Nahost-Krieg in der "Tagesschau": Merkwürdige Meldungen von tragischer Tragweite
Wie das Nachrichtenmedium mit Tatsachen umgeht und was sich daran zeigt. Kritische Anmerkungen anhand dreier exemplarischer Beispiele.
Dieser Tage gab es erneut Fragwürdiges zu beobachten bei der Kriegs-Berichterstattung zum aktuellen Stand des Nahost-Konfliktes, nicht zuletzt im meistgenutzten und mit dem meisten Nutzervertrauen bedachten journalistischen Medium hierzulande, der Tagesschau.
Inwieweit werden medienstaatsvertragliche Forderungen wie die nach Objektivität und Ausgewogenheit der Beiträge beachtet? Einige kritische Anmerkungen anhand dreier exemplarischer Beispiele:
1.) Armee und Regierung Israels haben kürzlich die Tötung dreier israelischer Geiseln, welche die Hamas Anfang Oktober in den Gaza-Streifen entführt hatte, durch eigene Streitkräfte gemeldet. Dabei fällt der Beginn des entsprechenden Berichtes besonders ins Auge, hier als Zitat in Bild und Wort:
Diese Formulierung könnte exakt so einer entsprechenden Pressemitteilung der israelischen Armee oder der Regierung Israels entstammen.
Die Version erscheint aber mit genau jenem Wortlaut als journalistische Sicht der Redaktion der Tagesschau, also von ARD-aktuell in Hamburg.
Journalistische Grundlagen
Bei einer Nachricht in ihrer klassisch-modernen Form soll das Wichtigste am Anfang stehen, damit das Publikum sofort Bescheid weiß.
Das Wichtigste an dieser Nachricht scheint also, dass israelische Soldaten "sich bedroht fühlten" und daher dann drei Landsleute, die von der Hamas als Geiseln gefangen gehalten worden waren, aus Versehen töteten.
Woher weiß die Tagesschau-Redaktion, dass sich die israelischen Soldaten bedroht fühlten?
Dazu gibt es keine Angabe, und das bei einer Nachricht von dieser tragischen Tragweite. Eine daher zutiefst merkwürdige Meldung! Es mag ja sein, dass diese Soldaten sich während der Untersuchung des Vorfalles so oder ähnlich geäußert haben.
Doch diese etwaige Version als unbestrittene, ja unbestreitbare Tatsache an den Beginn einer solchen Nachricht zu platzieren, ohne jegliche Quellenangabe, wirft weit mehr Fragen auf, als es diese Praxis scheinbar beantwortet.
Es ist, zumal im Nachrichtenjournalismus, keinesfalls journalistische Aufgabe, in die Köpfe von wem auch immer zu schauen. Und es bleibt daher gerade nicht geboten, persönliche oder redaktionelle (oder staatliche) Glaubenssätze in den Rang evidenter Tatsachen zu erheben.
Keine Journalistin, kein Journalist kann tatsächlich wissen, was genau in diesen israelischen Soldaten in jenen dramatischen Momenten vor sich ging.
Aussagen von Quellen
Journalistisch ist man, wie so oft, auf Aussagen von Quellen angewiesen. Und das Publikum ist darauf angewiesen, dass die entsprechenden Versionen journalistisch möglichst transparent als solche Versionen bestimmter Quellen vermittelt werden.
Damit ein mündiges Publikum diese nachrichtlichen Aussagen kompetent einordnen und sich auf solcher Basis eine, bestenfalls seine eigene Meinung bilden kann.
Grundlagen im Medienstaatsvertrag
Daher ist auch laut Medienstaatsvertrag in der aktuellen Fassung vom 1. Juli 2023 vor allem bei öffentlich-relevanten Themen und mit Blick auf die von uns allen per Rundfunkbeitrag finanzierten öffentlich-rechtlichen Medien eine möglichst unabhängige, sachliche, wahrheitsgemäße und umfassende Information der Menschen hierzulande demokratisch grundlegend.
Dazu heißt es im Medienstaatsvertrag:
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind bei der Erfüllung ihres Auftrags der verfassungsmäßigen Ordnung und in besonderem Maße der Einhaltung journalistischer Standards, insbesondere zur Gewährleistung einer unabhängigen, sachlichen, wahrheitsgemäßen und umfassenden Information und Berichterstattung wie auch zur Achtung von Persönlichkeitsrechten verpflichtet.
Ferner sollen sie die einem öffentlich-rechtlichen Profil entsprechenden Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit achten und in ihren Angeboten eine möglichst breite Themen- und Meinungsvielfalt ausgewogen darstellen
Feine Unterschiede
Es müsste also, um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen, im Nachrichtentext heißen – falls die Soldaten (oder eben die Armeeführung oder die Regierung Israels) sich entsprechend geäußert hatten:
Weil sie sich laut eigener Aussage bedroht fühlten, erschossen israelische Soldaten (...).
Das wäre ein Unterschied ums Ganze, nämlich einer zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus. Selbst wenn es hier nur Verlautbarungsjournalismus wäre. Aber man würde dann immerhin angeben, wessen Aussagen verlautbart werden.
Und nein, eine solche Quellenangabe drückte nicht besonderes Misstrauen aus, hier gegenüber einer bestimmten Kriegspartei. Sondern allgemeine Quellentransparenz sollte professionell selbstverständlich sein. Im Sinne der nicht zuletzt medienstaatsvertraglich (s.o.) geforderten Unabhängigkeit und Ausgewogenheit.
Journalistischer Umgang mit Opfern des Krieges
2.) Im Krieg ist entgegen einer verbreiteten Redewendung das erste Opfer nicht "die Wahrheit". Sondern es sterben meist von Beginn an viele Menschen, unbeteiligte und beteiligte.
Auch im derzeitigen Nahost-Krieg. Der journalistische Umgang mit diesen Opfern und damit auch mit deren Anzahl ist eine besondere Aufgabe der Kriegsberichterstattung.
Die globale Nachrichtenagentur Reuters gab die Zahlen der Toten in diesem Krieg vor einigen Tagen an mit rund 1.200 auf israelischer Seite und mit etwa 17.500 auf palästinensischer Seite, letztere Zahl auf Basis von Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen.
Die Tagesschau meldete in ihrem Newsticker am Sonntag, hier als Screenshot eingefügt, weil online (leider ohne transparenten Verweis auf die Änderung) nicht mehr vorhanden:
Der Partikel "schon" wirkt emotional wertend und verstärkend. Bereits so viele getötete israelische Soldaten?
Eine solche Wertung und damit explizite Meinungsäußerung hat in einem Nachrichtenbeitrag schlicht nichts zu suchen. Man mache die Umkehrprobe und stelle sich vor, die Rede wäre von "schon etwa 18.000 getöteten Palästinensern".
Praktisch undenkbar, was deutsche Leitmedien angeht. Tatsächlich wird im Gegenteil die Zahl mutmaßlich getöteter palästinensischer Menschen zum Beispiel von der Tagesschau über alle Plattformen hinweg kaum noch thematisiert.
Um solche Nachrichten aktuell zu finden, muss man von hierzulande aus Medien nutzen wie das basisdemokratisch spendenfinanzierte Online-Portal Democracy Now in New York.
Ein gewisses Framing
3.) Only (certain) bad news are "good news", nächstes Kapitel: In einem weiteren Beitrag der Tagesschau heißt es online:
Die einen lehnen etwas anscheinend Vernünftiges ab, der andere unterstreicht etwas Bestimmtes. Die einen machen etwas Negatives, der andere etwas Positives.
Die Nachricht lautet nicht, was durchaus möglich gewesen sein dürfte: "Netanjahu lehnt weiterhin Waffenstillstand ab". Sondern so, wie sie eben lautet.
Und unterstreicht auf ihre Weise ein gewisses Framing, eine bestimmte Un-Ausgewogenheit der Berichterstattung mit Blick auf einen Krieg, dessen Fortdauern und dessen Eskalieren kaum mit der gebotenen Sachlichkeit oder gar kritisch journalistisch vermittelt werden.
Dabei lässt sich von Karl Kraus (1874 bis 1936) unter anderem Folgendes lernen, was der Österreicher 1924 und damit vor fast 100 Jahren schrieb:
Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechter geht.