"Nein, im Nahen Osten kämpfen nicht Sunniten gegen Schiiten"

Seite 4: Die Sektiererei ist zur selbst erfüllenden Prophezeiung geworden

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Die Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten ist nicht Ursache der Politik im Nahen Osten. Ihre Folge ist sie hingegen schon. Mit jedem Anschlag gegen die "Ungläubigen", jeder sektiererischen Fernsehpredigt wird das Gerede von den unüberwindbaren konfessionellen Gegensetzän zur selbst erfüllenden Prophezeiung.

Menschen, die ihre Angehörigen im Namen der ein oder anderen Konfession haben sterben sehen, interessieren sich verständlicherweise wenig für die jahrhundertealte Tradition schiitisch-sunnitischen Miteinanders. Auch die Menschen in der islamischen Welt sind anfällig für Propaganda, Verführungen und einfache Erklärungen.

Die aktuelle Gewalt entlang konfessioneller Konfliktlinien mag ihre Wurzeln nicht in historischen Ereignissen und theologischen Unterschieden haben. Ihre Wirkung ist dennoch real. Im Irak und anderswo wächst heute eine Generation heran, die von klein auf mit der Frage nach "Schia oder Sunna" groß geworden ist.

Eine der traurigsten und vielleicht nachhaltigsten Folgen, sektiererischer Politik im Nahen Osten ist, dass Menschen wirklich beginnen, sich über ihre Glaubensrichtung zu definieren. Meinungsumfragen zeigen: Der Hass nimmt zu. Nach Jahrhunderten der Koexistenz sind heute mehr Sunniten denn je der Meinung, dass es sich bei Schiiten nicht um "richtige Muslime" handle.

Die gute Nachricht bleibt jedoch: Die Geschichte zeigt, dass es auch anders geht. Die Politik im Nahen Osten ist nicht Folge konfessioneller Gegensätze zwischen Schiiten und Sunniten. Der Konfessionalismus ist Instrument der Politik.

Nicht uralte Traditionen und religiöse Differenzen, sondern politische Akteure sind es, die darüber entscheiden, ob Unterschiede in Ethnie, Sprache, kulturellen Bräuchen oder Glauben zu unversöhnlichen Identitäten aufgebläht werden, oder ob sie bloß ein Small-Talk-Thema im Wasserpfeifencafé bleiben.