Nach drei Jahren Corona: Regierung besitzt Herdenimmunität gegen Kritik und Erkenntnis
Ausschuss und Fachgremium sollten Pandemiepolitik bewerten. Ihr Urteil scheint wenig wert. Warum wir bei der nächsten Krise wieder "auf Sicht fahren". Der Telepolis-Leitartikel
Viel ist von der notwendigen Aufarbeitung der Corona-Politik die Rede. Wenig davon, dass diese Aufarbeitung im notwendigen Maße bereits grundsätzlich gescheitert ist. Dabei herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die Einschränkungen der Bürgerrechte, vor allem aber die Maßnahmen zu Lasten vulnerabler Gruppen wie Senioren oder Kinder kritisch bilanziert werden müssen.
Das Bundeskanzleramt hatte einen "Corona-ExpertInnenrat" eingesetzt, der zwölf Berichte für eine bessere, künftige Pandemie- und Krisenpolitik vorgelegt hat. Das Gremium ist nach 33 Sitzungen zwischen Dezember 2021 und April 2023 aufgelöst.
Ob seine "wichtigen Empfehlungen" tatsächlich "in die politischen Entscheidungen eingeflossen sind", ist fragwürdig. Die besonders kritischen Fragen sind nicht geklärt: Wie und wann dürfen Rechte eingeschränkt werden? Wann ist die Krise hinreichen schwerwiegend? Was genau ist eine "bedrohliche Infektionskrankheit"?
Diese Fragen bleiben für die Zukunft ebenso unklar wie die Bewertung der Corona-Politik von zwei Bundes- und vielen Landesregierungen. Sicherlich, der Sachverständigenausschuss hat Maßnahmen kritisch bewertet. Aber was folgt daraus?
Wurden Bußgelder zurückgezahlt? Hat es Rücktritte gegeben? Wurde das Berufsverbot für einen Weimarer Richter aufgehoben, der die Maskenpflicht, Abstandsregeln und Tests für zwei Schulen aufgehoben und dies mit der "Sicherstellung des Kindswohls" begründet hatte? Eine Einschätzung, die im Kern inzwischen sogar Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bestätigt hat.
Die Antworten auf die drei Fragen lauten nein, nein und nein.
Während die "Empfehlungen" von "Corona-ExpertInnenrat" und Sachverständigenausschuss wenig Folgen hatten, befand das in Leipzig ansässige Bundesverwaltungsgericht die Corona-Maßnahmen der zweiten Pandemiewelle im Herbst 2020 unlängst als rechtmäßig.
Die Leipziger Richter hoben damit anders lautende Urteile auf. Das heißt: Die Bundesländer hatten auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes die Schließung von Gaststätten, Hotels und Sportstätten anordnen dürfen.
Auch hier blieb eine zentrale Frage ungeklärt: Hätten es die politisch Verantwortlichen zu diesem späten Zeitpunkt der Pandemie besser wissen müssen? Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage offen gelassen.
Verantwortliche in Politik können gelassen bleiben
Klar ist nur: Bei der nächsten Gesundheitskrise, die von der Politik als "bedrohlich" eingestuft wird, kann erneut nach Belieben verboten, eingeschränkt und geschlossen werden. Mit Begründungen und Verhältnismäßigkeit werden sich die Verantwortlichen kaum auseinandersetzen müssen. Sie werden wieder einmal "vielleicht auch ein Stück auf Sicht fahren" (Markus Söder).
Die AfD scheiterte im Bundestag indes mit ihrem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses "Bekämpfung des Corona-Virus". Die Fraktion forderte, "das Verhalten der Bundesregierung und ihrer Geschäftsbereichsbehörden im Zusammenhang mit der Bewältigung der Maßnahmen gegen das Coronavirus untersuchen".
Union und FDP setzen sich ihrerseits für eine Enquetekommission zur Aufarbeitung der Fehler in der Corona-Politik ein. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Tino Sorge (CDU), sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Wir brauchen jetzt endlich eine systematische Aufarbeitung der Corona-Politik". Ziel müsse sein, "aus Fehlern zu lernen und das Land für künftige Gesundheitskrisen zu wappnen". Die Kommission müsse noch vor dem Sommer eingesetzt werden, fordert Sorge.
Der Virologe Klaus Stöhr gehört zu den Experten, die scharfe Kritik an der mangelnden Bereitschaft der Ampel-Koalition üben, die Corona-Politik aufzuarbeiten. "Mein Eindruck ist, dass die Parteien sehnlichst hoffen, bei der nächsten Pandemie nicht in Regierungsverantwortung zu sein.
Anders kann ich mir die Verweigerungshaltung nicht erklären", sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. Bei der kommenden Pandemie würden sonst vergangene Fehler wiederholt. Studien zum Infektionsgeschehen in Schulen seien zu begrenzt. Zudem habe jeder Bürger die Maßnahmen mit rund 5.300 Euro mitfinanziert.
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen hatte eine Enquetekommission im Bundestag zuvor abgelehnt. Eine solche Aufarbeitung könne die Gesellschaft weiter spalten und führe nur zum "Kampf um Deutungshoheiten und nachträgliche Schuldzuweisungen".
Deckel drauf also. Und weiter wie bisher.
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