Nach dem Erdbeben: Beruhigt sich der für Nato zentrale Konfliktherd?

Seite 2: Gleiche Region, gleiche Gefahr, gleiche Schicksale

Erdbeben sind eine Naturkatastrophe, mit der die Menschen auch in Griechenland und Zypern vertraut sind. Dem Erdbeben von 7,6 auf der sogenannten Momenten-Magnituden-Skala vom 17. August 1999 in Gölcük, das in der Türkei 18.373 Tote forderte, folgte am 7. September ein Beben von 6,0 im Parnitha Gebirge bei Athen.

Es gab 143 Tote, von denen fast alle eklatanten Baufehlern zuzuschreiben sind. Aktuell geben die griechischen Erdbebenforscher für das griechische Festland Entwarnung, aber nicht für Zypern. Dort wird aufgrund der tektonischen Phänomene in der Türkei mit einem relativ starken Beben gerechnet.

Pfusch am Bau oder systemische Fehler?

Neben der "griechisch-türkischen Erdbebendiplomatie", welche die Politik daran erinnert, wie verbunden beide Staaten sind und dass sie sich die gleiche Schicksalsregion teilen, gibt es hüben wie drüben Pfusch am Bau mit nachträglicher staatlicher Legalisierung.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kam 2002 nach einem Erdbeben an die Macht. Zu seiner Popularität trug bei, dass er als Regierender dafür sorgte, dass schnell Wohnraum geschaffen wurde. Die Billigbauten erwiesen sich im Erdbebengebiet als Todesfalle.

In griechischen Medien wurde ein Foto aus Kahramanmaraş viral geteilt und von vielen Medien aufgegriffen und kommentiert. Es zeigt das Gebäude der Bauingenieurkammer, das als einziges inmitten von zu Trümmern gewordenen Häusern das Erdbeben überlebte. Die Botschaft des Bildes ist, dass offenbar der von zahlreichen deutschen Medien zitierte Pfusch am Bau für das Ausmaß der Verheerungen verantwortlich ist.

Mit dem Wort "Pfusch", oder dem ebenfalls oft benutzten Wort "Korruption", wird jedoch die Verantwortung allein auf die Beamten im Bauamt und die Bauunternehmer abgewälzt. Die Wut der Menschen in den betroffenen Gebieten konzentriert sich aber auch auf die Politik und den Präsidenten.

Abweichungen vom eingereichten Bauplan oder Verstöße gegen Baugesetze sind für Regierungen in der Türkei, aber auch in Griechenland, eine beliebte Einnahmequelle. Sie lassen die "kleinen Fehler", wozu im Zweifel auch Schwarzbauten zählen, gegen die Zahlung pauschaler Strafgelder durchgehen. Das stützt kurzfristig die Staatsfinanzen, verschafft Wählern "ein Dach über dem Kopf" und macht reiche Bauunternehmer zu "Influencern" der jeweiligen Regierung.

Abgesagtes Manöver – abgesagte Wahlen?

Nach der Katastrophe wird klar, dass diese Politik kurzsichtig gewesen ist und tödliche Risiken in sich birgt. Zudem bedroht der entstandene materielle Schaden mitten in der aktuellen Krise die gesamte Wirtschaft des Landes. In griechischen Medien schätzten Experten den Schaden auf eine Größenordnung von zehn Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts.

Die Türkei wollte eigentlich am vergangenen Mittwoch im Mittelmeer das große militärische Manöver "Blaue Heimat" beginnen. Die gesamte türkische Flotte sollte auslaufen. Es fiel aus. Selbst die üblichen Luftraumverletzungen wurden von griechischer Seite seit dem Erdbeben nicht mehr registriert. Es gab "nur" 106 davon bis zum vergangenen Mittwoch. An keiner der Luftraumverletzungen war ein Kampfjet beteiligt, es wurden nur türkische Flugdrohnen registriert.

Die USA möchten offenbar dieses Momentum ausnutzen und schicken Außenminister Antony Blinken auf einen Trip nach Athen und Ankara. Eine dauerhafte Beruhigung des notorischen Konfliktherds in der Ägäis könnte für die Nato wichtige Rüstungsgüter verfügbar machen. Nach den USA verfügt die Türkei über das größte Heer im Bündnis, Griechenland versucht mit Wettrüsten, den Anschluss zu bewahren.

In der Türkei gibt es zudem Diskussionen über eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen ins Jahr 2024. Dass sie nicht, wie vor dem Beben geplant, im Mai stattfinden werden, daran gibt es keinen Zweifel. Ohne Wahlkampfreden dürften auch die verbalen Aggressionen der türkischen Spitzenpolitiker gegen die Griechen abflachen.