Nach dem Erdbeben: Beruhigt sich der für Nato zentrale Konfliktherd?

Türkisches Kriegsschiff. Bild: pxhere / Public Domain

Türken und Griechen scheinen sich durch Desaster anzunähern. Die Türkei sagte sogar ein Manöver ab. Warum nun Waffen für die Nato leichter aus der Region kommen könnten.

Die Erdbeben vom 6. Februar, die im Süden der Türkei und in Syrien mittlerweile mehr als 45.000 bestätigte Todesfälle verursacht haben, haben mittelbar die gesamte Region des östlichen Mittelmeers verändert. Es handelt sich um eine Jahrhundertkatastrophe in einer an Erdbeben gewohnten Region.

Noch vor einer Woche konnten Menschen aus den Trümmern lebend gerettet werden. In der Katastrophe zeigt sich erneut deutlich, dass die Bevölkerungen Griechenlands, Zyperns und der Türkei, trotz des Säbelrasselns der Politik, keine Feindschaft zu ihren Nachbarn empfinden.

Griechenland und Türkei nähern sich wieder an

Die Katastrophe hat auch politische Konsequenzen für die Region. Die positivste Nachricht der vergangenen Tage ist die Wiederaufnahme von Gesprächen der Regierungen in der Türkei und in Griechenland. Der griechische Außenminister Nikos Dendias wurde im Erdbebengebiet von seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu mit einer Umarmung empfangen. Wie gute Freunde plauderten die beiden zusammen und stellten fest, "wir brauchen keine Naturkatastrophen, um unsere Beziehungen zu verbessern".

Ich habe die Anweisung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis, zu versichern, dass Griechenland alles in seiner Macht Stehende tun wird, um die Türkei in diesem schwierigen Moment zu unterstützen, entweder bilateral oder im Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an der EU,

… versicherte Dendias.

Çavuşoğlu erinnerte sich an 1999, als er, damals noch nicht Politiker, einen Leserbrief an die Zeitschrift Time schrieb.

1999 kam es nach den verheerenden Erdbeben in beiden Ländern nach einer Periode des Säbelrasselns zu einer Annäherung der beiden Staaten. Auch 1999 eilten die Griechen als Erste ihren Nachbarn zu Hilfe. Die Türkei revanchierte sich umgehend, als es wenige Wochen nach dem Beben im eigenen Land, Tote und Verschüttete bei einem Beben in Griechenland gab.

Bis zum aktuellen Beben drohten türkische Politiker nahezu täglich: "Wir kommen eines Nachts" und marschieren ein. Griechische Medien sendeten entsprechende Videos. Das dadurch geschaffene Feindbild zeigte angesichts der Not im Nachbarland aber keinerlei Wirkung bei der Bevölkerung.

Nach Bekanntwerden des Bebens brachen unmittelbar Einheiten des griechischen Katastrophenschutzes EMAK gen Türkei aufbrachen. Die Bevölkerung begann sofort, mit Geld- und Sachspenden ihre Solidarität zu demonstrieren.

Erste Meldung in den griechischen Abendnachrichten in Griechenland ist nun nicht mehr die Wiedergabe von im Wahlkampf ausgesprochenen Provokationen. Sämtliche Sender zeigen vielmehr in Liveschalten, wie es um die Rettungsaktionen im Nachbarland steht. Immer wieder wird die minutenlange Stille eingefangen, die seitens der Retter verlangt wird, wenn sie nach lautem Rufen im Chor auf eine Stimme aus den Trümmern hoffen.

Die Griechen fiebern, auch viele Tage nach dem Beben, mit und hoffen auf ein weiteres Wunder. Türkische Zeitungen drucken auf dem Titelblatt Danksagungen an die hilfreichen Nachbarn aus Griechenland.

Das gilt nicht nur für Griechenland, auch in Zypern gab es Spendenaktionen. Beim Erdbeben starb das Team einer Schulmannschaft und deren Betreuer aus dem türkisch besetzten Nordteil Zyperns. 24 Schulkinder und 15 Betreuer fanden den Tod, als ihr Hotel zusammenbrach. Sie waren für ein Wettkampfspiel in die Türkei gereist.

Mehrere Parteien, Institutionen und Verbände in Zypern verlangten vom noch amtierenden Präsidenten Nikos Anastasiades die Ausrufung einer dreitägigen Staatstrauer. Anastasiades gab dem Bitten schlussendlich nicht nach. Er ordnete lediglich eine Schweigeminute bei der Kabinettssitzung an.

Auch ohne offiziellen Segen der Regierung entschieden sich viele, wie der Rektor der Universität in Limassol, eine dreitägige Trauer einzuberufen. Die Flaggen an der Uni wurden auf halbmast gesetzt.

Gleiche Region, gleiche Gefahr, gleiche Schicksale

Erdbeben sind eine Naturkatastrophe, mit der die Menschen auch in Griechenland und Zypern vertraut sind. Dem Erdbeben von 7,6 auf der sogenannten Momenten-Magnituden-Skala vom 17. August 1999 in Gölcük, das in der Türkei 18.373 Tote forderte, folgte am 7. September ein Beben von 6,0 im Parnitha Gebirge bei Athen.

Es gab 143 Tote, von denen fast alle eklatanten Baufehlern zuzuschreiben sind. Aktuell geben die griechischen Erdbebenforscher für das griechische Festland Entwarnung, aber nicht für Zypern. Dort wird aufgrund der tektonischen Phänomene in der Türkei mit einem relativ starken Beben gerechnet.

Pfusch am Bau oder systemische Fehler?

Neben der "griechisch-türkischen Erdbebendiplomatie", welche die Politik daran erinnert, wie verbunden beide Staaten sind und dass sie sich die gleiche Schicksalsregion teilen, gibt es hüben wie drüben Pfusch am Bau mit nachträglicher staatlicher Legalisierung.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kam 2002 nach einem Erdbeben an die Macht. Zu seiner Popularität trug bei, dass er als Regierender dafür sorgte, dass schnell Wohnraum geschaffen wurde. Die Billigbauten erwiesen sich im Erdbebengebiet als Todesfalle.

In griechischen Medien wurde ein Foto aus Kahramanmaraş viral geteilt und von vielen Medien aufgegriffen und kommentiert. Es zeigt das Gebäude der Bauingenieurkammer, das als einziges inmitten von zu Trümmern gewordenen Häusern das Erdbeben überlebte. Die Botschaft des Bildes ist, dass offenbar der von zahlreichen deutschen Medien zitierte Pfusch am Bau für das Ausmaß der Verheerungen verantwortlich ist.

Mit dem Wort "Pfusch", oder dem ebenfalls oft benutzten Wort "Korruption", wird jedoch die Verantwortung allein auf die Beamten im Bauamt und die Bauunternehmer abgewälzt. Die Wut der Menschen in den betroffenen Gebieten konzentriert sich aber auch auf die Politik und den Präsidenten.

Abweichungen vom eingereichten Bauplan oder Verstöße gegen Baugesetze sind für Regierungen in der Türkei, aber auch in Griechenland, eine beliebte Einnahmequelle. Sie lassen die "kleinen Fehler", wozu im Zweifel auch Schwarzbauten zählen, gegen die Zahlung pauschaler Strafgelder durchgehen. Das stützt kurzfristig die Staatsfinanzen, verschafft Wählern "ein Dach über dem Kopf" und macht reiche Bauunternehmer zu "Influencern" der jeweiligen Regierung.

Abgesagtes Manöver – abgesagte Wahlen?

Nach der Katastrophe wird klar, dass diese Politik kurzsichtig gewesen ist und tödliche Risiken in sich birgt. Zudem bedroht der entstandene materielle Schaden mitten in der aktuellen Krise die gesamte Wirtschaft des Landes. In griechischen Medien schätzten Experten den Schaden auf eine Größenordnung von zehn Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts.

Die Türkei wollte eigentlich am vergangenen Mittwoch im Mittelmeer das große militärische Manöver "Blaue Heimat" beginnen. Die gesamte türkische Flotte sollte auslaufen. Es fiel aus. Selbst die üblichen Luftraumverletzungen wurden von griechischer Seite seit dem Erdbeben nicht mehr registriert. Es gab "nur" 106 davon bis zum vergangenen Mittwoch. An keiner der Luftraumverletzungen war ein Kampfjet beteiligt, es wurden nur türkische Flugdrohnen registriert.

Die USA möchten offenbar dieses Momentum ausnutzen und schicken Außenminister Antony Blinken auf einen Trip nach Athen und Ankara. Eine dauerhafte Beruhigung des notorischen Konfliktherds in der Ägäis könnte für die Nato wichtige Rüstungsgüter verfügbar machen. Nach den USA verfügt die Türkei über das größte Heer im Bündnis, Griechenland versucht mit Wettrüsten, den Anschluss zu bewahren.

In der Türkei gibt es zudem Diskussionen über eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen ins Jahr 2024. Dass sie nicht, wie vor dem Beben geplant, im Mai stattfinden werden, daran gibt es keinen Zweifel. Ohne Wahlkampfreden dürften auch die verbalen Aggressionen der türkischen Spitzenpolitiker gegen die Griechen abflachen.