"Nein, im Nahen Osten kämpfen nicht Sunniten gegen Schiiten"

Seite 3: Im Jemen herrscht kein Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien

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Die Behauptung vom internationalen schiitischen Bündnissen beruht auf nicht viel mehr als Vermutungen und Übertreibungen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Darstellung des Konflikts im Jemen. Schon fast routinemäßig wird der dortige Krieg in westlichen Medien als Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien dargestellt.

Während es an den Folgen saudischer Bombardierungen, Belagerungen und Waffenlieferungen dank zahlreicher Berichte internationaler Organisationen keinen Zweifel gibt, fehlen auch im fünften Jahr des Krieges konkrete Beweise für eine iranische Unterstützung der Houthi-Rebellen.

Selbst wenn man den unbelegten saudischen Anschuldigungen Glauben schenkt, dann beschränkt sich die iranische Seite des "Stellvertreterkrieges" auf einige wenige verhinderte Waffenlieferungen. Sehr wahrscheinlich gibt es allerdings nicht einmal diese.

Auf der saudischen Seite hingegen steht eine vom Westen mit Ausbildung, Waffen und Geheimdienstinformationen unterstützten Militärkoalition, deren Luft- und Bodenangriffe in den letzten Jahren Tausenden Menschen das Leben gekostet hat und Hunderte Krankenhäuser, Schulen und Moscheen zerstört hat.

Die von Saudi-Arabien angeführte See- und Landblockade über das Land hat zur größten humanitären Katastrophe der Gegenwart geführt. Zwei von drei Jemeniten leiden unter Hunger, fast die komplette Bevölkerung ist von Hilfslieferungen abhängig. Blickt man auf die nackten Zahlen von Tätern und Opfern, dann handelt es sich beim Konflikt im Jemen nicht um einen Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien, sondern um einen Krieg Saudi-Arabiens gegen die jemenitische Zivilbevölkerung.

Ein Grund, warum die Angriffe unvermindert andauern, ist gerade, dass der Konflikt eben nicht entlang schiitischer und sunnitischer Linien verläuft. Trotz saudischer Bemühungen, die Menschen im Jemen entlang konfessioneller Gräben zu spalten, steht den saudischen Angriffen noch immer ein Bündnis entgegen, das nicht nur von schiitischen Houthi-Rebellen, sondern auch von vielen Sunniten im Jemen unterstützt wird.

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Ewige Loyalitäten überdauern nur wenige Jahrzehnte

An anderen Bündnissen gibt es hingegen keinen Zweifel. Seit Jahren kämpfen libanesische Hisbollah-Kämpfer und iranische Revolutionsgardisten an der Seite der syrischen Armee. Ein Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass solche Bündnisse in der islamischen Welt oft so schnell gehen wie sie kommen. Viele der vermeintlich ewigen Loyalitäten überdauern nicht einmal ein paar Jahrzehnte.

Noch wenige Wochen vor Ausbruch der Gewalt in Syrien galt nicht der damalige iranische Präsident Mahmoud Ahmadineschad als loyalster Partner Bashar Al-Assads. Stattdessen buhlten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der damalige Emir von Katar, Hamad bin Chalifa Al Thani, um die Gunst des syrischen Präsidenten.

Dessen Staatsverständnis hatte wenig für schiitischen Lehren übrig, sondern sieht sich in der Tradition von Panarabismus und Sozialismus. Die Baathpartei, deren syrische und irakische Variante jahrzehntelang die Politik zwei der mächtigsten Länder der Region prägte, versteht sich nicht einmal als sonderlich islamisch und wurde von einem griechisch-orthodoxen Christen gegründet.

Auch andernorts taugt die Zuschreibung "Schiit" oder "Sunnit" wenig zum Verständnis von Bündnissen und Konflikten. Noch Anfang der 2000er-Jahre galt der Anführer der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, als populärste Figur der arabischen Welt. Dass Nasrallah Schiit ist, interessiert seine sunnitischen Fans wenig.

Die Islamische Revolution im Iran von 1979 hatte ihre größten Anhänger außerhalb des Landes nicht unter der schiitischen Bevölkerung Bahrains oder Jemens, sondern in den Reihen der sunnitischen Muslimbruderschaft in Ägypten und Palästina. Diese wird heute wiederum vom ebenfalls sunnitischen Saudi-Arabien bekämpft.

Bis zum Auftreten der Hamas verstanden sich palästinensische Widerstandskämpfer vor allem als Sozialisten; auch viele ihrer einflussreichsten Vordenker waren Christen. Wer eine Ahnung von der Flexibilität der Bündnisse im Nahen Osten bekommen will, sollte sich einmal mit dem Libanesischen Bürgerkrieg befassen. Allianzen und Feindschaften zwischen christlichen, sunnitischen, schiitischen, palästinensischen, syrischen und israelischen Truppen änderten sich ständig.

Vermeintlich jahrhundertealten Gräben konnten innerhalb weniger Wochen überwunden werden, während sich angeblich ewige Loyalitäten von einem Tag auf den anderen auflösten. Sozialist oder Amerikagetreuer? Islamist oder Säkularer? Kurde oder Araber? Panarabist oder Nationalist? Identitäten gibt es auch in der islamischen Welt zahlreich. "Schiit oder Sunnit" gehörte auch in der jüngeren Geschichte der Region zu den unwichtigsten.