Nepal: Vom Sorgenkind zum Hoffnungsträger
In Nepal, einem der ärmsten Länder der Erde, zeigen engagierte Bürger und Politiker, dass es einen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft im eigenen Land gibt - Doch die beiden Riesen China und Indien werben mit Geschenken um das eigentümliche Aschenputtel im Himalaya
In Kakarbhitta, dem östlichsten Grenzort zu Indien, ist zu sehen, was 11 Jahre Demokratie in Nepal auch hervorgebracht haben: Vor hunderten von neuen mehrstöckigen Betonklötzen sitzen auffällig viele Korpulente gemütlich beieinander. Seit dem letzten Jahr gibt es zum ersten Mal mehr übergewichtige Menschen im Land als Unterernährte.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt mittlerweile in dem 800 Km langen südlichen, an Indien grenzenden Flachlandstreifen, wo reihenweise neue Städte "wachsen". Doch produziert wird im Flachland (Terai) nicht viel: Nur sieben Prozent des Bruttosozialproduktes des Landes liefert die Industrie. Ein Drittel des BIP steuert das Ausland bei, ein weiteres Drittel die Überweisungen der Auslandsnepalesen - jedes Jahr macht sich mehr als eine halbe Millionen von ihnen der Arbeit wegen ins Ausland auf. Wer von seinem Job-Agenten oder Arbeitgeber nicht übers Ohr gehauen wurde und sparsam war, zieht nach seiner Rückkehr ins nepalesische Terai und baut an Orten wie Kakarbhitta ein Haus.
Doch Nepal ist teuer geworden. Ein Kilo Freilandhühnchen mit Knochen und Federn kostet etwa acht Euro. Ein Liter unverdünnte Milch ist beinahe doppelt so teuer wie in Deutschland. Jeden Tag muss das Agrarland Nepal bis zu 400.000 Liter Milch importieren. Fast alle Gebrauchsgüter kommen aus Indien oder China - Nepal liegt eingequetscht dazwischen, ohne Zugang zum Meer. So "muss" mindestens einer aus der Familie in immer kürzeren Abständen wieder ins Ausland.
70 Kilometer nördlich auf 1500 Höhenmeter um die Basarstadt Phikkal im Ilam Distrikt sind die Berge mit Teefeldern geschmückt. In einen von ihnen pflückt der 35-jährige Teebauer Deepak mit fünf ausländischen Gästen immer zwei junge Blätter und eine Spitze, den sogenannten Tip. "Vor 10 Jahren fing ich an, Touristen auf meine Farm einzuladen", erzählt Deepak. Fünf Dollar zahlt jeder Gast am Tag für Unterkunft und drei Mahlzeiten; dafür hilft er der Familie vier Stunden auf den Feldern. "Es geht mir nicht darum, reich zu werden. Die ausländischen Gäste können auf diese Art sehen, dass es neben dem Mount Everest auch ein anderes Nepal gibt und das Ilam erstklassigen Tee besitzt." Die hiesigen Teefabriken zahlen nur 40 Rupien (etwa 33 Cent) für ein Kilo Teeblätter - die fünf ausländischen Helfer sammeln an diesem Morgen 1,2 Kilo in zwei Stunden. So versucht Deepak mehr auf Qualität zu setzen. Sorgsam wird der Tee am Nachmittag mit der Hand gerollt und anschließend getrocknet. Dafür bekommt er dann etwa 30 Euro pro Kilo.
"Fehlende Sorgsamkeit beim Pflücken und fehlendes Selbstbewusstsein sind die Hauptgründe dafür, dass Ilam-Tee hinter dem in Darjeeling zurückliegt", sagt der 43-jährige Ananta Bo Rai einen Hügel weiter - 17 Jahre hat er Teebauern beim Anbau beraten. Dann fügt er hinzu:
Unsere Teebüsche sind besser als die in Darjeeling, weil sie jünger sind. Dazu gibt es nicht DEN perfekten Tee. Tee ist eine sensible Pflanze, die in jeder Gegend anders wächst. Wer die Pflanzen pflegt und beim Pflücken der Blätter auf Qualität achtet, legt den Grundstein für einen sehr guten Tee - der Rest ist ausprobieren und Vermarktung. Wir sollten aufhören, unseren Tee billig nach Indien zu verkaufen, wo die Händler ihn dem Darjeeling-Tee untermischen und teuer weiterverkaufen. Stattdessen sollten wir Ilam als eigene Marke präsentieren.
(Ananta Bo Rai)
"Fachkundig Qualität herstellen, anstatt im Tempel für den Erfolg zu beten"
Er selber probiert dazu gerade noch den Kaffeeanbau aus. "Vor fünf Jahren habe ich für 25 Jahre ein Stück Land gepachtet, von einem Bauern, der nach Katar gegangen ist. Dann habe ich 5000 Kaiserbäume und 3000 Kaffeepflanzen gepflanzt. Der Kapitaleinsatz betrug nur etwa 500 Dollar." Jetzt möchte Bo Rai zehn weiteren Bauern Kaffeepflanzen schenken: "Aber nur, wenn sie die Löcher für die Keimlinge genauso sorgsam mit Kompost vorbereiten, wie ich es ihnen gezeigt habe. Fachkundig Qualität herstellen, anstatt im Tempel für den Erfolg zu beten - dann kann auch in Nepal etwas auf die Beine gestellt werden", sagt er ernst.
Eineinhalb Lauftage weiter westlich, oder einen halben Tag im Jeep auf der Lehmpiste, in Chisopani: Hier sind Arbeiter in zwei Teefabriken ebenfalls eifrig bei der Tat. Dazu gibt es von den Einwohnern überraschend offensiv Politisches zu hören: "Wir haben hier genug von den Versprechen des Nepal-Kongress' (Regierungspartei in Nepal). Wir wollen Taten sehen wie von unserem Energieminister Sharma", sagt ein etwa 30-jähriger Händler, andere stimmen ihm nickend zu (vgl. Nepal: Von der Schwierigkeit, ein Wasserkraftwerk am Laufen zu halten). In Zusammenarbeit mit Kul Man Ghising, den Direktor der Nepal Electricity Authority, vollbrachte Minister Janardhan Sharma Anfang des Jahres das "Wunder" von Katmandu: Innerhalb weniger Wochen sorgten die beiden dafür, dass es kaum noch Stromausfälle gab, nachdem Sharmas CPN-Maoist-Center-Partei als Juniorpartner in die Regierung eingestiegen war.
Ein paar Laufstunden weiter westlich in der Basarstadt Budhabare ist man sogar schon einen Schritt weiter: Bei den letzten Kommunalwahlen hat die ehemalige Hochburg des Nepal-Kongress für die Partei der ehemaligen maoistischen Rebellen gestimmt: "Dass der Abgeordnete von den Maoisten ist, war völlig egal", sagt der 50-jährige Hotelier Regmi energisch. "Wir haben ihn danach beurteilt, was er die letzten Jahre für unsere Stadt getan hat!"
In der wiederum ein paar Stunden weiter gen Westen gelegenen nächsten Basarstadt, Rajarani, gibt es auch die nächste Überraschung. Der Künstler Shyam Garitan führt durch den beeindruckenden Nakbeli-Park, verziert mit selbstgehauenen Skulpturen verschiedenster Götter und Propheten dieser Erde und einem dreißig Meter hohen Wasserfall: "Seit fünf Jahren arbeite ich an diesem Park. Er soll den Bewohnern zeigen, dass sie ihre Umwelt formen können, ohne sie zu zerstören, und sich gleichzeitig einen Lebenserwerb erschaffen." Stolz zeigt er dann auf ein halbfertiges Kassenhäuschen, aus dem heraus ein junger Mann für 20 Rupien eine Eintrittskarte hervorreicht. "Zwei Menschen habe ich schon angestellt. Immer mehr Besucher aus dem Flachland die im benachbarten Bhedetar Urlaub machen, kommen zu uns", sagt der unternehmungstüchtige Künstler.
Bei einer Teepause, in einem kleinen Örtchen zwei Stunden weiter, reicht die Wirtin ungefragt Berge von selbstgemachten Keksen und Donuts. "Wir haben hier eine Mini-Fabrik, in der wir täglich 100-150 Kilo Süßwaren herstellen und an die Läden der Gegend verkaufen", erklärt ihr Sohn selbstbewusst.
Wieder zurück im Flachland (Terai), in der Stadt Janakpur, sind Indiens "Liebesbemühungen" zu bewundern: Die Arbeiten an einer neuen Eisenbahnlinie sind in vollem Gange, da Nepals letzte Eisenbahn an Altersschwäche zugrunde ging. Im Norden Nepals, in Rasuwagari, planen auch die Chinesen eine Linie. Am Kali Gandhaki Fluss in Upper Mustang sind sie kurz davor, eine zweite Handelstrasse fertigzustellen, die bis zur indischen Grenze nach Sonauli führen soll. Noch vor 15 Jahren waren am Kali Ghandaki nur einige Trekker sowie Einheimische zu finden, die bis zu 100 Kilo schwere Körbe trugen.
Auch 200 Kilometer weiter westlich in Lukumgau, dass im Rückständigen Mittel-Westen des Landes liegt, tut sich etwas. Hier hatte Energieminister Sharma im Februar dazu beigetragen, dass ein kleines Wasserkraftwerk gerettet werden konnte, wie noch siebzehn weitere im Distrikt Rukum. Dort befand sich auch die Wiege des 10-jährigen maoistischen Aufstandes, der 1996 begann, nachdem die beiden Volksparteien Nepali Kongress und UML die ersten demokratischen Gehversuche mit ihrer Korruption zu Nichte gemacht hatten.
Bis heute sichern diese beiden Parteien die Macht der hochkastigen hinduistischen Eliten. Doch es überrascht nur auf den ersten Blick, dass die politische Partei der ehemaligen Rebellen CPU-Maoist-Center für die diesjährigen Wahlen ein Bündnis mit der UML eingegangen ist: "Die Menschen in Nepal verlangen von der Politik, dass man ihnen hilft, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, und ich kann ihnen nicht helfen, wenn wir uns auf ideologische Grabenkämpfe beschränken", sagte Minister Sharma im Februar am Lehmofen zu mir.
Doch der Erfolg bei den Dezemberwahlen kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es in Nepal mehr Sharmas bräuchte: da reicht ein Blick über die südliche gelegene Bergkette in den Distrikt Rolpa. Der hiesige Distrikt war einst eine weitere Hochburg der maoistischen Rebellen. Doch in der Ortschaft Thabang hat die lokale Bevölkerung allen politischen Parteien jegliche Wahlveranstaltungen verboten - auch den Maoisten. Die Menschen Thabangs haben genug von den ewig leeren Wahlversprechen - sie wollen endlich Taten sehen. Zudem werden die Maoisten in der künftigen Regierung wieder nur den Platz des Juniorpartners einnehmen.
Selbst einer Regierung, die mehr auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingeht als die jetzige, wäre immer noch mit Realitäten konfrontiert: "Wir können uns nicht gegen große, von ausländischen Konzernen finanzierte Wasserkraftwerke wehren. Sie sind ein mühsamer Weg, uns aus der finanziellen Abhängigkeit vom Ausland zu lösen, wenn wir es schaffen, die Einnahmen vernünftig in eigene Projekte investieren", sagt Minister Sharma.
Sollten Politiker wie er in Nepal keine Eintagsfliegen bleiben und mehr Bürger in qualitative Projekte im eigenen Land investieren, würde das arme Aschenputtel Nepal in zehn Jahren zwar weiterhin nicht zu den reichsten Ländern der Region gehören, aber es könnte vielleicht das sein, das seinen Bürgern die höchste Lebensqualität bietet; denn was nützt alles Wirtschaftswachstum durch Billig-Industrien und Großkonsum, wenn die Flüsse verseucht sind? Bangladesch und Indien lassen grüßen.