"Nein, im Nahen Osten kämpfen nicht Sunniten gegen Schiiten"
Seite 2: Was nicht schiitisch ist, wird schiitisch gemacht
Ob Milizen in Syrien, die Anhänger für ihren Kampf mobilisieren; Golfmonarchien, die von innenpolitischen Problemen ablenken oder Prediger, die um Spenden werben: Viele Akteure der Region wissen, wie man die Konfessionskarte ausspielt. Aber niemand beherrscht das Schüren konfessioneller Gewalt so gut wie Saudi-Arabien. Mit einem endlosen Strom aus Waffen, Dollars, Terroristen, Kriegen und Propagandisten versucht das Königshaus seiner sektiererischen Staatsdoktrin von Nigeria bis Indonesien Geltung zu verschaffen.
Im Zweifel gilt: Was nicht schiitisch ist, wird schiitisch gemacht. Als beispielsweise während des Arabischen Frühlings auch die Menschen in Bahrain auf die Straße gingen, definierten saudische Prediger und Prinzen die Proteste schnell in ihrem Sinne um: Aus Demonstrationen gegen Perspektivlosigkeit und Machtmissbrauch wurden Aufstände schiitischer Terroristen, gegen die jedes Mittel Recht sei.
Selbst die Belagerung des sunnitischen Katars oder die Hinrichtung von Menschenrechtsaktivisten wird zur Abwehrschlacht gegen eine vermeintliche schiitische Internationale. Auch bei den saudischen Machthabern steckt dahinter nicht zwangsläufig eine tief verwurzelte Abneigung gegenüber Schiiten.
Der Hass auf Schiiten ist Mittel der Politik, nicht ihre Ursache. Das Ziel: die Destabilisierung und Delegitimierung der Gegenseitige bei gleichzeitiger Selbstinszenierung als einziger Garant für Stabilität und Ordnung in einem Meer konfessioneller Gewalt.
Alte Klischees vom unveränderlichen Orientalen
Oft ist das Gegenteil wahr: Häufig sind es allzu mächtige autoritäre Regime, die sich Unterschiede zwischen ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen für ihre Zwecke zu Nutze machen. Starke Staaten halten oftmals nicht irgendein fragiles Gleichgewicht zusammen, sie sind die Ursache, dass stabile Gleichgewichte zerfallen. In Syrien, Jemen, dem Libanon und an unzähligen anderen Schauplätzen sorgt Saudi-Arabien tagtäglich nicht für Stabilität, sondern für Chaos.
Der Grund, warum viele Menschen im Westen den Deutungen des saudischen Königshauses dennoch schnell bereit sind zu folgen, liegt nicht nur in der Wirkungsmacht aktueller saudischer Propaganda. Die Erzählung von den unversöhnlichen konfessionellen Gegensätzen klingt in hiesigen Ohren auch deshalb so glaubwürdig, weil sie unser altes Klischee vom unveränderlichen Orientalen bedient: Ein traditionsversessener Stammesanhänger, dessen Neigung zur nachbarschaftlichen Gewalt sich allenfalls durch die harte Hand eines autoritären Despoten im Zaum halten lässt.
Nicht jahrhundertealte islamische Konflikte prägen unser Bild von der islamischen Welt, sondern jahrhundertealte europäische Orient-Klischees. Wie Sanddünen und Dattelpalmen halten viele Menschen im Westen religiös motivierte Gewalt für eine Art natürliche Gegebenheit der Region.
Diese Annahme bringt auch den Vorteil mit sich, dass sich so leicht die Verantwortung westlicher Politik für die Konflikte in der islamischen Welt negieren lässt. Auch die Politik des Westens stellt wirtschaftliche und machtpolitische Interessen oftmals über die Frage, wie sich friedliche Koexistenz bewahren oder herstellen lässt.
Verschwörungstheorien werden zu politischen Analysen
Dieser Mix aus Klischees, Propaganda und politischen Interessen hat zur Folge, dass in westlichen Medien selbst abstruse Legenden mittlerweile als seriöse politische Analysen durchgehen. Der "schiitische Halbmond" ist so eine. Die ursprünglich im jordanischen Königshaus erdachte Verschwörungstheorie führt die Konflikte im Nahen Osten im Wesentlichen auf einen aus dem Iran gesteuerten schiitischen Generalangriff zurück.
Seit seiner ersten Erwähnung im Jahr 2004 hat es der "schiitische Halbmond" in die meisten großen deutschen Medien geschafft. Auch Spiegel Online versucht mit ihm die Konflikte der Region zu erklären.
Die Redakteure scheitern allerdings schon an der Humangeographie: So werden der Libanon und Syrien, in denen Schiiten nur eine Minderheit stellen, komplett als "schiitisch" eingefärbt. Der mehrheitlich schiitische Iran muss sich hingegen nur einen westlichen Streifen dem Halbmond zurechnen lassen.
Im Irak gilt der kurdisch-sunnitische Norden als schiitisch, nicht aber der tatsächlich überwiegend von Schiiten bewohnte Süden. Der Jemen bleibt trotz schiitischer Konfliktparteien hingegen gänzlich unberücksichtigt.
Problematischer als die Versuche, die geographischen Realitäten der Region zurechtzubiegen, wird es aber auf der politischen Ebene. Denn jene Schiiten, die angeblich vom Libanon über Aserbaidschan bis Bahrain gemeinsam die Welt bedrohen, haben in der Realität nicht viel mehr gemein, als derselben Verschwörungstheorie als Protagonisten dienen zu müssen.