Nachrichten vom Nullmeridian III
Die ersten 100 Tage von New Labour
Während das schwülheisse Augustwetter auf die Stadt drückt, Touristenschwärme die U-Bahn rund um Leicester Square und Picadilly verstopfen und sich der Sommersmog nachts wie ein Vorbote der Herbstnebel über die Stadt senkt, erholen sich die Parlamentarier von den ersten drei Monaten New-Labour-Regierung und das hippe Jungvolk labt sich bei einer der vielen Gratis-Open-Air Veranstaltungen in Parks. Den Spice Girls und Lady Di gehören nun für einige Wochen allein die Titelseiten der Tageszeitungen. Einer anglo-amerikanischen Polit-Legende zu Folge sind die ersten 100 Tage einer neuen Regierung von besonderer Bedeutung. Sie zeigen, ob das neue Kabinett den "Drive" hat, den Grundstein für dauerhaften Erfolg zu legen. Nur wenn es gelingt, in dieser Phase die wichtigsten Reformen einzuleiten, besteht die Chance, wiedergewählt zu werden. Anfang August sind diese 100 Tage für Tony Blair zu Ende gegangen.
New Labour unter Blair hat nach dem beeindruckenden Erdrutschsieg am 1.Mai ihr Bestes gegeben, um diesem Diktat der 100 Tage gerecht zu werden. Paradoxerweise wirft gerade die boomende Wirtschaft einige dringliche Probleme auf. Der seit Januar beständig steigende Pfund läßt zwar so manches Briten Brust stolz anschwellen und macht das Urlaubsvergnügen am Mittelmeer billiger, schadet aber der Exportwirtschaft. Und der starke Pfund kombiniert mit dem fortdauerndem Boom der Konsumentenausgaben könnte schon bald eine Überhitzung der Wirtschaft herbeizuführen. Dieser falsche "Segen" könnte, ebenso wie der Boom Ende der achtziger Jahre, Vorbote eines baldigen Zusammenbruchs sein, weil der Boom mehr als auf reale Wirtschaftskraft auf spekulative Finanzkartenhäuser gebaut ist. Extrem wetterwendisch, wie das britische Klima nun einmal ist, ist es anfällig für die neurotischen "Boom and Bust" Zyklen der Hochfinanz.
Der Boom in der Londoner City, dem Finanz- und Börsenzentrum, ist, wie nicht oft genug betont werden kann, mit gesunkenen sozialen Standards erkauft worden. Doch was sind das eigentlich, Sozialstandards? Vom eigentlichen Kernbereich abgesehen, den Billiglohnkräften, ihren schlechten Arbeitsbedingungen und kaum vorhandenen Arbeitnehmerrechten, und den Abhängigen von Sozialhilfe oder Niedrigrente, die einem Armutsregime unterworfen sind, hängt mit "sozial" vieles zusammen, was auch die (wiedererstarkte) Mittelklasse und damit New LabourŽs Kern-Wählerschaft betrifft: Ökologie, Medizinische Versorgung, Ausbildung, Sicherheit. Und an all diesen Fronten, die eigentlich die langfristigen Parameter für eine gesunde Wirtschaftsentwicklung sind, sieht es für GB gar nicht gut aus. Wenn Schatzkanzler Brown hier noch am falschen Ende spart, drohen Teile des Sozialsystems wegzufallen und damit echte soziale Krisen aufzubrechen, die auch ein starker Pfund und eine prosperierende City auf Dauer nicht wegstecken können. Die Aufgabe von Labour kann es also nur sein, den Wirtschaftsboom in eine nachhaltige Entwicklung überzuführen und mit der Boomsteuerkasse die sozialen Standards wieder anzuheben, damit GB wirklich für das 21. Jhdt. fit gemacht wird.
Doch das wird dem Schatzkanzler nicht leicht gemacht. Die internationalen Finanzmärkte setzen weiterhin auf den Pfund, immer noch schwebt er über der 3 DM-Grenze. Und auch der Konsumentenkaufwahn, frisch stimuliert von Ausschüttungen vom Ertrag des Börsengangs der sogenannten Building Societies (vergleichbar Bausparkassen) an viele Kleinanleger, sowie durch das schöne Juliwetter und damit beste Ausverkaufslaune in der Oxford Street, brachten im Juli wiederum Rekordsteigerungen der Konsumentenausgaben, während die Exportwirtschaft unter dem Druck des teuren Pfundes zu stöhnen beginnt. Damit könnte die Bank of England, ihr neu gewonnenes Recht, die Höhe der Basiszinsssätze autonom zu verändern (bisher oblag das, zum unterschied von Deutschland, der Regierung), bereits zum vierten Mal in Folge in Anwendung bringen. So blickte alles auf Schatzkanzler Brown und dessen im Juli vorgestelltes Budget für 98. Dieses ist zwar, nach Meinung der Finanzanalysten "ausgewogen", was heißt, daß niemandem allzutief in die Tasche gegriffen wird, doch es wird kaum geeignet sein, der drohenden Überhitzung der Wirtschaft vorzubeugen. Die City folgt ihren eigenen Gesetzen und das internationale Anlagekapital schielt weiterhin auf britische Fonds.
Symbolische Politik
Trotz einer überragenden Parlaments-Mehrheit hat die Regierung Blair also die richtigen Steuerknöpfe, mit denen die makroökonomischen Faktoren in den Griff zu bekommen wären, gar nicht in der Hand. Die Wirtschaftspolitik würde Lady Thatcher zu Ehren gereichen und die meisten Reformen der ersten 100 Tage beziehen sich auf legalistische Prozeduren und symbolische Setzungen. Die Übertragung des Rechts zur Höhe der Zinssatzfestlegung an die Bank of England ist eine davon. Eine andere ist mehr Autonomie durch eigene Parlamente für Schottland und Wales. Dieses Wahlversprechen will Blair allem Anschein nach zügig umsetzen (auch wenn die Waliser selbst scheinbar nicht wollen, die Schotten schon eher). Ein weiterer Schritt in Richtung Dezentralisierung ist die Schaffung eines Bürgermeisteramtes für London. Nach der Abschaffung des (Labour-lastigen) "Greater Council of London" durch Thatcher haben die 33 Bezirke jeweils ihren Bereich regiert, überregionale Anliegen wurden von der Zentral-Regierung wahrgenommen. Der neue Bürgermeister soll direkt gewählt werden, zum Unterschied vom Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen. Doch auch dem will Blair ein Ende bereiten, durch eine Reform des Wahlrechts, die mittelfristig in eine Abschaffung der PR (Proportional Representation) münden könnte. Freilich hält es Blair bei den Parlamentswahlen noch mit der Vorsicht, da ihm ja das bisherige System zuletzt so gut gedient hat. Doch neben dem Londoner Bürgermeister sollen auch die Europarlamentarier direkt gewählt werden. Ein weiterer Schritt, der für viele überraschend kam, war, Paddy Ashdown, Parteichef der Liberal-Demokraten, links-bürgerliche Oppositionspartei, sowie ein weiteres Parteimitglied der Lib-Dems, in den Kabinettsausschuß zur Wahlrechtsreform aufzunehmen. Damit ist die (allerdings ideologisch sehr nahestehende) Oppositionspartei an der Regierungsarbeit konkret beteiligt. Blair konnte mit dieser freiwilligen Geste (dank seiner Mehrheit braucht er ja eigentlich nicht zu paktieren) wieder einmal das Saubermannimage vom souverän über Parteigrenzen hinweg "nur an das Beste für das ganze Land" denkenden Konsens-Premierminister auffrischen.
Trotz allem: Keine neue geopolitische Ausrichtung
Auch an anderer Front tut man sehr viel für das Symbolische. Außenminister Robin Cook hat wohl schon in diesen drei Monaten einige zehntausende Meilen auf seiner Vielfliegerkarte angesammelt. Ob beim P8-Treffen (Treffen der G-7 plus Russland, P, weil die Teilnahme Russlands aus politischen, nicht wirtschaftlichen Gründen erfolgt), beim Antrittsbesuch in Moskau oder beim jüngsten Besuch in Sarajevo, Cook ist bemüht, der Außenwelt etwas vom frischen Wind von der Insel mitzubringen, wettert gegen Landminen, setzt sich für den Umweltschutz ein, droht den Kriegsverbrechern, die sich nicht stellen wollen usw..
Doch ob Großbritannien die neue (und ungewohnte) Rolle vom global denkenden Moral-Apostel abgenommen wird, hängt auch von dem ab, was zu Hause geschieht. So könnte das Produktions- und Exportverbot für Landminen, bei denen GB zu den weltführenden Produzenten zählt, gerade noch durchgesetzt werden. Andere Heilige Kühe der Verteidigungsindustrie, die immer noch Großbritanniens wichtigster Wirtschaftszweig ist, gerade auch für den Export, sind von solchen moralisch bedingten Opfern jedoch ausgenommen. Mit der Lieferung von 17 neuen Tornados an Indonesien hat man kein Problem und über den Bau des Eurofighters möchte man am liebsten erst gar keine Diskussion aufkommen lassen. Doch dazu ist es möglicherweise bereits zu spät. Denn immer öfter wird nun auch in GB, nach dem diese Diskussion in Deutschland längst begonnen hat, die Frage erhoben, wie sich der Bau des Eurofighters mit der neuen geostrategischen Situation verträgt. Ein neues verteidigungspolitisches Konzept, das dem Ende des Kalten Krieges Rechnung trägt und damit ein Signal für die Konversion der Rüstungsindustrie setzt, hat George Robertson, der neue Verteidigungsminister, bisher vorzulegen versäumt. Mit einem Ende des "Eurofighter"-Projekts (in Kooperation mit DASA, Deutschland, sowie Firmen in Italien und Spanien) wären wohl zu viele Arbeitsplätze in Kernwählergebieten in Gefahr.
Schulen ans Netz
Neben der Reform der grundlegenden Instanzen des demokratischen Systems und außenpolitischen Gesten wurde auch im Lande so manches Thema, wie z.B. Ausbildung, zügig angegangen. Daß nun ausgerechnet eine Labour-Regierung Studiengebühren für alle Studierenden einführt, mag zynisch erscheinen, das betrifft aber vor allem jene Nachzügler-Unis, die bisher noch keine Gebühren erhoben haben, während alle "gehobeneren" Studiengänge ohnehin schon saftige Semestergebühren (5000 Pfund und mehr) verlangt hatten. Die Ausstattung mit Computern und deren Vernetzung, auch für die Klassen von Volksschule und Gymnasien, steht ganz oben in der Prioritätenrangliste bezüglich Ausbildung. British Telecom erhielt den Zuschlag für ein Vernetzungsprojekt, in dessen Zuge alle Schulen angeschlossen werden sollen, wobei der Anschluss nicht mehr als 100 Pfund pro Schüler im Jahr kosten darf. Über die Vorgehensweise kann man streiten, es sieht jedoch so aus, als würde hier wirklich ernst gemacht und jeder Schüler solle bald den eigenen Terminal auf der Schulbank stehen haben. Die technologische Aufrüstung soll durch Schulungen für die Lehrer flankiert werden, die größtenteil selbst erst den Einstieg ins Informationszeitalter schaffen müssen.
Im Ansatz dynamisch
"Im Ansatz dynamisch" wird also als Kernaussage über die neue Labour-Regierung bestehen bleiben. Daß sie manchmal auch ein sehr autoritäres Gesicht zeigt, ist auch schon aufgefallen. Die Verschärfung des Strafrechts für Jugendliche und Kinder, die Ausweitung der Zensur unter der Begründung des Jugendschutzes, die Abdankung des obersten Zensors für Kinofilme, weil er Labour zu liberal war, das sind einige erst im Keim erkennbare Ansätze, die zeigen, wie sich Labour das Regieren vorstellt. Die Vorstellungen von Kleinbürgermoral und altpuritanischer Bigotterie zeigen sich nicht zuletzt im Verhältnis der Gesetzemacher zu Drogen. Zwar herrscht hier seitens des Gesetzes "Zero Tolerance", jeder Drogenkonsum oder Besitz ist offiziell strafbar, doch ein großer Teil der erwachsenen Briten hat schon einmal "inhaliert" ("I have inhaled": Bill Clinton), während es gerade bei den ganz Jungen unter 20 ein massives Problem mit Ecstasy (bzw. den verschiedensten Pillengemischen) gibt. Die florierenden Londoner Nachtklubs müssen beständig mit dem Damoklesschwert der Zwangsschließung rechnen, sollten sie ihrer Pflicht zur Unterbindung von Drogenhandel- und -konsum in ihren Klubs (und sogar im näheren Umfeld vor dem Eingang) nicht erfolgreich genug nachkommen. Dieses Diktat verschafft den unauffälligen aber langfristig gesundheitsschädlichen Pillen gegenüber (weicheren) Rauchdrogen einen Standortvorteil, die Dealer freuen sich, die Nachtaufnahmestationen in den Krankenhäusern haben an Rave-Wochenenden alle Hände voll zu tun.
Die 100 Tage sind gerade vorüber und damit auch die Phase der Schonzeit. Noch hat sich die Presse nicht richtig warmgeschossen und die rechte Opposition ist wohl noch beschäftigt, die Knochen zu zählen. Bei den Nachwahlen in Uxbridge hat Labour zum ersten Mal seit Jahren verloren, ein kleiner Dämpfer, der (noch) mit schlechter Personalpolitik erklärt werden kann. Bei aller Kritik an einer autoritätssüchtigen und von einer Yuppie-Clique um Blair gesteuerten Partei, die, nach deutschen Begriffen, wohl rechts von der CDU steht, kann man New Labour zumindest eines zugute halten: Der Eindruck ist nicht wegzubekommen, daß die Regierung versucht, in weiten Zügen ihr vor den Wahlen veröffentlichtes Programm umzusetzen und sich dabei weitgehend treu zu bleiben (auch in ihrer pragmatischen Orientierung auf Mittelmäßigkeit). Dabei zieht nicht nur Blair voran, sondern auch die meisten Minister scheinen schon vor der Wahl erstellte Pläne relativ rasch und entschlossen umzusetzen, die zwangsläufig auftauchenden, pragmatischen Korrekturnotwendigkeiten inklusive. Und daß man merkt, daß zugleich an allen Fronten am harten Urgestein der lange aufgestauten Probleme herumgehackt wird, macht zumindest psychologisch einen wertvollen Unterschied zu manch anderem Land, in dem von solch stürmischem politischem Gestaltungswillen wenig zu verspüren ist.