NSU-Prozess: Opferanwältin nimmt Bundesanwaltschaft auseinander

Seite 2: Herkunft der Betreiber nicht auf den ersten Blick erkennbar

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Plausibler werden die Taten in Nürnberg, so die Plädierende, wenn man von dritten Helfern ausgehe. Der ersten Anschlag mit der Sprengfalle in einer Taschenlampe im Juni 1999 wurde auf eine Gaststätte verübt, die von einem Türken betrieben wurde. Das war für Außenstehende aber nicht sofort zu erkennen. Auf dem Schild außen stand "Pilsstube Sonnenschein".

Dieselbe Frage stellt sich beim Sprengstoffanschlag in der Probsteigasse in Köln vom Januar 2001 bzw. Dezember 2000, als die Sprengfalle in dem Laden abgestellt wurde. Das Lebensmittelgeschäft wurde von einer iranischen Familie betrieben, auf dem Ladenschild stand aber "Lebensmittel Getränkeshop Gerd Simon".

Der Anschlag auf die "Pilsstube Sonnenschein" in Nürnberg, bei dem ein Mensch verletzt wurde, soll laut dem Angeklagten Carsten Schultze von Böhnhardt und Mundlos verübt worden sein. Basay-Yildiz geht davon aus, dass die zwei aber einen "Tipp" auf die Lokalität bekommen haben.

Ähnlich sieht es die Rechtsanwältin beim "Tatort Özüdogru". Das Opfer betrieb eine Änderungsschneiderei, die in einem Wohngebiet mit wenig Ladenlokalen lag. Wer konnte das wissen? Wie kommt man darauf?

Jürgen F.

Atemberaubend ist, was Seda Basay-Yildiz dann im Zusammenhang mit dem Mord an Ismail Yasar vortrug, Sachverhalte, auf die sie erst kürzlich gestoßen ist. Yasar hatte wenige Monate vor seinem Tod eine Auseinandersetzung mit einem gewissen Jürgen F. Der hatte Yasars Imbiss beschädigt und wurde zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt.

Der Name "Jürgen F." taucht nun im Zusammenhang mit einer Skinheadveranstaltung im Februar 1995 in der "Tiroler Höhe", einem NPD- und Neonazi-Lokal, auf. Und bei dieser Veranstaltung waren auch die Angeklagten Ralf Wohlleben und Holger Gerlach, Stefan A., der Cousin von Zschäpe, sowie Uwe Mundlos anwesend.

Das heißt: Vom späteren Mordopfer Yasar gibt es eine Personenkenn-Kette über einen Nürnberger Neonazi bis zu Mundlos. Auch Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft wissen davon, sind dem aber nicht nachgegangen.

Gegen die These, dass das Trio Helfer oder Tippgeber hatte, so Seda Basay-Yildiz zum Schluss ihrer Ausführungen, spreche nur, dass die Bundesanwaltschaft keine finden konnte. Und wörtlich fügte sie an: "Es darf nicht zu Ende gehen. Es muss weiter ermittelt werden."

Gegenüber Journalisten sagte sie hinterher, das sei auch als Appell gedacht gewesen. Sie hoffe, dass das Gericht dem noch nachgeht. Das würde den Wiedereinstieg in die Beweisaufnahme bedeuten.

Dass die unhaltbare wie fragile Drei-Täter-Theorie der Bundesanwaltschaft noch nicht zum Einsturz gekommen ist, hat keine kriminalistischen Gründe, sondern politische. Ein großer Teil von Politik und Medien akzeptiert sie, weil sonst die oberste Ermittlungsinstanz der Bundesrepublik fundamental in Frage gestellt wäre und dem Sicherheitsapparat der Kollaps drohte.

Rede des Sohnes von Enver Simsek

Nach seiner Anwältin trat Abdul Kerim, der Sohn von Enver Simsek, ans Mikrofon im Sitzungssaal und schilderte, wie er den Tod seines Vater erlebte. Er war damals 13 Jahre alt. Der Anblick seines sterbenden Vaters sei schrecklich gewesen. Das linke Auge zerfetzt, drei blutverschmierte Löcher im Gesicht sowie in der Brust. Er habe automatisch die Löcher gezählt, sechs Stück, das werde er nie vergessen.

Dann piepten die Maschinen und die Krankenschwestern drängten sie aus dem Raum. Da habe er seinen Vater zum letzten Mal lebend gesehen. Er wollte nicht weg, wollte seinen Vater beschützen. Er hatte Angst, die Täter kommen noch einmal, um die Tat zuende zu bringen. Sein Vater starb am nächsten Tag.

Sie brachten den Leichnam in die Türkei. Als Sohn sei es seine Pflicht gewesen, ihn zu Grabe zu tragen. Sie beerdigen ihre Toten nur in Tücher gehüllt. Das Leinentuch hatte sich am Hinterkopf seines Vaters rot gefärbt. Bis dahin hatte er nicht geweint. Aber als er Erde auf ihn schüttete, musste er. Er wusste, er wird ihn nie wiedersehen.

Seine Mutter sei zusammengebrochen und bekam schwere Depressionen. Sein Vater sei ein geselliger Mensch gewesen. Mit seinem Tod hört das gesellschaftliche Leben der Familie auf. Er, Abdul Kerim, habe seine Gefühle nie gezeigt. Das falle ihm auch heute schwer, vor allem da seine Mutter da sei.

Bis zur Aufdeckung des NSU habe er niemandem erzählt, dass sein Vater ermordet wurde. Es klinge absurd, aber er sei erleichtert gewesen, als herauskam, dass sein Vater von Nazis umgebracht wurde und unschuldig war. Er ist selber Vater einer zweijährigen Tochter. Auch ihr wurde der Opa genommen.

Er hätte viele Fragen an die Angeklagten, so Abdul Kerim Simsek am Ende. Warum sein Vater? Warum wurde er mit acht Schüssen getötet? Was hat er ihnen getan? Dann wandte er sich direkt an den Angeklagten Carsten Schultze, der einzige, der sich für die Tat bei ihnen entschuldigt habe: "Herr Schultze, ich nehme Ihre Entschuldigung an." Für die anderen Angeklagten möchte er, dass sie schwer bestraft werden.

Der Auftritt ist Abdul Kerim Simsek nicht leicht gefallen, wie er hinterher, emotional sichtlich mitgenommen, gegenüber Journalisten erklärte. Auf Fragen sagte er, sie wollten Aufklärung und dazu sei hundertprozentige Transparenz nötig, alle Akten müssten freigegeben werden, insbesondere die des Verfassungsschutzes. Es seien immer noch Leute auf freiem Fuß, die am Tod seines Vater mitschuldig seien.

Es war der 17. Tag der Plädoyers der Nebenklage. Demnächst werden sie zu Ende gehen. Danach plädiert die Verteidigung.