Natur und Gesellschaft neu denken
Seite 2: Kritik an Grundlage der heutigen Naturwissenschaft
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- Kritik an Grundlage der heutigen Naturwissenschaft
- Von Selbstsucht und Selbstzerstörung des Menschen
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Scheidler entwickelt unter anderem angeregt durch Chomskys Vortrag eine grundlegende Kritik am Mechanismus als Grundlage der heutigen Naturwissenschaft, wobei er die neue "Theorie der beobachtbaren Welt" in seinem Buch die Quantenphysik ausmacht.
Sie steht für ihn im Gegensatz zum Mechanismus der "alten" Physik: "Mechanistisch‘ bedeutet hier die Vorstellung, dass alles in der Natur berechenbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung folgt, wie sie etwa beim Stoß von Billardkugeln finden kann." (S. 16)
Scheidler kritisiert unter anderem, dass an den Schulen noch Vorstellungen beispielsweise von Atommodellen unterrichtet werden, die von der Forschung längst überholt seien (S. 20).
Die Erkenntnisse der Quantenphysik aus den vergangenen etwa 100 Jahren widersprächen der mechanistischen Vorstellung, schreibt Scheidler. Die Quantenphysik habe die Einsicht zutage gefördert, dass "die Welt ein unauftrennbares Gewebe ist, in dem es keine Einzelteile gibt, sondern nur Beziehungen" (S. 43). Sie zeige, dass wir "auf der Quantenebene durch ein alles verknüpfendes Feld verbunden sind" (S. 67).
Statt der Vereinzelung, der Atomisierung der Menschen, die in der kapitalistischen Gesellschaft die Regel und gleichzeitig Folge jahrhundertelanger mechanistischer Weltanschauungen sei – Wissenschaft und Gesellschaftsordnung sind schließlich dialektisch verbunden –, beschreibt Scheidler Kooperation und Selbstorganisation als den Zustand, in dem sich die Natur in dieser Welt, in dem sich das Leben ausdrückt.
Die Quantenphysik wird für Scheidler so zu einer Naturwissenschaft, auf deren Basis eine ganzheitliche Sicht auf die Welt möglich wird.
Das aber ist ein Fehlschluss. Der Wissenschaftspublizist Michael Springer hat in seiner Rezension des Buches von Scheidler völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Quantenphysik sich eben nicht als Gegenmodell zur klassischen Mechanik eignet. Sie verabschiede sich nicht von der klassischen Naturforschung, auch wenn sie einige Gesetzmäßigkeiten neu ins Spiel bringe, schreibt Springer.
Die partielle Kritik, die die Quantenmechanik an manchen Deutungen der modernen Physik übe, könne nicht zu einer grundlegend anderen Naturphilosophie weitergeführt werden - die Springer auch gar nicht für notwendig erachtet. Ihm reicht Scheidlers kritischer Blick auf die modernen Wirtschaften und der Hinweis auf dessen ökologische Folgen.
Dass die Naturwissenschaft und das Wirtschaften in einem dialektischen Zusammenhang stehen, das scheint den Rezensenten des Spektrums der Wissenschaft nicht weiter zu interessieren. Dabei weist Scheidler selbst immer wieder darauf hin. Beispielsweise bei seiner Betrachtung der Kooperation als Grundlage des Lebens auf der Welt - ob in den Zellen oder auch in der ganzen Evolution.
Darwins Vorstellung, Evolution habe eine natürliche Selektion, einen tödlichen Kampf ums Überleben zur Grundlage, sei eine Übertragung "ökonomischer Ideologien, die stark von Manchester-Kapitalismus geprägt waren, auf die Evolutionsgeschichte" (S. 113).
Dies ist allerdings keine neue Erkenntnis. "Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluss neuer Märkte, ‚Erfindungen‘ und Malthusschem ‚Kampf ums Dasein‘ wiedererkennt.
Es ist Hobbes’ Krieg aller gegen alle, und es erinnert an Hegel in der ‚Phänomenologie‘, wo er die bürgerliche Gesellschaft als ‚geistiges Tierreich‘, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert", schrieb schon 1862 ein gewisser Karl Marx an Friedrich Engels.2
Dass Scheidler diese (oder eine der anderen) Aussagen von Marx über Darwin nicht erwähnt, weist auf das grundlegende Problem seiner Arbeit hin. Er klammert als gesellschaftskritischer Philosoph die gesellschaftskritische Philosophie aus.
Das ist polemisch überspitzt, denn natürlich findet man in seinem Buch vereinzelt Rückgriffe auf Philosophen wie Marx oder Ernst Bloch. Warum Scheidler aber die Naturphilosophie übergeht, ist nicht zu verstehen. Er versucht, empirisch eine eigene Sicht auf die Natur und den Mensch zu entwickeln, was letztlich auf eine Naturphilosophie hinausliefe.
Aber das geht nicht ohne Erkenntniskritik der empirischen Basis. Ansatzpunkt der Kritik wäre in diesem Fall die Quantenphysik. Und sie steht, wie Michael Springer als Rezensent im Spektrum der Wissenschaften berechtigterweise anmerkt, in der Tradition der von Scheidler kritisierten Naturwissenschaft und dessen wissenschaftlicher wie auch ökonomischer Grundlage. Um noch einmal Karl Marx zu zitieren:
Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse.
Karl Marx, MEW 3, S. 46
Entscheidend ist, was hinten rauskommt
Wer also die Quantenphysik ohne ihre erkenntnistheoretische Grundlage - nennen wir sie hier sehr vereinfacht in der Logik Scheidlers "Mechanismus" - für eine Gesellschaftsveränderung fruchtbar machen will, der wird wiederum herrschende Gedanken reproduzieren.
Und so wundert es nicht, dass bei Scheidler trotz aller Kritik - die ihm zweifellos abzunehmen ist - am Ende dennoch nicht viel anderes übrig bleibt als das herrschende Axiom der Gegenwart also die allseitige Vernetzung. Schon die Illustration des Titels sowie der jeweiligen ersten Seiten der Kapitel weisen darauf hin. Immer wieder kommt Scheidler auf "Vernetzung" und "Netzwerke" zu sprechen.
Natürlich: Es geht ihm um Kooperation und Selbstorganisation, die er als Grundlagen allen Lebens also auch das der Menschen beschreibt. Das sind sie ganz abstrakt zweifellos.
Aber das sagt für sich genommen nicht viel aus. Interessant wäre es vielmehr, wie diese natürliche Grundlage des menschlichen Lebens auf die entfremdete Lebenspraxis der Menschen übertragen werden könnte? Wie könnte Selbstorganisation und Kooperation die Vereinzelung in der vernetzten, neoliberalen Gesellschaft ablösen? Denn daran leidet die Menschheit und die ganze Natur. Aber warum ist das so? Warum handeln die Menschen gegen ihre Interessen und gegen das Leben?
Es stellt sich die Frage der Vermittlung. Und hierfür braucht es eine Naturphilosophie ohne Analogieschlüsse.
Eine solche Naturphilosophie würde helfen, Schritten zu wirklicher Veränderung zu erkennen und schließlich auch zu gehen. Eine Naturphilosophie, die das menschliche Bewusstsein als Teil der Natur begreift und damit auch der Analyse und Kritik zugänglich macht.
Denn hier ist, dies sei an dieser Stelle nur erwähnt, ein weiteres Problem Scheidlers: seine Ignoranz gegenüber der Psyche, des Unbewussten und der Emotionen des Menschen, die er als Innenwelt bzw. Innensicht beschreibt, deren Wesen die Wissenschaft letztlich nicht erkennen könne. Dies mag für die mechanistische Wissenschaft gelten, ist aber nur ein weiterer Grund dafür, warum diese in Gänze zu kritisieren ist.
Klar ist: Die gesellschaftlichen Entwicklungen verlaufen nicht mechanisch, sondern immer in Widersprüchen. Wäre das nicht so, dann wäre ein Buch wie das von Scheidler, wäre eine Veränderung nicht denkbar, die Katastrophe unausweichlich. Und ohne Dialektik gäbe es auch keine Naturphilosophie Schellings, die der emeritierte Kasseler Philosophieprofessor Wolfdietrich Schmied-Kowarzik seit mehreren Jahrzehnten für die heutige Diskussion fruchtbar macht.
Er hat dabei auch vielfach auf die Bedeutung Schellings für die Debatten um die Natur- und Umweltfrage hingewiesen und seine Traditionslinie damit auch für Überlegungen zu einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung geöffnet.
Die Natur habe im Naturwesen Mensch eine Gestalt hervorgebracht, so schreibt Schmied-Kowarzik in Anlehnung an Schelling, "die selbstständig geworden ist, selbstständig sowohl in der Bestimmung ihrer selbst als auch gegenüber der sie umgebenden Welt".3
Deshalb könne sie sich auch gegen die Natur stellen und sich einbilden, sie habe "absolute Gewalt über ihre eine in Bewusstsein und Wollen selbst erzeugte Welt". Dass das in die Katastrophe führt, erleben wir gerade am eigenen Leib.
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