei aufgeklärt, ebenso die Sprengstoffanschläge in Köln. Der Anschlag auf die zwei Polizeibeamten in Heilbronn sei ein Angriff auf "unseren Staat" gewesen. Die Opfer seien "willkürlich" ausgesucht worden und das Motiv sei nicht in ihrer Persönlichkeit oder irgendeiner Vorgeschichte begründet. Namentlich nannte er die erschossene Polizistin Michèle Kiesewetter.

Ganz offensichtlich reagierte der Bundesanwalt auf die anhaltende Kritik an der Arbeit der Bundesanwaltschaft. Sein Prolog gipfelte in einer Art Abrechnung. Vor allem im Fall Kiesewetter, bei dem die Hauptverhandlung ein "eindeutiges Ergebnis" erbracht habe, gebe es "haltlose Spekulationen selbsterklärter Experten", so Herbert Diemer wörtlich - und ergänzte: "Experten, wie Irrlichter, wie Fliegengesurre!"

Konkret wurde er nicht. Und so bleibt es der Phantasie des Beobachters überlassen, wen er denn mit dieser Rhetorik meinte: Die SoKo Parkplatz des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg, die auf mindestens vier bis sechs Täter in Heilbronn gekommen war? Das Bundeskriminalamt, das bis heute keine Klarheit über die Anzahl der beteiligten Personen hat und keinen Nachweis erbringen konnte, dass Böhnhardt und Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren?

Den schwerverletzten Kollegen von Kiesewetter, der im Prozess erklärte, ihm fehle nach wie vor das Motiv? Die Mitglieder des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, die einheitlich der Meinung sind, die Zwei-Täter-Theorie sei nicht haltbar? Anwälte der Nebenklage, die die BAW kritisieren - oder etwa nur ein paar unbedeutende Journalisten?

Wie wenig überzeugt muss jemand von seiner eigenen Theorie sein, der in dieser Art auf begründete Einwände eindrischt. Es ist vor allem eine Demonstration: diese Bundesanwaltschaft in diesem Sicherheitsapparat wird nicht von ihrer Linie abweichen und sei sie noch so widerlegt. Der Machtkampf um Aufklärung oder Verschleierung hält unvermindert an. Was streckenweise diesen Prozess prägte, dringt nun in der Schlussrunde wieder nach oben.

Flexible Bundesanwaltschaft

Wie flexibel die Bundesanwaltschaft reagieren kann, zeigte sich beim folgenden Sachvortrag durch die BAW-Vertreterin Annette Greger, die zunächst Zschäpes Werdegang in der rechten Szene Jenas und dann, nach dem Untertauchen des Trios, die Gründung des NSU im rechtsextremen Umfeld in Chemnitz referierte. Viele Monate hatte das Gericht, den Initiativen der Nebenklage folgend, das sächsische Umfeld um die Organisation Blood and Honour ausgeleuchtet und tatsächlich erstaunliche Vernetzungen offengelegt. Die BAW hatte dagegen angekämpft und zahlreichen Beweisanträgen widersprochen.

Jetzt nimmt sie die Ergebnisse und baut sie in ihre ausschließliche Uwe-Uwe-Theorie ein. Sie modernisiert ihre Theorie sozusagen und greift dabei auch auf Aussagen sowohl von Hardcore-Neonazis als auch von V-Leuten in der Szene zurück. Bemerkenswerte Kronzeugen, die sich die Bundesanwaltschaft zurechtbastelt und wahlweise als "glaubhaft" bezeichnet. Allerdings ohne die Schlussfolgerung in Betracht zu ziehen, dass Nachrichtendienste in den Komplex verstrickt sein könnten. Mit dieser Methode ist fast alles in die eigene Theorie integrierbar.

Die Bundesanwaltschaft (BAW) räumt sogar ein, dass es - eben nach Aussage eines dieser V-Männer - einen ersten Raubüberfall im Jahre 1998 gegeben haben kann, von dem sie selbst bisher nichts wusste, und der in der Hauptverhandlung nicht aufgeklärt werden konnte. Und auch, warum die Anschlagserie 2007 endete, kann die oberste Staatsanwaltschaft der Bundesrepublik, wie Greger gestand, nicht beantworten.

Gleichwertiges Tätermitglied

Die Ankläger reduzieren den NSU auf das Trio - aber sie sehen in Beate Zschäpe neben den toten Männern ein gleichwertiges Tätermitglied. Sie habe alle Entscheidungen mit getroffen, die Männer abgesichert und das "System NSU" abgetarnt. Zschäpe sei der entscheidende "Stabilitätsfaktor" gewesen, ohne sie wären die Taten nicht gelungen.

Insgesamt nahm das Plädoyer an Tag eins etwa zwei Stunden in Anspruch, unterbrochen wurde es durch mehrere Pausen. Bereits nach einer Viertelstunde machte ein Verteidiger Zschäpes geltend, sie könne nicht folgen, der Vortrag sei zu geschwind. Am Nachmittag reklamierte ein Verteidiger ähnliches für Ralf Wohlleben. Daraufhin wurde der Angeklagte vom Gerichtsarzt untersucht. Man einigte sich auf Vortragsblöcke von je 45 Minuten mit anschließender Pause von je 15 Minuten.

Vier Tage bleiben der Bundesanwaltschaft vor der Sommerpause für ihr Plädoyer noch. 22 Stunden will sie insgesamt reden. Der Beginn des Plädoyers war vor einer Woche unerwartet angesetzt worden, hatte sich aber um eine Woche verschoben, weil die Verteidigung der Angeklagten Zschäpe und Wohlleben verlangte, einen Tonmitschnitt anfertigen zu lassen oder eine Kopie des Ankläger-Plädoyers ausgehändigt zu bekommen. Beides lehnte der Senat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl ab. Auf angekündigte Befangenheitsanträge verzichtete die Verteidigung daraufhin aber.

Ein Tonmitschnitt wäre zwar kein absolutes Novum, kommt aber in deutschen Gerichtssälen so gut wie nicht vor. Mit Jahren Verspätung wurde bekannt, dass im RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim vom Gericht heimlich Tonmitschnitte gefertigt wurden, die heute öffentlich sind. In Deutschland ist die Diskussion um Video- oder Audiomitschnitte von Prozessen oder gar -Übertragungen aufgrund der NS-Zeit mit ihren Schauprozessen unterentwickelt.

Möglich gemacht werden soll zunächst die Übertragung von Urteilsbegründungen oberer Gerichte. Die Aussicht gar einer Live-Übertragung der Plädoyers im NSU-Prozess hätte durchaus seinen Reiz - und seinen politischen Wert. Man könnte nicht nur die Argumentation der Bundesanwaltschaft im Original verfolgen, sondern auch die Entgegnungen der kritischen Opferanwälte. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Gericht von einem Tonmitschnitt die Finger ließ und darauf verzichtete, Justizgeschichte zu schreiben.

Fortgesetzt wird das Plädoyer der Bundesanwaltschaft diesen Mittwoch und Donnerstag.