NSU-Prozess: Opferanwältin nimmt Bundesanwaltschaft auseinander

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Seda Basay-Yildiz widerlegt die Drei-Täter-Theorie der Anklagebehörde und weist nach, dass die Mörder lokale Unterstützer gehabt haben müssen

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Nach den "unterlassenen Ermittlungen" durch die Polizei im Fall Enver Simsek, der das erste von zehn Mordopfern der NSU-Serie wurde, widmete sich die Anwältin der Familie Simsek im zweiten Teil ihres Plädoyers den "unterlassenen Ermittlungen" durch die Bundesanwaltschaft (BAW) nach der Aufdeckung des NSU-Trios im November 2011. Es war eine fundierte Abrechnung mit der BAW-Theorie der isolierten Dreier-Zelle Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Seda Basay-Yildiz trug dabei auch Sachverhalte vor, die zwingend weitere Ermittlungen nötig machen.

Der Mord vom 9. September 2000 in Nürnberg wurde zunächst elf Jahre lang nicht aufgeklärt. Bis heute ist unbeantwortet, warum Enver Simsek getötet wurde.

Die Nebenklageanwältin nahm sich zunächst vor, was die Angeklagte Beate Zschäpe, die mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zusammenlebte, bei ihrer Einlassung im Dezember 2015 vor Gericht angab. Sie habe erst im Dezember 2000 von dem Mord erfahren, sei geschockt gewesen und ausgeflippt. Sie habe aber von Böhnhardt und Mundlos keine klare Antwort erhalten, warum sie das getan haben.

"Wahre Motive"

Sie hätten Perspektivlosigkeit und Frustration als Grund genannt. Mit keinem Wort hätten sie erklärt, dass der Mord politisch motiviert gewesen sei oder dass Enver Simsek sterben musste, weil er Ausländer war. Bis zum heutigen Tage wisse sie die wahren Motive nicht. So Zitat Zschäpe.

Dazu die Opferanwältin: "Es ist eine Geschmacklosigkeit, was die Angeklagte von sich gibt. Sie kenne die wahren Motive nicht? Eine Zumutung." Und dann wandte sich Seda Basay-Yildiz direkt an Beate Zschäpe mit den Worten: "Ich frage Sie: Warum wurde Enver Simsek getötet?"

Aber die Anwältin hat noch mehr Fragen: Warum drei Morde in Nürnberg? Wie kommt man überhaupt zu der Straße, wo Simsek seinen Blumenstand hatte, im südlichen Randgebiet von Nürnberg?

Zwei entgegengesetzte Thesen zur Auswahl der Tatorte

Was dann folgte, war die argumentative Zerstörung der Darlegungen der Bundesanwaltschaft. Es gibt zwei entgegengesetzte Thesen zur Auswahl der Tatorte, so Basay-Yildiz: Die von Nebenklägern, vor Ort müsse es Unterstützer oder mindestens Tippgeber gegeben haben. Und dagegen die der Bundesanwaltschaft, die zwei Männer Böhnhardt und Mundlos hätten nicht nur alle Taten allein begangen, sondern auch alle Tatorte allein ausgekundschaftet. Nach der Theorie der Ankläger soll nicht einmal Zschäpe bei den Ausspähungen dabei gewesen sein.

Nimmt man die Theorie der BAW ernst, muss jeder Tatort mindesten zwei Mal aufgesucht worden sein: einmal zum Auskundschaften, das zweite Mal zur Tatbegehung. In Nürnberg gibt es vier NSU-Tatorte: Den Anschlag mit einer Taschenlampenbombe in der Gaststätte "Sonnenschein" am 23. Juni 1999, den Mord an Enver Simsek im September 2000, den Mord an Abdurrahim Özüdogru am 13. Juni 2001 und den Mord an Ismail Yasar am 9. Juni 2005.

Daneben gibt es mehrere Ausspähnotizen über weitere Lokalitäten und mögliche Anschlagsziele in Nürnberg mit teils detaillierten Beschreibungen und Analysen. Alle tatsächlichen und möglichen Tatorte sind über Nürnberg verteilt, einzig der zu Enver Simsek steche hervor, weil er relativ weit von der Stadt entfernt liegt, so Basay-Yildiz. Es geben keine Erklärung dafür, wie man auf diese Tatorte kommt, wenn man zufällig durch Nürnberg streife und Opfer suche.

Ausspähnotizen

Die Ausspähnotizen betreffen Asylheime, eine Kneipe, ein DKP-Büro oder eine Tankstelle. Sie wurden zwar in der Habe des Trios gefunden, sind aber zum Teil so genau, dass sie auf Insiderkenntnissen beruhen müssen und auf längere Beobachtungen. Wenn festgehalten wurde, "der Türke geht jede freie Minute in den Imbiss" neben der Tankstelle, wie oft muss man dann ausspähen, um das festzustellen?, fragte Basay-Yildiz. Für sie waren das "eher" Ortskundige, die die Informationen für andere, mögliche Täter, zusammengestellt haben.

Die Anklagebehörde in Karlsruhe will "keine Belege" haben, dass es Helfer vor Ort gab. Doch wenn man in ihrer Logik davon ausgehe, dass es "keine Belege" gebe, dass das Trio im fraglichen Zeitraum Fahrten nach Nürnberg unternommen habe, müsste es folglich Helfer gegeben haben. Nach den logistischen Voraussetzungen spreche nichts dafür, dass die drei tatsächlich selber für Ausspähungen in Nürnberg waren. Sie hätten unzählige Male in Nürnberg sein müssen, um all die Ausspähungen, Tatvorbereitungen und Tatverübung zu bewerkstelligen.

Seda Basay-Yildiz weiter: Beim "Tatort Simsek" sei am 'absolut unwahrscheinlichsten', dass er ohne Helfer ausgewählt werden konnte". Enver Simsek, der im hessischen Schlüchtern wohnte, hatte seinen Blumenstand nur an ausgesuchten Tagen in Nürnberg und stets ausschließlich samstags und sonntags. Am Stand habe es aber kein Schild gegeben, auf dem das vermerkt war. Der Mord wurde an einem Samstag verübt. Ortsfremde Mörder hätten also zufälligerweise zur Auskundschaftung an einem Samstag oder Sonntag vorbei kommen und sich für den Blumenhändler als Anschlagsziel entscheiden müssen, um dann - erneut zufälligerweise - an einem Samstag den Mord zu verüben.

Die meisten NSU-Taten wurden an einem Mittwoch verübt, andere an einem Dienstag oder Donnerstag.

Herkunft der Betreiber nicht auf den ersten Blick erkennbar

Plausibler werden die Taten in Nürnberg, so die Plädierende, wenn man von dritten Helfern ausgehe. Der ersten Anschlag mit der Sprengfalle in einer Taschenlampe im Juni 1999 wurde auf eine Gaststätte verübt, die von einem Türken betrieben wurde. Das war für Außenstehende aber nicht sofort zu erkennen. Auf dem Schild außen stand "Pilsstube Sonnenschein".

Dieselbe Frage stellt sich beim Sprengstoffanschlag in der Probsteigasse in Köln vom Januar 2001 bzw. Dezember 2000, als die Sprengfalle in dem Laden abgestellt wurde. Das Lebensmittelgeschäft wurde von einer iranischen Familie betrieben, auf dem Ladenschild stand aber "Lebensmittel Getränkeshop Gerd Simon".

Der Anschlag auf die "Pilsstube Sonnenschein" in Nürnberg, bei dem ein Mensch verletzt wurde, soll laut dem Angeklagten Carsten Schultze von Böhnhardt und Mundlos verübt worden sein. Basay-Yildiz geht davon aus, dass die zwei aber einen "Tipp" auf die Lokalität bekommen haben.

Ähnlich sieht es die Rechtsanwältin beim "Tatort Özüdogru". Das Opfer betrieb eine Änderungsschneiderei, die in einem Wohngebiet mit wenig Ladenlokalen lag. Wer konnte das wissen? Wie kommt man darauf?

Jürgen F.

Atemberaubend ist, was Seda Basay-Yildiz dann im Zusammenhang mit dem Mord an Ismail Yasar vortrug, Sachverhalte, auf die sie erst kürzlich gestoßen ist. Yasar hatte wenige Monate vor seinem Tod eine Auseinandersetzung mit einem gewissen Jürgen F. Der hatte Yasars Imbiss beschädigt und wurde zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt.

Der Name "Jürgen F." taucht nun im Zusammenhang mit einer Skinheadveranstaltung im Februar 1995 in der "Tiroler Höhe", einem NPD- und Neonazi-Lokal, auf. Und bei dieser Veranstaltung waren auch die Angeklagten Ralf Wohlleben und Holger Gerlach, Stefan A., der Cousin von Zschäpe, sowie Uwe Mundlos anwesend.

Das heißt: Vom späteren Mordopfer Yasar gibt es eine Personenkenn-Kette über einen Nürnberger Neonazi bis zu Mundlos. Auch Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft wissen davon, sind dem aber nicht nachgegangen.

Gegen die These, dass das Trio Helfer oder Tippgeber hatte, so Seda Basay-Yildiz zum Schluss ihrer Ausführungen, spreche nur, dass die Bundesanwaltschaft keine finden konnte. Und wörtlich fügte sie an: "Es darf nicht zu Ende gehen. Es muss weiter ermittelt werden."

Gegenüber Journalisten sagte sie hinterher, das sei auch als Appell gedacht gewesen. Sie hoffe, dass das Gericht dem noch nachgeht. Das würde den Wiedereinstieg in die Beweisaufnahme bedeuten.

Dass die unhaltbare wie fragile Drei-Täter-Theorie der Bundesanwaltschaft noch nicht zum Einsturz gekommen ist, hat keine kriminalistischen Gründe, sondern politische. Ein großer Teil von Politik und Medien akzeptiert sie, weil sonst die oberste Ermittlungsinstanz der Bundesrepublik fundamental in Frage gestellt wäre und dem Sicherheitsapparat der Kollaps drohte.

Rede des Sohnes von Enver Simsek

Nach seiner Anwältin trat Abdul Kerim, der Sohn von Enver Simsek, ans Mikrofon im Sitzungssaal und schilderte, wie er den Tod seines Vater erlebte. Er war damals 13 Jahre alt. Der Anblick seines sterbenden Vaters sei schrecklich gewesen. Das linke Auge zerfetzt, drei blutverschmierte Löcher im Gesicht sowie in der Brust. Er habe automatisch die Löcher gezählt, sechs Stück, das werde er nie vergessen.

Dann piepten die Maschinen und die Krankenschwestern drängten sie aus dem Raum. Da habe er seinen Vater zum letzten Mal lebend gesehen. Er wollte nicht weg, wollte seinen Vater beschützen. Er hatte Angst, die Täter kommen noch einmal, um die Tat zuende zu bringen. Sein Vater starb am nächsten Tag.

Sie brachten den Leichnam in die Türkei. Als Sohn sei es seine Pflicht gewesen, ihn zu Grabe zu tragen. Sie beerdigen ihre Toten nur in Tücher gehüllt. Das Leinentuch hatte sich am Hinterkopf seines Vaters rot gefärbt. Bis dahin hatte er nicht geweint. Aber als er Erde auf ihn schüttete, musste er. Er wusste, er wird ihn nie wiedersehen.

Seine Mutter sei zusammengebrochen und bekam schwere Depressionen. Sein Vater sei ein geselliger Mensch gewesen. Mit seinem Tod hört das gesellschaftliche Leben der Familie auf. Er, Abdul Kerim, habe seine Gefühle nie gezeigt. Das falle ihm auch heute schwer, vor allem da seine Mutter da sei.

Bis zur Aufdeckung des NSU habe er niemandem erzählt, dass sein Vater ermordet wurde. Es klinge absurd, aber er sei erleichtert gewesen, als herauskam, dass sein Vater von Nazis umgebracht wurde und unschuldig war. Er ist selber Vater einer zweijährigen Tochter. Auch ihr wurde der Opa genommen.

Er hätte viele Fragen an die Angeklagten, so Abdul Kerim Simsek am Ende. Warum sein Vater? Warum wurde er mit acht Schüssen getötet? Was hat er ihnen getan? Dann wandte er sich direkt an den Angeklagten Carsten Schultze, der einzige, der sich für die Tat bei ihnen entschuldigt habe: "Herr Schultze, ich nehme Ihre Entschuldigung an." Für die anderen Angeklagten möchte er, dass sie schwer bestraft werden.

Der Auftritt ist Abdul Kerim Simsek nicht leicht gefallen, wie er hinterher, emotional sichtlich mitgenommen, gegenüber Journalisten erklärte. Auf Fragen sagte er, sie wollten Aufklärung und dazu sei hundertprozentige Transparenz nötig, alle Akten müssten freigegeben werden, insbesondere die des Verfassungsschutzes. Es seien immer noch Leute auf freiem Fuß, die am Tod seines Vater mitschuldig seien.

Es war der 17. Tag der Plädoyers der Nebenklage. Demnächst werden sie zu Ende gehen. Danach plädiert die Verteidigung.