Nach dem Jahr des Hungers
Zwar sind die Ernten gestiegen und die Preise für Getreide gesunken, Hungerrevolten haben sich aber auch als Frage der inneren und äußeren Sicherheit erwiesen
Das Volk hat kein Brot, dann soll es doch Kuchen essen. Auf diesen zynischen Spruch, der zeigte, wie weit sich die herrschende Elite von der Bevölkerung und der Realität entfernt hatte, folgte die Französische Revolution.
„Im Januar 2008 kostete eine Tasse Reis in Haiti 30 Cent. Im Juli das Doppelte. Mehr als die Hälfte der Haitianer muss mit weniger als einem Dollar pro Tag überleben. Da ist eine Preiserhöhung auf 60 Cent eine existentielle Bedrohung“, darauf macht jetzt Attac aufmerksam. Nach der FAO hat sich Zahl der hungrigen Menschen 2008 um 40 Millionen auf über 960 Millionen erhöht.
Doch nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern sind Menschen vom Hunger bedroht. In dem Ausmaß aber, in dem Menschen nicht mehr genug für das Lebensnotwendigste haben, nimmt auch ihre Bereitschaft ab, sich für die Demokratie einzusetzen. Inzwischen ist Hunger eine Frage der Inneren und Äußeren Sicherheit. Es fragt sich, ob sich vielleicht das nächste Jahressymposium des Bundesnachrichtendienstes (BND) mit der Frage der Nahrungsmittelsicherheit beschäftigen wird. Die Bedeutung von Energie, Geldwäsche und Cyber-Kriminalität standen bereits auf der Agenda. Hunger direkt, aber auch der Einfluss der Nahrungsmittelkonzerne ist essentiell für die Bevölkerung, die es zu schützen gilt.
Die Vergiftung der Umwelt ist es ebenso. Der Melaninskandal hat selbst die aufgerüttelt, denen es bislang gleichgültig war, ob Menschen in China krank werden. Im Zuge der Globalisierung kehren Pestizide jedoch wie ein Bumerang zurück. Die vermeintlich billigen Importe kommen alle teuer zu stehen. Noch sicherheitsrelevanter sind Forschungen auf dem Gebiet von veränderten Lebensmitteln. Künstliche und naturidentische Stoffe, noch mehr aber Neuentwicklungen, die sogar direkt die Bereiche von Pharmazeutika und Nahrungsmitteln verschmelzen, sind potentielle nichttödliche Waffen und mithin direkt sicherheitsrelevant.
Nanotechnik, nicht nur bei der Lebensmittelproduktion angewendet, kann ebenso sicherheitspolitisch bedeutsam sein. Weltweit gibt es die Initiative der Sicherheit in der Lieferkette. Wird diese ernst genommen, dürfte es nicht nur um die Kontrolle von Beschäftigten gehen, sondern auch darum, die Inhalte transportierter Lebensmittel zu sichern. In den USA wird seit langem vor möglichen terroristischen Attacken auf die Landwirtschaft gewarnt. Schutz vor Agroterrorismus ist eine der Aufgaben im Bereich von "homeland security". Das Verbot umweltschädigender Kriegführung und rüstungspolitische Aspekte nichttödlicher Waffen sind auch im Aktenplan des Auswärtigen Amts aufgeführt; die Bereiche Lebensmittelsicherheit und Landwirtschaft müssten ebenso darunter fallen.
Nahrungsmittelkrisen, Hungersnot und Hungerrevolten betreffen Sicherheitsinteressen. Im vergangenen Jahr rüttelten Hungeraufstände weltweit Politiker wach. Die UNO kündigte einen Notfallplan an. Die Preise für Lebensmittel waren um 83% in 36 Monaten gestiegen, meldete die Weltbank. In Haiti zwangen Hungrige den Premierminister zum Rücktritt, in Kamerun starben Menschen bei Protesten, in Ägypten buk das Militär Brot und die Reisnation Philippinen verhängte lebenslange Haft über diejenigen, die Reis horteten. Wie konnte dies nur geschehen, fragten sich Politiker in aller Welt und stellten den Mangel dar, als ob er unvorbereitet wie eine Naturkatastrophe hereingebrochen sei. Vom stillen Tsunami sprach das Wirtschaftsmagazin Economist 2008.
Inzwischen soll sich die Lage etwas beruhigt haben. Die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO hat jetzt gemeldet, der weltweite Reis-Ertrag sei höher als angenommen. 683 Millionen Tonnen seien 2008 geerntet worden, dies bedeute einen Anstieg von 3.5 % von 660 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr. Aufgrund der hohen Preise war mehr Reis angebaut worden. Weizen wurde sogar um über 12 Prozent mehr geerntet. Die Lager, so die FAO, könnten daher schnell wieder aufgefüllt werden, da zudem die Wirtschaftskrise den Verbrauch dämpfe.
Da die steigende Produktion Getreide im letzten Halbjahr 2008 hat billiger werden lassen, dürfte aber weltweit der Pro-Kopf-Verbrauch leicht steigen. In einigen Entwicklungsländern werden hingegen die Preise dennoch bleiben, sagt die FAO, vor allem in Afrika und Asien. Die Aussichten für dieses Jahr sind wieder nicht mehr so gut. Die FAO geht von einem Rückgang der Ernten aus. Die sinkenden Preise aufgrund der höheren Ernten sind zwar auch für die armen Verbraucher gut, könnten aber wiederum die Existenzgrundlage der Bauern bedrohen.