NSU-Tatort Kassel: Hat der Verfassungsschutz einen V-Mann unterschlagen?

Seite 2: Personalie Gärtner wirft Fragen auf

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Aber auch auch die Personalie Benjamin Gärtner wirft unverändert Fragen auf - vor allem, weil dessen Rolle heruntergespielt wird. Gärtner hatte Kontakte zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS), dem auch das spätere NSU-Kerntrio angehörte. Unter anderem kannte er Corinna G. persönlich, neben Beate Zschäpe eine der wenigen Frauen im THS. Petra Pau präsentierte mehrere Beispiele für Gärtners Teilnahme an Neonazi-Aktionen.

So im Oktober 2005 in Göttingen, wo auch besonders aggressive Neonazis aus Dortmund dabei waren. Oder im April 2004 bei einer Aktion der Kameradschaft Kassel. Dass es von diesen Aktionen keine Berichte des VS-Informanten Gärtner gibt, "mache sie unruhig", so Pau: "Wir wollen wissen, was hätte Gärtner aus diesen militanten Zusammenhängen wissen können oder gewusst? Was hat er geliefert oder nicht geliefert?" Eine Antwort darauf gab es in der Sitzung nicht.

Zu den offene Spuren in Kassel zählt auch die: In der Nähe des Tatortes registrierte die Mordkommission den PKW eines Rechtsextremen, Sven W. Weil dessen Freundin dort ihren Arbeitsplatz habe, maßen dem die Ermittler aber keine Bedeutung bei.

Zwei Wochen vor dem Mord, am 24. März 2006, hatte die LfV-Abteilungsleiterin Pilling die Außenstellenmitarbeiter per Mail auf die Ceska-Serie aufmerksam gemacht und die V-Mann-Führer angehalten, ihre Quellen danach zu befragen. Vorausgegangen sei, "völliges Novum", so Pilling jetzt vor dem Ausschuss, ein informelles Treffen mit zwei Ermittlern des Bundeskriminalamtes (BKA), von denen einer der Ehemann einer Verfassungsschützerin war.

Die Frage, ob es "ein Vorwissen, eine Ahnung, ein Indiz" gab, so Clemens Binninger, CDU und Ausschussvorsitzender, liegt nahe. Die Verfassungsschützerin erklärte, sie könne sich nicht an so etwas erinnern. Aber warum wandte sich das BKA nicht ans Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), sondern ausschließlich ans Landesamt Hessen, fragte Binninger nach. "Ich kann's Ihnen wirklich nicht sagen", so Pilling, aber: vor dem heutigen Hintergrund sei tatsächlich nicht verstehbar, dass das BKA nicht direkt zum BfV ging.

Nicht einmal zwei Wochen nach ihrer Alarm- und Sensibilisierungsmail wurden die Morde acht in Dortmund und neun in Kassel mit eben dieser Ceska verübt. Obendrein hielt sich mit Temme ein Verfassungsschützer, der die Mail ebenfalls bekommen hatte, am Tatort in Kassel auf. Wieder nur Zufälle über Zufälle?

Widerstand des Verfassungsschutzes gegen die Ermittlungen

Verfassungsschützer Temme geriet damals unter Tatverdacht, dennoch führten die Ermittler nicht direkt eine Hausdurchsuchung bei ihm durch. Das sei ein Fehler gewesen, man hätte es sofort tun müssen, gestand der damals zuständige Staatsanwalt Götz Wied gegenüber den Abgeordneten ein. Dass Temme als LfV-Beamter auch in einer konspirativen Wohnung verkehrte, sei den Ermittlern damals nicht bekannt gewesen, so Wied auf Nachfrage.

Es war nicht der einzige Widerstand, den der Verfassungsschutz gegen die Ermittlungen leistete. Die Polizei durfte auch Temmes Quellen, darunter Benjamin Gärtner, nicht vernehmen. Die beiden hatten am Tattag etwa eine Stunde vor dem Mord über elf Minuten lang miteinander telefoniert, wie man heute weiß. Doch auch das wussten die Ermittlungsbehörden damals nicht. Sie erfuhren erst nach 2011 nach dem Auffliegen des NSU davon, wie der Kasseler Staatsanwalt erklärte.

Im Januar 2007 wurde das Verfahren gegen Temme eingestellt. Dazu Staatsanwalt Wied wörtlich: "Wir haben Temme nicht an die Tat ranbekommen." Das ist eine nahezu identische Wortwahl, wie die eines BKA-Vertreters, der in einer vergangenen Ausschusssitzung bezogen auf den Sprengstoffanschlag in der Kölner Probsteigasse bemerkte, sie haben Böhnhardt und Mundlos "nicht an die Tat ranbekommen". Die Schlussfolgerungen aber waren diametral entgegengesetzt: Der nicht "ran bekommene" Temme wurde vom Tatvorwurf entlastet - die "nicht ran bekommenen" Böhnhardt und Mundlos gelten für die Bundesanwaltschaft trotzdem als die Täter.