Tagesschau: Reportage über eine Demo? Oder Meinungs-Kundgebung?

Journalisten bei der Arbeit: Der Newsroom von ARD-aktuell / tagesschau. Bild: Wikiuka / CC BY-SA 4.0 Deed

Ein ARD-Beitrag über die Friedens-Demo in Berlin gibt Anschauungsmaterial über journalistisches Arbeiten mit irreführenden Vorgaben – eine Stil-Kritik und mehr.

Ein langer Beitrag auf Tagesschau.de über die Friedens-Demo in Berlin Ende November sollte eine Reportage sein. Eine solche Reportage darf durchaus Fragen aufwerfen. Jener Text aber wirft nicht zuletzt die Frage auf, inwiefern es sich hier überhaupt um eine Reportage handelt

Dies ist keine akademische Frage, denn Reportagen versprechen dem Publikum vor allem Informationen und sinnliche Wahrnehmungen von "vor Ort".

Sie zählen auch deshalb zu den beliebtesten journalistischen Darstellungsformen, denen immer noch und immer wieder relativ viel Vertrauen entgegengebracht wird. Daher erscheint der im Folgenden kritisierte Text besonders fragwürdig.

Langsamer Schneeregen hängt tief über dem Brandenburger Tor. Die gefühlte Temperatur liegt noch deutlich unter den gemessenen 0 Grad Celsius. Der Fernsehturm ist relativ nahe und doch nur schemenhaft zu sehen. Ein Wetter, bei dem man kaum seinen Hund vor die Tür begleiten würde (...).

Ein sogenannter "szenischer Einstieg": So oder ähnlich könnte eine Reportage beginnen, zum Thema "Ablauf der Anti-Kriegs-Demonstration" am 25.11. in der Mitte der Bundeshauptstadt. Aber es geht anscheinend auch ganz anders.

Eine "Reportage" jedenfalls soll der Beitrag von ARD-Journalist Thomas Vorreyer sein, zumindest steht das in der Desktopversion so darüber.

Screenshot

Zwar ist schon die Dachzeile grammatikalisch falsch: "Demo mit Linke und Wagenknecht". Demo mit "Linken" oder mit "Linker" wäre an der Stelle möglich. Aber um vergleichsweise Kleinigkeiten wie Grammatik-Fehler soll es hier nicht gehen.

Denn dieser Slogan deutet die Stoßrichtung des Beitrages an, dessen "Framing", also die Rahmensetzung – es geht vor allem um alte und neue Spannungen zwischen Sahra Wagenknecht & Co. versus "Die Linke". Eher am Rande um Fragen von Krieg und Frieden.

Wortwahl und Wertung

Bereits die Überschrift entspricht diesem Rahmen: "Ein bisschen gemeinsam gegen die Ukraine-Politik". Das ist in Auswahl des (vermeintlichen) Gegenstandes und in der Wortwahl erstaunlich ab-wertend für eine Reportage. Denn bei einer solchen sollen Informationen über ein Geschehen im Mittelpunkt stehen - und nicht die explizite Meinung eines Reporters.

Wenn ein Journalist vor Ort nicht mitbekommen haben sollte, dass es bei den beiden Kundgebungen und der Demonstration zwischendurch um weit mehr als nur um "die Ukraine-Politik" ging, nämlich immer wieder um die aktuellen Kriege und Krisen weltweit sowie entsprechende Friedensbemühungen, dann wirft das Fragen auf.

Weiter im Text, Zitat:

Die selbsternannte Friedensbewegung tritt auf der Stelle. Daran ändert auch nichts, dass Sahra Wagenknecht und die Linkspartei wieder gemeinsam gegen Waffenlieferungen demonstrieren. Zumal sie sich dabei nichts zu sagen hatten.

Dieser Vorspann ist etwas ganz anderes als ein szenischer Einstieg (siehe oben), sondern bereits vorab eine anscheinend analytisch sein sollende Zusammenfassung der Gesamtlage. Ganz deutlich wertend. Hier wird offenbar eine ausgeprägte, vorgefasste Meinung einmal rund ums Brandenburger Tor geführt.

"Selbsternannte Friedensbewegung" - was soll das bedeuten? Die Formulierung wirkt jedenfalls abwertend, und wer bitteschön sollte eine solche Bewegung denn sonst "ernennen": die Bundesregierung? Der Nato-Generalsekretär? Oder ein ARD-Journalist?

"Nichts zu sagen"

Dass diese Friedensbewegung "auf der Stelle" trete, ist eine weitere Bewertung des Medienschaffenden. Ein ziemlich origineller Einstieg in eine Reportage, fürwahr. Die Veranstaltung richtete sich, sowohl im Aufruf als auch im Verlauf, nicht nur "gegen Waffenlieferungen", sondern gegen Kriege insgesamt und vor allem auf Friedensbemühungen verschiedenster Art.

Dass sich "Sahra Wagenknecht und die Linkspartei" dabei "nichts zu sagen" gehabt hätten, ist einerseits trivial, weil eine Person und eine Partei ganz verschiedene Abstraktionsebenen bedeuten, und ist andererseits in dieser Absolutheit ("nichts") kaum belegbar – immerhin haben Wagenknecht und führende Mitglieder der Linkspartei gemeinsam diese Kundgebung vorbereitet und bestritten.

Aber Über-Vereinfachungen wie dieses "nichts", sonst typisch für Boulevard-Journalismus, scheinen gut in den vorgefassten Rahmen zu passen. Dafür muss man nicht mal unbedingt vor Ort (gewesen) sein. Und es gibt ja das klassische Sprichwort im Journalismus: "Zu viel Recherche macht die schönste Geschichte kaputt."

Dabei gilt die Reportage weiterhin oft als eine ganz zentrale Darstellungsform im Journalismus. Immer wieder als die "Königsdisziplin" beschrieben. Michael Haller geht dabei aus von relevanten, realen Ereignissen, die als subjektive Erlebnisse der Reporterinnen und Reporter vermittelt werden.

Was heißt subjektiv?

"Subjektiv" gerade nicht im Sinne von "meinungsbetont", sondern in der Bedeutung von "mit allen Sinnen die Lage vor Ort wahrnehmen" und diese dann ans Publikum übertragen, zum Beispiel in Form von typischen, wesentlichen Details, wie das u.a. Egon Erwin Kisch so großartig konnte.

Der Journalismuslehrer- und forscher Horst Pöttker schreibt zu dieser Darstellungsform:

Die Reportage ist ein Informationsgenre, das der Aufgabe dient, dem → Publikum Situationen so zu vermitteln, als erlebe der → Rezipient sie unmittelbar mit. Die Situationen können, müssen aber nicht mit aktuellen Ereignissen verbunden sein (…) Das kommunikative Leistungsprinzip der Reportage ist der Anspruch auf → Authentizität (Echtheit, Unmittelbarkeit). Charakteristisch ist, dass das Reportage-Subjekt (der Reporter) sich als bloßes Medium versteht und darstellt, durch das sich die Situation den Rezipienten quasi selbst mitteilt.

Horst Pöttker

Meinung

Zurück zum Tagesschau-Text, der im Lichte dessen noch viel weniger zu tun hat mit (irgend-)einer Reportage. Auch der eigentliche Text des Beitrages bietet gerade keinen wie auch immer szenischen Einstieg in das aktuelle Geschehen, sondern eine stark wertende Zusammenfassung, welche die Leserschaft hinnehmen muss:

"Die Ankündigung (von Sahra Wagenknecht im Februar, d.A.) klang fast wie eine Drohung."

"Drohen" - das schaffen ausschließlich (sehr) negative Dinge. Es gibt nichts Positives oder auch nur Neutrales, das "drohen" könnte. Das ist schon ein merkwürdiger Sound, vielleicht von einer gewissen Verachtung erfüllt? Denn genau diese Formulierung folgt später im Text:

Konkrete Lösungsvorschläge präsentierte Wagenknecht nicht, dafür war ihr Sound von Verachtung erfüllt.

Was für einseitig und ausdrücklich wertende Sätze – ohne dass der Reporter auch nur versuchte, die Szene mit wachen Sinnen, mit offenen Augen und Ohren informationsbetont wahrzunehmen und seinem Publikum möglichst ergebnisoffen zu vermitteln. Was bitte verstünde der ARD-Journalist denn unter "konkreten Lösungsvorschlägen"?

Und warum sollte es eine/die primäre Aufgabe von Opposition sein, solche "konkreten Lösungsvorschläge" zu präsentieren? Diese selbst ziemlich "abstrakte" Formulierung zu nutzen, das bedeutet auch an der Stelle, vor allem abzuqualifizieren.

Aber natürlich kann Autor Thomas Vorreyer dieser Meinung sein – dann allerdings sollte er einen Kommentar oder eine Analyse oder einen Essay schreiben. Und darin könnte er Wagenknecht auch einen "Sound" zusprechen, der seiner Meinung zufolge "von Verachtung erfüllt" ist. Aber in einer Reportage?

Gleich zweimal im Text spricht der ARD-Autor von den Teilnehmenden als "die Menge", was wie eine abstoßende Masse merkwürdiger Elemente wirkt.

Einmal nach dem Auftritt von Wagenknecht: "Die Menge klatschte Beifall."

Und schließlich gegen Ende von Beitrag und Kundgebung:

Gürpinars (ein führender Linke-Politiker, d.A.) Forderungen, Geflüchtete zu unterstützen oder entschiedener gegen die Vermögen russischer Oligarchen in Deutschland vorzugehen, nahm die Menge hingegen regungslos hin.

Diese abwertende Formulierung "die Menge" ist bei vergleichbaren Ereignissen kaum denkbar. Man denke zum Beispiel an leitmediale Berichterstattungen über einen Grünen-Parteitag oder über eine Pro-Regierungspolitik-Demonstration: Dort würden die Versammelten eher nicht als "Menge" bezeichnet.

Warum schreibt Thomas Vorreyer an diesen Stellen also nicht einfach auch von Publikum oder Anwesenden oder Teilnehmenden, von Demonstrierenden oder Friedensbewegten?

Nein, es muss "die Menge" sein, und anscheinend soll doppelt besser halten. Wie wiederum eine solche Menge zudem ganz "regungslos" sein sollte – das würde man vor Ort mal sehen wollen.

Dicht dran an der Regierungssicht

Aber der Autor kann auch anders als abwertend: hier seine Passage zu Boris Pistorius:

Über Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte Wagenknecht: "Er will, dass Deutschland wieder das Handwerk des Krieges beherrscht." Der SPD-Politiker stand für seine Aussage, dass Deutschland wieder "kriegstüchtig" werden müsse, an diesem Tag besonders in der Kritik. Dass es bei Pistorius um die Abwehr eines Angriffskrieges geht – und nicht um die Führung eines solchen –, blieb unerwähnt.

Es erscheint fast schon unglaublich, was Thomas Vorreyer dem Minister so alles zu glauben scheint. Anstatt zum Beispiel zu schreiben: "Pistorius hingegen hatte betont, ihm gehe (sic! d. A.) es nicht um die Führung eines Angriffskrieges" (was in einer Reportage noch immer ziemlich wertend wäre, allein durch diese Auswahl jenes Zitates), stattdessen gibt der Autor hier vor, er wisse, worum es "bei Pistorius" tatsächlich "geht".

Und auch hier gilt, siehe oben: Dieser Meinung kann der ARD-Mitarbeiter ja durchaus sein – aber diese hat, gerade in jener Form, in einer Reportage nichts zu suchen.

Zumal diese Meinung und Perspektive sehr dicht dran sind an der Regierungssicht. Dabei sollte doch eigentlich nicht der leiseste Verdacht aufkommen dürfen, hier handele es sich mal wieder um eine Art "Bewerbungsschreiben" für höhere Ämter.

Denn es ist ja kein Geheimnis, dass vor nicht allzu langer Zeit, im Februar dieses Jahres, der langjährige ARD-Top-Journalist Michael Stempfle sich auf umstrittene Weise in Berlin als Ministeriumssprecher gewissermaßen "angedient" hatte, wie kritisch angemerkt wurde.

Und was für ein Zufall: Als Sprecher bei eben jenem Boris Pistorius, bei dem ja auch Thomas Vorreyer genau zu wissen vorgibt, worum es dem eigentlich "geht".

Journalismus und insbesondere Reportage jedenfalls "gehen" anders. Auch, weil es darum geht, inwiefern wichtigen Medien und insbesondere deren Informationsangeboten vertraut werden kann.