Nepal: Wahlen, die niemand will und niemand braucht
- Nepal: Wahlen, die niemand will und niemand braucht
- Die nahe Zukunft
- Auf einer Seite lesen
Mitten in der Corona-Pandemie verkündet Nepals Premierminister die Auflösung des Parlaments und ordnet Neuwahlen an
Am 20. Dezember 2020 tritt ein aufgebrachter Khadka Prasad (K.P.) Sharma Oli, Premierminister und Chef der Regierungspartei NCP (Nepal Communist Party), vor die Presse. Kurz vorher hatte er Präsidentin Bidhya Devi Bhandari die Papiere zur Auflösung des Parlaments und Durchführung von Neuwahlen Ende April/Anfang Mai zur Unterzeichnung vorgelegt. Gemäß der Verfassung, laut der ihr Amt nur formal das mächtigste ist, folgte sie den Anordnungen des Premiers. Das Vorgehen von Oli und Bhandari sorgte rundum für Bestürzung.
Dass es wahrscheinlich gegen die Verfassung verstößt, ist noch eines der geringeren Probleme. Schwerer wiegt, dass in einer der schwersten Krisen in der Geschichte des Landes die Politik praktisch paralysiert ist. Am bedenklichsten ist die Frage, wie das politische System funktionieren soll, wenn es dazu nicht einmal unter idealen Bedingungen in der Lage ist. 208 von 275 Abgeordneten hatten Oli im März 2018 zum Premier gewählt. Das sind über 4/5 der Stimmen.
Seit Beginn der demokratischen Phase 1990 konnte sich noch nie ein Regierungschef auf eine so breite Mehrheit stützen. Nun schickte Herr Oli dieses Parlament in die Wüste. Bevölkerung und Beobachter fragen sich seitdem: Wenn ein Premier nicht einmal mit solcher Rückendeckung sinnvolle Regierungsarbeit leisten und die fünfjährige Legislaturperiode überstehen kann, wie dann?
Langes Warten auf Fortschritt
Nepal und seine Menschen haben eine wahre Achterbahnfahrt zur Moderne hinter sich. Nachdem es lange zu den ärmsten und rückständigsten Länder Asiens gehörte, begannen sich ab 1990 die Umstände rasant zu wandeln. Die erste Dekade war vom Ringen zwischen den demokratischen Kräften untereinander und dem zunehmenden Konflikt mit dem nun konstitutionellen Monarchen gekennzeichnet. 1996 begann der Bürgerkrieg der Maobaadi (Nepali für Maoisten), den sie zusammen mit den bürgerlichen Parteien gewannen und der 2006 zur Abschaffung der Monarchie führte.
Politisches Chaos dominierte die nächste Dekade: Kurzlebige Regierungen, Aufstände benachteiligter Volksgruppen, das Erdbeben von 2015 und endlose Diskussionen um die neue Verfassung (die siebte! seit 1950) hielten sämtliche Regierungen von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Für die Bevölkerung war das nicht wirklich von weiterer Bedeutung; ohne Unterstützung staatlicher Institutionen den Alltag zu meistern und voran zu kommen, sind sie lange gewohnt und waren deshalb auch nicht besonders überrascht, als es nach den demokratischen Reformen dabei blieb.
Endlich ein Neuanfang?
Die Wahlen vom November 2017 lieferten das eindeutigste Ergebnis in der Geschichte des Landes. Die Menschen hatten genug von regionalen Splitterparteien und den ehemaligen Hoffnungsträgern der Maobaadi, die bei drei Versuchen an der Regierung nicht mehr Erfolg hatten als die Parteien, die sie eigentlich mit der Monarchie zusammen hatten ablösen wollen.
Um auf einen grünen Zweig zu kommen, mussten sie mit ihren ehemaligen Erzfeinden, den Kommunisten von der UML (United Marxist-Leninist), ein Wahlbündnis eingehen. Im Frühjahr 2018 fusionierten die Partner. Aus der UML unter Oli als Seniorpartner und den Maobaadi unter Pushpa Kamal Dahal, der eher unter seinem Nom de Guerre "Prachanda" (der Schreckliche) bekannt ist, wurde die NCP (Nepalesische Kommunistische Partei). Die neue Partei gewann mit ihren regionalen Koalitionspartnern 190 der 275 Sitze. Bei der Vertrauensfrage nach Vereidigung stimmten sogar 208 Abgeordnete für die Oli-Regierung.
Parallel wurden die Regierungen der sieben neuen Provinzen zum ersten Mal gewählt und die NCP konnte sich in sechs davon durchsetzen. Obendrein ist seit Oktober 2015 Bidhya Bhandari Präsidentin. Selber ein langjähriges Mitglied der UML, ist sie die Witwe des hochangesehen früheren UML-Generalsekretärs Madan Kumar Bhandari, der 1993 unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben kam.
Von den Statuten her ist ihr strikte Neutralität auferlegt. Doch war selbstverständlich, dass sie ihrem alten Parteifreund Oli keine Steine in den Weg legen würde. Die Machtfrage war demnach für nepalesische Verhältnisse so eindeutig geregelt wie sonst nur zu Zeiten eines absolut herrschenden Monarchen.
K. P. Olis innere und äußere Opposition war geschwächt; und die anderen Staatsinstitutionen wenn nicht mit loyalen, dann doch wohlmeinenden Leuten besetzt. Alles schien bereit, um endlich einen kreativen Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. Das war allen Regierungen seit dem Ende der inneren Kolonisation durch die Ranas 1950 nur selten gelungen.
Die Maschinerie kommt nicht in Gang
Bis Corona bewegte die Regierung nicht viel. Es ist zwar ein Erfolg, dass sie überhaupt so lange bestehen blieb und Herrn Oli fehlt ein halbes Jahr im Amt, um zum längst amtierenden Premier seit 1990 zu werden - mit dreieinhalb Jahren.
Die Regierung störte auch nicht mit andauernden Parlaments- und Verfassungskrisen den Ablauf von Wirtschaft und Gesellschaft. Doch den Menschen ist das mittlerweile zu wenig. Wenn sie nun, nach vielen Anläufen, endlich das maßgeschneiderte Regierungssystem erkämpft haben und dies zusätzlich optimal besetzt ist, dann müssen auch die Versprechungen, die sie von ihren Netas (Parteiführern) seit Jahrzehnten zu hören bekommen, Realität werden.
Denn darum ist es in den langen Wirren seit dem Ende der Ranas vor über 70 Jahren und forciert seit 1990 gegangen: Nicht mehr um das Wohl des Königs oder einer adligen Familie - und auch nicht jenes einer besonderen Kaste oder Volksgruppe -, sondern um das Wohl des ganzen Volkes. Die Menschen hatten ihre Pflicht getan, nun mussten das System und seine Repräsentanten liefern. Aber es geschah wenig. Die Rahmenbedingungen hatten sich geändert, das Personal war aber gleich geblieben. Das war die Crux. Kein System funktioniert, wenn es nicht sinngemäß angewendet wird.
Eine Hoffnung zerschlägt sich
Zu Beginn der Corona Krise erwartete die Bevölkerung keinen Beistand vonseiten der Regierung. Dazu waren die Erinnerungen an das Doppelbeben von 2015 zu frisch, als neben den alten Tempeln im Kathmandutal gleichzeitig die Landesverwaltung kollabierte und aufhörte zu existieren. So extrem war es im März 2020 nicht, und man muss Herrn Oli und seiner Mannschaft zugute halten, dass für diese Aufgabe einfach kaum Ressourcen zur Verfügung standen (warum ist eine andere Frage).
Nicht nur Nepal wurde von Corona an seine Grenzen gebracht, genauso erging es den (relativ) wohlhabenderen und weiter entwickelten Nachbarn Indien, Pakistan und Bangladesch. Und selbst in der westlichen Welt hätte man sich nicht träumen lassen, welche Ausmaße vor allem die zweite Infektionswelle annehmen würde. Lange blieben die Zahlen sogar weit unten. Keine echte Überraschung, Tests waren praktisch keine vorhanden und verlässliche Zahlen sind selbst in geruhsamen Zeiten zu kaum einem Umstand je erhoben worden.
In den ersten Wochen wurde mit dem lang erprobten Mittel der Verbalattacken auf Indien versucht, vom eigenen - man kann es nicht anders nennen - Versagen abzulenken. Im Sommer zeigten sich dann die ersten Risse in der NCP. Das hatte nichts mit der verfehlten Corona Politik zu tun. Einige Netas aus der zweiten Riege der ehemaligen UML (die natürlich informell weiterbestand), aber vor allem Parteivize Prachanda warfen Herrn Oli eigenmächtige Entscheidungen, Ignorierung von Parteigremien und, wie man so schön sagt, "Führungsstil nach Gutsherrenart" vor. Es kann nicht so schlimm gewesen sein, denn im nennenswerten Umfang fand Politik, innerparteilich oder nationaler Ebene, kaum statt.
Bei den zunehmenden Sticheleien und Beleidigungen ging es nicht um Sachfragen oder überhaupt das, was gemeinhin unter Politik verstanden wird: Stattdessen zeigte sich - wieder einmal - die wahre Antriebskraft allen politischen Streitens: Sich und seine eigene Gruppe so weit als möglich an den Erträgen des Staates zu beteiligen. Vermutlich hatten sich nach den Wahlen die Netas der NCP die Hände gerieben bei ihren Aussichten, nun zum ersten Mal fünf Jahre lang - die ganze Wahlperiode - Zugriff auf die sämtliche Ressourcen zu haben.
Daraus wurde Dank Lockdown und Wirtschaftskrise nichts, die Staatskassen waren Ende 2020 völlig leer. Wahrscheinlich kam es bei der Nachverhandlung des Verteilungsschlüssels zum Krach zwischen den Parteichefs. Ab Ende November, nach Austausch von Boshaftigkeiten weit unter der Gürtellinie, waren die Herren Oli und Dahal nicht mehr bereit, miteinander zu sprechen.
Das Ende vom Lied
Die Frage war nun, wie sich vor allem Herr Oli aus seiner Lage befreien wollte. Die Verfassung von 2015, die insgesamt siebte, war relativ unerprobt, doch sehr wahrscheinlich - damit beschäftigt sich zurzeit das Oberste Gericht, der Supreme Court (SC) - bietet sie keinen Weg, das Parlament ohne Anlass aufzulösen. Warum auch, würde man fragen. Und die Situation hatte etwas besonders Absurdes: Der Regierungschef kämpfte nicht mit der Opposition, sondern der eigenen Partei und dem Koalitionspartner.
An dieser Stelle kam Präsidentin Bhandari zu Hilfe. Die fragwürdigen Vorlagen des Premiers unterzeichnete sie ohne mit der Wimper zu zucken oder fachlichen Rat einzuholen. Dabei ist es keine Anfeindung, ihre nur mittelmäßige Kenntnis der neuesten Verfassung zu bescheinigen, der Mehrheit der Minister und Abgeordneten geht es nicht anders.
Solche Gedanken machte sie sich aber wohl nicht - sie sah ihren alten Parteikameraden in Not und tat, was sie konnte. Es folgte, was immer folgt: Die NCP zerbrach in ihre alten Bestandteile UML und Maobaadi, die sich wieder Communist Party Nepal Maoist Centre (CPN-MC) nennt.
Für die UML war das noch nicht das Ende: Von ihr spaltete sich unter Herrn Madhav Kumar Nepal, ebenfalls einem früheren Premier und Vorsitzenden der UML, eine Gruppe samt Abgeordneten ab und gründete eine neue Partei, die bis jetzt keinen Namen besitzt (natürlich hofft die Nepal-Fraktion, als die wahre UML anerkannt zu werden). Gleichzeitig begannen in mehreren Provinzen die Regierungen und Parteien zu zerfallen.