"Neoliberal ist neoliberal, diesseits und jenseits des Atlantik"
Interview mit dem Ökonomen Heinz-Josef Bontrup über die US-Wahl und die Verflechtung von Wirtschaft und Politik
Herr Bontrup, was für Vereinigte Staaten regiert nun Joe Biden? Noch am 4. November kommentierte Nicholas Richter in der Süddeutschen Zeitung, die Wahl beweise, dass "Donald Trump zu einem guten Teil die Seele der Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert". Wie können wir dieses Land verstehen?
Heinz-Josef Bontrup: Nun, zunächst einmal freue ich mich, dass Donald Trump Geschichte ist. Und das Beste wäre, wir würden ihn einfach als eine Episode vergessen. Ich fürchte allerdings, so einfach wird es nicht gehen.
Die Probleme in den USA liegen gesellschaftlich tiefer und haben auch einen historischen Hintergrund. Insofern ist es hoch interessant, wie sich die meisten Kommentatoren und Berichteschreiber geradezu naiv auf Donald Trump als personifizierte Ursache für alles Böse in den USA eingeschworen haben. Er ist sogar mit Nicholas Richter, wie Sie in ihrer Frage herausstellen, "zu einem guten Teil die Seele der Vereinigten Staaten von Amerika". Das ist alles blanker Unsinn. Wir müssen uns vielmehr systemisch und nicht personalisiert die Frage stellen: Wer hat Trump zum Präsidenten gemacht? Dann werden wir zu dem Befund kommen, dass Trump nur eine aus dem Ruder gelaufene Marionette des US-amerikanischen Kapitals war, das schon immer über die Republikanische Partei die einseitigen Profitinteressen der US-Plutokraten im Kongress und Senat hat vertreten lassen.
Wir sollten uns allerdings in diesem Kontext auch fragen, ob die Demokraten letztlich im Kapitol nicht auch die Interessen der mächtigen Kapitallobby vertreten, selbst wenn man diese Interessen differenziert sehen muss. US-Demokraten sind keine Sozialisten, die den US-amerikanischen radikalen Kapitalismus abschaffen wollen. US-Demokraten sind Neoliberale. Selbst Bernie Sanders, den man in den USA einen "Sozialisten" schimpft, wäre bei uns nur ein Sozialdemokrat, also ein Neoliberaler. Und trotzdem sind für viele Nicht-Denkende Amerikaner die Demokraten eine "kommunistische Gefahr fürs Land".
Vor diesem Hintergrund muss man über das Wahlvolk reden, aber auch über das problematische US-Wahlsystem mit "Wahlmännern" und die Verteilung der Stimmen über nur zwei Parteien. Stellen Sie sich vor, in Deutschland könnte man nur CDU/CSU oder die SPD wählen und die SPD würde beispielsweise in NRW nur ganz knapp die Wahlen verlieren, dann würden alle Stimmen der CDU/CSU gehören und auch nur diese Stimmen für NRW im Bundestag vertreten sein. Wir würden ein solches Wahlsystem für absolut absurd halten. Es ist aber in den USA Realität.
Genauso ist es Realität, dass nur Geld darüber entscheidet, welche Kandidatinnen und Kandidaten bei den Wahlen überhaupt eine Chance haben, ins Rennen gehen zu können. Es sind Millionenbeträge, die man braucht; und ohne finanzielle Unterstützung von mächtigen Kapitallobbys, oder man ist selbst hyperreich, kann man eine Kandidatur völlig vergessen. Dies war bei der vielbejubelten Obama-Wahl nicht anders. Hier von Demokratie zu sprechen, ist schon bei der Wahlmethodik, gelinde gesagt, mehr als zweifelhaft.
In einem Essay in der Print-Ausgabe des Spiegel vom 16 Januar kommentiert die US-Schriftstellerin Siri Hustvedt die jüngsten Ereignisse, erinnert an die Lynchmobs vergangener Zeiten und diagnostiziert, dass der Trump-Slogan MAGA, "Make America Great Again" nichts anderes als "Make America White Again" bedeute. Ist dieses identitätspolitische Phänomen nur ein Ventil der wirtschaftlich Abgehängten? Und was haben die Demokraten damit zu tun?
Heinz-Josef Bontrup: Ich habe auch den Essay von Siri Hustvedt gelesen. Sie zeigt genau das auf, was ich auch sehe: Es gibt in den USA eine lange Geschichte von Rassismus, von Weiß und Schwarz, bis zum heutigen "Make America White Again". Die USA waren diesbezüglich, seit ihrer Gründung 1776, schon immer ein tief gespaltenes Land. Dies führte sogar von 1861 bis 1865 zu einem grausamen Sezessionskrieg. Die Südstaaten wollten die Sklaverei nicht abschaffen. Unglaublich! Die renommierte Harvard-Historikerin Jill Lepore sagt in Bezug zur heutigen "Polarisierung" in der US-Gesellschaft, dass Trump daraus zwar Vorteile für seine abstruse Politik - "Make America Great Again" - hat ziehen können, aber die Polarisierung der Gesellschaft hat in Trump nicht ihren Ursprung. Sie ist ein systemisches Problem der USA. Wie gesagt, der radikale Kapitalismus, entweder bist du Sieger oder Verlierer - und der Sieger kriegt alles, hat eine durchgehende Geschichte in den USA.
Die Demokraten sehen das sicher ein wenig anders, sozialer, aber auch sie unterliegen dem großen neoliberalem Irrtum, dass sich der Staat möglichst weitgehend aus der Profitwirtschaft heraushalten soll. In der Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise von 2007 bis 2009, die von den USA ausging, waren die Demokraten wirtschaftspolitisch genauso blind wie die Republikaner. Und ich kann mich nicht erinnern, das Barack Obama eine nicht neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt hätte.
Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die Verfassung der USA keine andere als eine radikale kapitalistische Wirtschaft zulässt. Sozialstaatliche Vorgaben, wie sie zum Beispiel im deutschen Grundgesetz verankert sind, sind der US-Verfassung wesensfremd. Die geradezu aberwitzige Debatte über die Gesundheitsreform von Obama hat dies nur einmal mehr als überdeutlich gemacht. Für die meisten US-Amerikaner ist Gesundheitsvorsorge und die Behandlung von Krankheiten ein "privates Gut". So denken selbst einkommensschwache Schichten, die von der Reform nur profitieren. Dies zeigt deutlich eine tiefsitzende bürgerlich-kapitalistische Grundhaltung in der US-Gesellschaft, die sicher auch der fehlenden Festschreibung jeglicher Sozialpolitik in der US-Verfassung geschuldet ist.
Ist oder war das Verhältnis der führenden Republikaner zum häufig erratisch agierenden Trump nur eine Zweckallianz, oder steckt mehr dahinter?
Heinz-Josef Bontrup: Ich würde mit der schon erwähnten US-Historikerin Jill Lepore sagen: "Die Republikanische Partei ist eine nationale Peinlichkeit". Sie wollte in der Tat nur mit Trump an der Macht bleiben. Übrigens immer gestützt vom US-amerikanischen Großkapital, dass nie während der Amtszeit von Trump, trotz seiner bornierten Wirtschaftspolitik, die auch dem US-Kapital geschadet hat, hörbar laut wurde und seine Politik in den Senkel gestellt hat.
Aber mal ehrlich, wollen nicht alle Politiker und Politikerinnen und ihre Parteien an die Macht - und wenn sie oben angekommen sind, wollen sie auch da oben bleiben? Aber so, wie es in den USA zuletzt abging, mit der Nichtanerkennung von Wahlergebnissen durch einen amtierenden Präsidenten und mit zwei Amtsenthebungsverfahren sowie einem Sturm aufs Kapitol, an dem offensichtlich sogar Wachleute des Kapitols beteiligt waren, das sucht man in einem Land, das immer wieder von "Demokratie" als dem gesellschaftlich höchsten Gut spricht, das tief in der Verfassung verankert sei, wohl vergebens.
Und noch nie in der Geschichte der USA musste so viel Polizei und mussten 25.000 Nationalgardisten zum Schutz der Inauguration eines Präsidenten aufgeboten werden wie bei Trumps Nachfolger Biden. Wenn ein Präsident so vor dem Volk beschützt werden muss, so würde ich mal sagen, stimmt was nicht im Land. Und das ist ja auch der Fall. Das Thema der Rede von Joe Biden, "America United", war bewusst in Abgrenzung zu Trumps "America First" Rede von vor vier Jahren gewählt. Biden will "vereinen" und nicht weiter "spalten". Ein guter Vorsatz, mehr aber auch nicht. Warten wir ab, was daraus folgt. Sicher wird es den Kapitalismus in den USA nicht abschaffen. Der ist aber das Problem!
Der SPD-Politiker Erhard Eppler prägte zur differenzierteren Betrachtung konservativer Positionen die Begriffe "Wertekonservatismus" und "Strukturkonservatismus", letzteren als negativ besetzten Ausdruck eines Strebens nach reinem Machterhalt. Lässt sich das Verhalten der republikanischen Parteistrategen dort einordnen oder brauchen wir möglicherweise weitere Kategorien?
Heinz-Josef Bontrup: Na ja, wenn Erhard Eppler noch leben würde, würde ich ihm sagen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Eppler war als sogenannter "Linker" in der SPD einer der massiven Unterstützer der neoliberalen Agenda-2010-Politik von SPD und Grünen. Damit wollten sich beide Parteien unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dem grünen Vizekanzler Joschka Fischer geradezu beim Kapital anbiedern, die politische Macht sichern. Macht ist aber kein Selbstzweck. Macht setzt man ein, um damit Ziele zu erreichen. Und was waren die Ziele der Agenda-Politik? Den Geldmächtigen und den Unternehmern etwas Gutes zu tun.
Wir wissen doch, was passierte: Umverteilung! Die Lohnquote, der volkswirtschaftliche Anteil der abhängig Beschäftigten an der Wertschöpfung, wurde zu Gunsten der Profitquote massiv gesenkt und die Steuern auf Kapitaleinkünfte ebenfalls. Zum Ausgleich erhöhte die Politik die indirekten Steuern zu Lasten der Einkommensschwachen. Schröder lobte den von ihm ermöglichten Niedriglohnsektor in Deutschland als den Größten in der EU. Außerdem sei der überbordende Sozialstaat nicht mehr finanzierbar.
Schröder redete der Privatisierung und dem vom Großkapital beherrschten Markt, der Shareholder-Value-Maximierung, das Wort. Und wir wollen hier die Grünen nicht vergessen, die an diesem neoliberalen Paradigmenwechsel voll beteiligt waren. Wo diese Partei heute, das gilt aber auch für die SPD, ideologisch angekommen ist, können wir jeden Tag in den Zeitungen lesen.
Selbst mit einer strukturkonservativen CDU/CSU würden die Grünen heute aus reinem Machttrieb heraus sogar den Juniorpartner in einer Regierung stellen, wo sie übrigens nichts zu sagen hätten und sich nach einer Legislaturperiode mit einem einstelligen Wahlergebnis auf den Oppositionsbänken wiederfänden. All das zeigt übrigens das Egoistische eines Politikers und natürlich auch einer Politikerin, die heute an der Macht sind und sich darin selbstverwirklichen wollen. Es geht ihnen nicht um die Sache, und was danach kommt, dass ist ihnen so ziemlich egal. Hauptsache das Ego wurde befriedigt.
Und selbst das Heute wird in der Politik verdrängt, weshalb nicht wenige sogenannte Volksvertreter und Volksvertreterinnen unter Realitätsverlust leiden. Wie will man sonst erklären, dass sie, die jeden Tag von Verantwortung faseln, es ertragen, dass wir eine Armutsquote von rund 16 Prozent in Deutschland und Massenarbeitslosigkeit haben, in einem der reichsten Länder der Erde? Der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau hat einmal gesagt: "Ein Staat, der sich nicht am Ziel der Gerechtigkeit orientiert, ist nichts anderes als eine gemeine Räuberbande." Recht hatte er: Dies unterstellt allerdings, dass der Staat, die Politik, frei handeln kann und dass der Staat auch gerecht sein darf. Erlauben das aber die Geldmächtigen und das Kapital oder gibt es hier gemäß Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine "privilegierte Komplizenschaft" zu Lasten der Mehrheit im Volk?
Und jetzt frage ich Sie, sehr geehrter Herr Paul, was wollen Sie in diesem Kontext mit Strukturkonservatismus, mit den Kategorien eines neoliberalen Sozialdemokraten? Neoliberal ist neoliberal, diesseits und jenseits des Atlantik, in den USA tritt es nur deutlicher zutage.
Die Wahlkarte der USA zeigt, die Spaltung der Kulturen, zwischen Demokraten und Republikanern, ist auch eine Spaltung zwischen Stadt und Land. Insbesondere die Wahlkreismanipulation, das Gerrymandering, hat in republikanisch regierten Bundesstaaten eine lange Tradition. Ist das reines Machtkalkül? Wenn nein, wofür steht Gerrymandering noch?
Heinz-Josef Bontrup: Natürlich steht Gerrymandering auch für Machtpolitik, aber noch einmal, wer hat heute in einer Postdemokratie, von der der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch nicht unbegründet spricht, denn überhaupt noch das Sagen? Die Wirtschaft und das Kapital oder die Politik? Ich würde gerne mit dem verstorbenen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer antworten, der schon 1996 sagte: Die Finanzmärkte haben längst die Macht übernommen und Politik hat sich hier zu fügen und unterzuordnen. Noch deutlicher brachte dies 2020 der ehemalige französische Umweltminister aus dem Macron-Kabinett, Nicolas Hulot, zum Ausdruck. Er begründete seinen Rücktritt mit den Worten: "Ich merkte, dass die Politik entmachtet worden ist durch die Finanzwelt."
Warum schafft es die Politik nicht, das weltweit vagabundierende und hochkonzentrierte Kapital an die Kette zu legen? Warum wurden die Finanzmärkte liberalisiert? Warum kann die Politik die unsäglichen Steueroasen nicht schließen? Warum gibt es bis heute nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer? Soll ich weiter fragen? Hier wird doch wohl mehr als deutlich, dass Politik eben nichts mehr zu sagen hat. Crouch hat Recht, wenn er von einer Postdemokratie spricht.
Welche Rückschlüsse ziehen Sie - vor allem aus ökonomischer Perspektive - für die USA? Was sollten Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris tun? Und was werden sie Ihrer Einschätzung nach tun?
Heinz-Josef Bontrup: Die Frage muss lauten, was dürfen sie tun? Die hauchdünne politische Mehrheit in Kongress und Senat - im Senat ist es sogar ein Patt, dass aber die Vizepräsidentin Harris auflösen kann - setzt einen engen Spielraum. Mit einer für mich großen Enttäuschung gehen Biden und Harris schon ins Rennen. Sie bestellen nicht einmal den "Sozialisten" Bernie Sanders als Arbeitsminister, obwohl Sanders bis zum Schluss in den Vorwahlen bei den Demokraten neben Biden der letzte Mitkandidat war. Das lässt tief blicken. Wollen Sie eine deutliche Meinung von mir hören? Ich erwarte da nicht viel. Sicher wird es in der Außenwirtschaftspolitik wieder eine liberalere Ausrichtung geben. Gegenüber China bin ich mir nicht einmal sicher. Die Trumpsche Zollpolitik hat jedoch ein Ende.
Auch wird Biden jetzt in der Coronakrise mehr staatliche Hilfsprogramme auflegen und womöglich auch mehr in die öffentliche Infrastruktur und F&E sowie Bildung investieren. Auch das Gesundheitswesen wird profitieren. Seinen im Wahlkampf versprochenen Mindestlohn von 15 Dollar wird Biden gegen die Interessen des Kapitals und der Republikaner aber schon nicht mehr umsetzen können. An der entscheidenden, massiv ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen in den USA, den wahren Ursachen für die Spaltung der Gesellschaft, würde das aber auch nichts ändern.
Die Rückkehr zum Klimaschutzabkommen von Paris und zur Weltgesundheitsorganisation sind für eine Volkswirtschaft wie die USA nur eine Selbstverständlichkeit. Dass er die "Steuerreform" von Trump, von der nur die Vermögenden profitieren, zurücknimmt, habe ich noch nicht gehört. Also, auch zukünftig bleibt die größte Volkswirtschaft der Welt eine ökonomisch und damit tief gespaltene Gesellschaft.
Die Erleichterung hierzulande über die US-Wahl war in fast allen Parteien spürbar. Dies galt in besonderem Maße für die Konservativen und für die Altlantik-Brückler. Der Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome gab seinem Beitrag vom 9. November 2020 den Titel "Alles wieder gut!" und schrieb von einer "strahlenden Stunde der USA". Was sagen Sie zu diesen Konservativen?
Heinz-Josef Bontrup: Gar nichts ist gut. Konservative, egal ob in den USA oder bei uns, sind eben Konservative, die das Bestehende zementieren wollen. Ihre Wirtschaftspolitik ist eine einzige Katastrophe, weil sie die Interessen der Geldmächtigen und des Kapitals befriedigen. Deshalb ist die Politik der Konservativen auch immer nur eine Angebotspolitik. Dass der Markt aber auch eine Nachfrageseite hat, soweit wollen neoliberale Konservative aus ideologischen Gründen schon nicht mehr denken. Für Konservative gilt: Löhne und Steuern auf Kapitaleinkommen runter und den Sozialstaat am besten so gut wie ganz abschaffen. Diese ökonomische Irrlehre ist schon in der 1930er Jahren von dem großen britischen Ökonomen John Maynard Keynes ad absurdum geführt worden. An den sich die Konservativen aber in der Krise immer wieder gern erinnern, wenn sie in der Wirtschaft nicht mehr weiter wissen.
Welche Erkenntnisse sollten die internationale Gemeinschaft und insbesondere die EU und Deutschland aus dem Wahlergebnis für ihre eigene Politik und für den Umgang mit den USA ziehen?
Heinz-Josef Bontrup: Dass es für jede Volkswirtschaft und Gesellschaft hoch gefährlich ist, wenn man sie ökonomisch durch eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen spaltet. Und dass die demokratisch gewählte Politik das Sagen haben muss und nicht das Kapital, das in Demokratien kein Herrschaftsrecht hat. Dies aber weitgehend an sich gerissen hat, wie ich bereits erwähnt habe.
Die Globalisierung bescherte uns neben der sehr viel schnelleren Verbreitung von Krankheitserregern auch Auftrieb für rückwärtsgewandte nationalistische Bewegungen. Erwarten Sie mit der Biden-Präsidentschaft eine Chance für eine positivere Entwicklung, etwa im Sinne eines Weltgemeinwohls, wie es beim Weltwirtschaftsforum in Davos immer wieder versucht wird, herbeizureden?
Heinz-Josef Bontrup: Nein, das erwarte ich nicht. Ein Weltgemeinwohl gibt es nicht. Wir müssen es aber dennoch erreichen, dass wir bei den überlebenswichtigen Fragen für die Welt, wie beim Klima, eine konsensuale und holistische Lösung für Alle finden. Insofern ist auch die Rückkehr der USA unter das Klimaschutzabkommen sehr zu begrüßen. Dem müssen aber auch für alle Länder entsprechende Taten folgen, sonst taugen solche Abkommen nicht. Dann sind sie allenfalls Placebos.
Abschließend noch eine allgemeinere Frage. Nicht erst mit Donald Trump wurden Fake News zur Grundlage von Verschwörungstheorien und politischen Überzeugungen, die entsprechendes Handeln nach sich ziehen. Sehen sie Möglichkeiten für die Politik von Staaten und Organisationen, diesen Entwicklungen demokratiefördernd entgegen zu treten?
Heinz-Josef Bontrup: Als Wissenschaftler finde ich es unerträglich, wenn Menschen Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten. Das Internet hat dafür aber leider die Möglichkeit und gleichzeitig eine Massenverbreitungsbasis geschaffen. Dummes Zeug haben Menschen aber schon immer geredet und auch weitergegeben. Wie sagte Albert Einstein: "Zwei Dinge sind unendlich: Das Universum und die Dummheit der Menschen. Beim Ersten bin ich mir aber nicht ganz sicher." Und ein Chinesisches Sprichwort sagt: "Die Dummheit kann sich Kraft ihrer selbst leider nicht erkennen."
Mit dem Internet ist es nur aus dem Ruder gelaufen. Hier kann sich jeder und jede individuelle Fakten ohne jede wissenschaftliche Fundierung zurechtlegen und Behauptungen, die meisten sind grausam dumm, aufstellen und verbreiten - und das auch noch anonym. Man darf natürlich eine eigene Meinung haben, diese aber bitte nicht mit einer wissenschaftlichen Fundierung und umfassender Kenntnis von Sachverhalten verwechseln. Und hierbei ist zu beachten, dass Wissenschaft aus bereits empirisch verifizierten und noch nicht verifizierten Theorien besteht. Um das aber zu verstehen, muss man die jeweilige Wissenschaft und ihr "Gebäude" verstanden und durchdrungen haben.
Das ist aber gleichzeitig das Problem. Alle Menschen können das eben nicht. Das verschafft den Wissenschaftlern in einer Gesellschaft eine herausragende Position, mit der sie verantwortungsvoll umgehen müssen. Sie müssen aber auch gesellschaftlich ihre Stimme gegen die Dummheit erheben, selbst wenn Wissenschaftler damit riskieren, als arrogant zu gelten. Und der Politik sollte es gelingen, das Internet vom Anonymen zu befreien. Jeder, der was ins Internet stellt, muss dies mit seinem Namen kenntlich machen und auch verantworten, so wie ich das mit diesem Interview mache. Und ich weiß, es kommt Kritik. Das ist völlig in Ordnung. Aber es kommt eben nur anonyme Kritik und die ist in der Regel ohne jegliche Substanz und nicht in Ordnung.
Prof. Dr. rer. pol. Heinz-Josef Bontrup, Dipl.-Ökonom, Dipl.-Betriebswirt, lehrte seit 1996 an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen am Campus Recklinghausen im Fachbereich Wirtschaftsrecht Wirtschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt Arbeitsökonomie und wurde 2019 emeritiert. Zurzeit ist er Gast-Professor an der Universität Siegen im Studiengang Plurale Ökonomie und Direktor am Westfälischen Energieinstitut in der Westfälischen Hochschule. Vor seiner Berufung an die Hochschule war er lange in der Industrie tätig u.a. als Arbeitsdirektor in der Stahlindustrie.
Er ist Mitverfasser und Herausgeber der jährlichen Memoranden der seit 1975 existierenden Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sowie neben Prof. Dr. Mechthild Schrooten deren Sprecher.
Im März 2018 wurde Bontrup vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz am Bande für seine ökonomisch-wissenschaftliche Aufklärungsarbeit gegen den neoliberalen Mainstream und sein soziales Engagement verliehen.
Das Interview wurde für Telepolis von Dr. Joachim Paul geführt. In der 16. Legislaturperiode von 2012 bis 2017 war er Abgeordneter der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und dort von 2012 bis 2015 Fraktionsvorsitzender sowie europa- und wissenschaftspolitischer und von 2015 bis 2017 auch wirtschaftspolitischer Sprecher der Piratenfraktion.