Neuer Autoritarismus: Exempel Tunesien

Die Demokratie steckt in einer tiefen Krise, von der Revolution fehlt jede Spur

Das verflixte zwölfte Jahr hatte keinen glücklichen Einstieg. Am zurückliegenden Freitag war es elf Jahre her, dass der langjährige Präsident (1987 bis 2011) Zine el-Abidine Ben Ali aus Tunis ins saudi-arabische Exil flog. Dort, in Dschidda, ist er vor nunmehr gut zwei Jahren auch verstorben.

Im Unterschied zu den vorigen Jahrestagen dieses ersten Höhepunkts des "Arabischen Frühlings" von 2011, die – jedenfalls in Tunesien – von einer zwar chaotischen, aber einigermaßen funktionierenden, neu eingerichteten Demokratie und zugleich von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt waren, fand der diesjährige unter veränderten politischen Bedingungen statt. Nach Jahren versuchter Konsolidierung eine aufgrund sozio-ökonomischer Verwerfungserscheinungen kriselnden Demokratie steht der Januar 2022, auch in Tunesien, im Zeichen eines neuen Autoritarismus.

Ein Anzeichen dafür war, dass alle Demonstrationen in Tunis in diesem Jahr verboten waren – unter dem durchsichtigen Vorwand der Corona-Pandemie – ; zwischen 1.000 und 3.000 Menschen, je nach Angaben, kamen dennoch zusammen und wurden mit Polizeiknüppeln und Wasserwerfern auseinandergetrieben. Es kam zu zehn Festnahmen. Auch ausländische Pressekorrespondenten wurden nicht verschont.

Zwanzig Angriffe auf Journalisten wurden verzeichnet, und der seit sechs Jahren in Tunesien arbeitende Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération wurde durch die Polizei zusammengedroschen. Zwanzig tunesische Nichtregierungsorganisationen protestierten energisch gegen die Repression.

Möglicherweise forderte dieses auch einen Toten. Jedenfalls ermittelt inzwischen die tunesische Justiz wegen eines "verdächtigen Todesfalls"; es geht um einen 57-jährigen Zahnarzt aus der Stadt Sousse, mit Namen Ridha Bouzayane. Er war nach der Auflösung der Demonstration bewusstlos aufgefunden worden.

Vorliegenden Informationen zufolge gehörte er einem Kollektiv von "Bürgern gegen den Putsch" an. Die islamistische Partei En-Nahdha bezeichnet ihn inzwischen als "Mordopfer" und spricht davon, er sei fünf Tage lang auf einer Intensivstation verblieben und an Hirnblutung verstorben; es scheint sich bei dem Toten um einen Sympathisanten dieser Partei gehandelt zu haben. Die Staatsanwaltschaft behauptet derweil, keine äußeren Spuren von Gewaltanwendung an dessen Leiche gefunden zu haben.

Beinahe zeitgleich legte die internationale NGO Reporter ohne Grenzen, französisch RSF abgekürzt, einen kritischen Bericht zum derzeitigen Zustand der Pressefreiheit in Tunesien vor. Die Nichtregierungsorganisation hatte bereits im September 2021 gegen jüngste Übergriffe staatlicher Organe auf Presseschaffende protestiert.

Es ging konkret um gewaltsames polizeiliches Vorgehen gegen neun Journalisten anlässlich einer Demonstration in Tunis am 1. September. In der Vergangenheit hatte RSF sich bereits gegen die Ben ‘Ali-Diktatur und ihr Vorgehen gegen die Arbeit der Presse positioniert (vgl. ein Beispiel aus dem Jahr 2001: In jenem Jahr wurde Reporter ohne Grenzen daraufhin durch die Diktatur aus Tunesien ausgewiesen).

Rückkehr zum autoritären Präsidialsystem

Der Präsident Kaïs Saïed übernimmt die exekutiven Vollmachten der Regierung, schasst den Premier – und wenige Tage später auch den Verteidigungs- sowie den Finanzminister und über zwanzig andere hohe Staatsfunktionäre.

Er schickt das Parlament für vorerst dreißig Tage nach Hause – der Beschluss ist verlängerbar (und wird auch verlängert werden!) – und hebt die parlamentarische Immunität der Abgeordneten auf, tauscht den Vorsitzenden der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt aus, verhängt eine Ausgangssperre ab 19 Uhr (diese wird nach einigen Tagen auf 22 Uhr hinausgeschoben) und lässt im Internet durch seine Büroleiterin kuriose Songs zu seinem persönlichen Ruhm veröffentlichen.

So lässt sich die Situation kurz zusammenfassen, die in Tunesien durch eine Krisensitzung im Präsidialamt am Abend des 25. Juli 2021 eingeleitet wurde.

Über zwei Monate lange blieb Tunesien ganz ohne Regierungschef(in), und der Staatspräsident regelte die wichtigsten Regierungsgeschäfte unmittelbar selbst.

Erst am 11. Oktober 2021 wurde eine neue Premierministerin vereidigt, die Ingenieurin Najla Bouden – die erste Frau in diesem Amt, was man als wichtigen symbolischen Fortschritt auslegen kann, allerdings auch fast ohne eigene Macht. Denn alle maßgeblichen Entscheidungen trifft der Staatspräsident nach wie vor selbst.

Kurz zuvor hatte Anfang Oktober 2021 erstmals eine größere Demonstration mit mehreren Tausend Menschen, mindestens 6.000, gegen die Amtsführung von Präsident Kaïs Saïed und den "institutionellen Putsch" stattgefunden.

Zuvor fanden hauptsächlich mehr oder minder kleine Demonstrationen für und gegen die Beschlüsse des Präsidenten gleichermaßen statt. Manche; vor allem die Kritiker – das liegt in der Natur der Sache –, sprechen von einem "Putsch". Sofern der Ausdruck zutrifft, erfolgte er allerdings nicht außergesetzlich, da die im Februar 2014 in Kraft getretene Verfassung eine solche Konzentration der Vollmachten im Krisenfall und für vorübergehende Zeit zulässt.

Dies, obwohl die Verfassung von 2014 deutlich weniger auf ein Präsidialsystem zugeschnitten ist als die vorherigen Texte, die den beiden Langzeitpräsidenten Habib Bourguiba (1956/57 bis 1987) und Zine el-Abidine Ben Ali (1987 bis 2011) auf den Leib geschnitten waren.

Habib Bourguiba / Zine el-Abidine Ben Ali / Kaïs Saïed. Bilder: Habib Osman, Public Domain / Presidencia de la Nación Argentina, CC-BY-2.0 / Houcemmzough, CC-BY-SA-4.0

Dennoch wollte die jüngste Verfassung, die infolge der Umbrüche von 2011 in Tunesien und Nordafrika angenommen worden war und ein stärker parlamentarisch ausgerichtetes Regierungssystem vorsieht, eine institutionelle Lösung für mögliche Pattsituationen anbieten – solche, bei denen der Staatschef einerseits, die Parlamentsmehrheit und/oder die aus ihr hervorgegangene und von ihr kontrollierte Regierung andererseits einander blockieren.

Zugleich entspringt die seit Monaten ausgebrochene Krise einigen der Schwächen eben dieser Verfassung. Nicht nur, dass diese, obwohl sie das alte autoritäre Präsidialsystem überwunden helfen sollte, nach wie vor ein direkt vom Volk gewähltes Staatsoberhaupt mit vergleichsweise starker Stellung beinhaltet.

Sie sieht ferner keine Verfassungsgerichtsbarkeit vor, die bei einer Krise zwischen den führenden Institutionen des Landes einspringen und – als eine Art Schiedsrichter wirkend – die jeweiligen Grenzen ihrer Rolle definieren könnte, wie dies etwa im französischen Präsidialsystem immer wieder erfolgt.

Genauer, theoretisch behandelt die Verfassung die Konturen eines Verfassungsgerichts, das jedoch nie eingerichtet wurde, da die führenden Parteien in der Verfassungsgebenden Versammlung (2011 und 2014) und später ihm – diese drei Jahre später ablösenden – Parlament sich nicht über dessen Besetzung einigen konnten.

Vor diesem Hintergrund regierten denn auch die jeweils im Oktober 2019 gewählten und aus nicht deckungsgleichen politischen Mehrheiten entstammenden Spitzen der Exekutive, Präsident Kaïes Saied einerseits und eine heterogen zusammengestückelte Parlamentskoalition auf der anderen Seite, munter drauf los, jedoch in oft entgegen gesetzter Richtung.

Als Premierminister der Kraut-und-Rüben-Koalition amtierte seit September 2020 der damals 46-jährige Technokrat und frühere hohe Beamte Hichem Mechichi, den Saïed nun im vorigen Hochsommer entließ. Sein Vorgänger Elyes Fakhfakh hatte im Hochsommer 2020 aufgrund wirtschaftlicher "Interessenkonflikte" seinen Hut nehmen müssen, was damals bereits eine Regierungskrise beinahe epischen Ausmaßes auslöse.

Konflikte und Korruptionsverdächtigungen wurden auch danach nicht ausgeräumt. Im Gegenteil. Nicht nur, dass viele Fraktionen und Interessengruppen in dem ziemlich zersplitterten Parlament vor allem für die Rechnung ihrer jeweiligen, z.T. eng zugeschnittenen Klientelgruppe tätig scheinen.

Auch Minister oder Ministerpostenkandidaten bleiben von einem solchen Verdacht keinesfalls verschont. Schon seit Anfang 2021 verweigerte das Staatsoberhaupt die Ernennung mehrerer Minister, die die damals regierende Koalition ausgewählt hatte. Neun Kabinettsmitglieder konnten deswegen nur kommissarisch amtieren und als Übergangsminister ohne offiziellen staatlichen Titel die laufenden Geschäfte erledigen.

Saïed selbst strebte und strebt erklärtermaßen nach einer noch stärker präsidialen Ausrichtung der Regierung, einer Überwindung des Parteiensystems und dessen Ersetzung durch per Mehrheitswahlrecht gewählte lokale Repräsentanten, die ein neues Regierungssystem außerhalb der Parteien errichten sollen.

Die Parteien

Politische Parteien spalten ihm zufolge nur das Volk, innerhalb dessen Interessenvertretung deshalb aufgrund lokaler und regionaler Grundlage erfolgen soll, nicht entlang ideologischer oder interessenverbandsmäßig organisierter Trennlinien.

Manche lokalen Beobachter verglichen dieses Ansinnen mit der einstigen Vorstellung von "Basisherrschaft" eines Muammar Al-Qadhafi (eingedeutscht: Gaddafi) im Nachbarstaat Libyen; Letzterer hatte ab 1975 alle politischen Parteien, inklusive der seinigen, verboten und stattdessen "Volkskomitees" ausgerufen.

Auf örtlicher Ebene widerspiegelten diese dann, in Ermangelung von Parteien, unabhängigen Gewerkschaften oder Organisationen der Zivilgesellschaft, meist überkommene Clan- und Stammesstrukturen. Allerdings lässt sich die tunesische Regierung nicht mit dem Gaddafi-Regime vergleichen, ihr fehlt sowohl dessen offene Brutalität und Gewaltaffinität als auch dessen zeitweilige revolutionär klingende Rhetorik.

(Nichtsdestotrotz und ungeachtet solcher Unterschiede hatten sich Tunesien unter Bourguiba und Libyen unter Gaddafi in den Siebzigerjahren rund zwei Jahre lang zu einem Einheitsstaat zusammengeschlossen, bevor das Fusionsprodukt wieder auseinanderfiel, ähnlich wie frühere Vereinigungsversuche etwa zwischen Ägypten und Syrien zwischen 1958 und 1961.)

Was die Parlamentskoalition betrifft, die Mechichi 2020 ins Amt gestimmt hatte, basierte dieses besonders aus drei Parteien, die vieles unterschied: die dereinst den Muslimbrüdern nahe stehende, doch in viele jenseits ihrer Ideologie liegende innenpolitische Kompromisse involvierte Partei En-Nahdha ("Wiedergeburt") mit 54 von insgesamt 217 Sitzen, die "Koalition Karama (Würde)" mit – je nach Stand ihrer Spaltungen – 17 bis 20 Mandaten sowie die Formation Qalb Tounès ("Herz Tunesiens") mit 38 Abgeordneten.

Die Letztgenannte ist die personenzentrierte Partei des populistischen Sunny Boys, windigen Geschäftsmanns und Berlusconi-Verschnitts Nabil Karoui, er wurde bei der letzten Präsidentschaftswahl Zweiter.

Karama wiederum ist eine radikalislamistische Partei, die vorwiegend salafistische Ideologieelemente mit einigen nationalistischen Versatzstücken kombiniert. Dass letztere Partei etwa den Vorsitz im Verteidigungsausschuss des 2019 neu gewählten tunesischen Parlaments erhielt, konnte nicht als unproblematisch gelten, zumal manche ihrer Abgeordneten auch nachweisliche Verbindungen mit Personen hielten, die mit einem behördlichen Ausreiseverbot belegt waren – nicht, weil ihnen eine übergroße Neigung zu Butterfahrten vorgeworfen wurde, sondern weil der Verdacht nahe lag, auf dem Reiseprogramm könnte gegebenenfalls das Absäbeln von Köpfen in Syrien stehen.

Karama-Chef Seifeddine Makhlouf wurde etwa vorgeworfen, eine solche Person 2020 mit einem Besucherstatus ins Parlament eingeladen zu haben. Zu einem weiteren Zwischenfall kam es im März 2021, als Makhlouf und zwei seiner Parlamentskollegen am Flughafen von Tunis in Begleitung einer ebenfalls mit einem solchen Ausreiseverbot belegten Dame kontrolliert wurden.

Daraufhin ermittelte die Militärjustiz, ihre Untersuchung wurde jedoch durch die strafrechtliche Immunität der Abgeordneten blockiert. Nun fiel diese Immunität seit Ende Juli 2021. Entsprechend wurden nun wieder Justizermittlungen gegen Karama-Abgeordnete aufgenommen. Aber auch der parteiunabhängige Parlamentarier Yassine Ayari wurde im Zusammenhang mit dieser Immunitätsaufhebung festgenommen.

Ihm wurde 2018 Kritik an der Armee als "Beleidigung" vorgeworfen. Eine daraufhin erfolgte gerichtliche Verurteilung zu zwei Monaten Haft (ohne Bewährung) blieb bis dato aufgrund seines Abgeordnetenstatus ausgesetzt. Deswegen er Anfang August 21 inhaftiert. Daran übten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty international scharfe Kritik.

Durchaus eine gewisse Popularität

In den letzten Monaten behielt Präsident Kaïs Saïed durchaus in relevanten Teilen der Bevölkerung, auch in ihrer Jugend, zunächst durchaus eine gewisse Popularität bei. Glaubt man jedenfalls den veröffentlichten Umfragen, so sank diese kurz vor dem Jahreswechsel 2021/22 ab, blieb jedoch noch immer bei rund zwei Dritteln positiven Meinungen.

Gleichzeitig standen Stützpfeiler des Staates wie die Armee – diese ist in Tunesien, im Vergleich etwa zu Algerien und Ägypten, politisch eher schwach, da Bourguiba sie seit der Unabhängigkeit aus Angst vor einem Militärputsch kurz hielt und sein Nachfolger Ben Ali eher den Polizeistaat als die Armee ausbaute –, aber auch eine zentrale gesellschaftliche Institution wie der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT bei der laufenden innenpolitischen Auseinandersetzung eher aufseiten von Präsident Saïed.

Die UGTT beispielsweise mochte dessen (von Anderen so bezeichneten) "institutionellen Putsch" nicht rundheraus verurteilen, forderte aber zugleich alsbald nach dem 25. Juli die Ernennung eines neuen Premierministers – er wurde dann eine Premierministerin –, um mit ihm oder ihr über die Inhalte ihrer sozialen Agenda zu diskutieren. Dies bedeutete implizit eine Nichtanerkennung der Tatsache, dass Staatspräsident Saïed selbst quasi wie ein Regierungschef agieren sollte, ohne diesen aber frontal zu konfrontieren.

Regierungsislamisten bezahlen die Zeche ihrer zehnjährigen Bilanz

Jedenfalls positionierte man sich seitens dieser verschiedenen Akteure zunächst vorwiegend gegen die bisherige Regierungskoalition und vor allem gegen die Formation En-Nahdha, die zwischen ihren ziemlich unterschiedlichen Mitgliedern eine Scharnierfunktion einnimmt.

Ursächlich dafür ist vor allem ihre Abnutzung in der so genannten Regierungsverantwortung, für deren enttäuschende Ergebnisse sie weitgehend verantwortlich gemacht wird.

En-Nahdha gehörte allen Regierungsbündnisse seit der ersten freien Wahl in Tunesien vom Oktober 2011 an, stellte von Ende 2011 bis zur nächsten darauf folgenden Wahl im Herbst 2014 den Premierminister und gehörte danach den späteren Kabinetten an, auch ohne den Regierungschef zu ernennen.

Vor allem aber wird ihr das notorische Versagen der Regierungen, die sich ab 2011 abwechselten, bei der Lösung der drängendsten sozialen und ökonomischen Probleme vorgeworfen. Diese verschlimmerten sich von 2011 bis 2019 graduell, seitdem jedoch sprunghaft. Zunächst wurde Tunesien durch viele Investoren, die Umbrüche, Revolutionen gar – wenn man die erfolgreichen Massenproteste gegen die Ben Ali-Diktatur im Winter 2010/11 als solche analysieren möchte – als Stabilitätsgefährdung und "Unordnung" betrachtet, abgestraft.

Diese verlagerten Kapital eher in das als Hort der Stabilität geltende Marokko, wo die wahre Macht beim Monarchen und dem Sicherheitsapparat gilt und die Arbeitsruhe erheblich weniger als in Tunesien durch die Welle der Umbrüche zu Anfang des vorigen Jahrzehnts beeinträchtigt wurde. (Auch in Marokko kam es 2011, erneut 2016/17 zu mehr oder minder starken Protesten, jedoch wurde zu keinem Zeitpunkt politisches Führungspersonal aus dem Amt gejagt.)

Zugleich versäumte es das Regierungspersonal in Tunesien gänzlich, über einen etwaigen Umbau des Wirtschaftsmodells nachzudenken, etwa einen Abschied von der starken Abhängigkeit von Europa in den wichtigsten Industrie- und Dienstleistungszweigen: Tourismus, Automobilzulieferer und Textilindustrie.

Den Tourismus brachte die Corona-Krise ab Frühjahr 2020 zum Erliegen, womit eine weitere Zuspitzung und wirtschaftliche Katastrophe vorprogrammiert war. Auch wenn Tunesien schon ab dem 27. Juni 2020 seine Grenzen aus Rücksicht auf die völlig überdimensionierte Hotelindustrie wieder offen hielt, womit das Land sich auf Dauer jedoch eine zusätzliche Verschärfung der Pandemielage einhandelte.

Diese führte im Sommer 2021 zum weitgehenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems, einer völligen Überlastung der Krankenhäuser, einem akuten Mangel an Sauerstoffflaschen für Beatmungsgeräte und der höchsten Sterberate auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Auch derzeit herrscht im Kontext der Ausbreitung der Omikron-Virusvariante wieder Alarmzustand in Tunesien, und vor Kurzem wurde deswegen eine Ausgangssperre angekündigt.

Dieses Ausmaß der Gesundheitskatastrophe bildete sicherlich den unmittelbaren Auslöser für die nun ebenfalls akute politische Krise. Ihre tieferen Ursachen wurden jedoch längst zuvor angelegt.

Gleichzeitig bilden die Ereignisse in Tunesien, nach dem Putsch in Ägypten gegen die kurzlebige Muslimbrüder-Regierung 2013 sowie der Niederlage des mit Islamisten zusammen regierenden sudanesischen Diktators Omar el-Baschir gegen Massenproteste im Sudan 2019, einen weiteren Tiefpunkt für die Parteien des politischen Islam in Nordafrika.

Ihnen blieb in den Regierungsetagen der Region zunächst nur noch der Premierminister aus den Reihen der islamistischen Partei PJD ("Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") in Marokko – und auch diese verlor im September 2021 krachend die dortigen Parlamentswahlen.

Bei En-Nahdha brachen unterdessen, als Antwort auf den erlittenen Rückschlag, eifrig die Flügelkämpfe aus, die etwa auf die Führungssitzung vom 04. August '21 durchschlugen. Diese paralysierten die islamistisch inspirierte Partei zunächst zusätzlich.

Januar 2011 – Januar 2022

Einige Monate später nun: Wie hat sich die Situation entwickelt? Innenpolitisch hat sich bislang nicht viel entwickelt. Zwar wurde eine neue Regierungschefin ernannt – siehe oben –, doch nach wie vor zieht der Staatspräsident alle wichtigen Fäden.

Und auch weiterhin will Saïed mit Sondervollmachten per Dekret regieren. Seit Mitte Dezember vorigen Jahres sind nun Neuwahlen zum Parlament für Ende 2022 in Aussicht gestellt worden. De facto wird das Abgeordnetenhaus also, bis dahin, anderthalb Jahre lang entmachtet gewesen sein.

Nun wurde in diesem Kontext der Jahrestag der "Revolution", die jedenfalls zumindest keine vollendete war, begangen. Mehrere Demonstrationen sollten aus diesem Anlass stattfinden, wurden jedoch, wie eingangs geschildert, mittels eines massiven Polizeiaufgebots verhindert.

Seit Längerem kündigte die linksgerichtete "Werktätigenpartei" (Parti des travailleurs, le PT) unter Hamma Hammami – die breiter angelegte Nachfolgeorganisation der früheren maoistischen und pro-albanischen Oppositionspartei "Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens" (PCOT, Parti Communiste Ouvrier Tunisien) -, die im vorigen Jahrzehnt eine Hauptkraft des mittlerweile restlos gescheiterten Linksbündnisses Front populaire bildete, für dieses Datum Protest an. Dieser richtet sich gegen die erwähnte Konzentration der staatlichen Machtbefugnisse in den Händen von Staatspräsident Kaïs Saïed.

Der PT hatte bereits ab Ende Juli 21 zu den schärfsten Kritikern der neuen Ausrichtung der Staatsspitze nach dem Eingreifen von Präsident Saïed und seinem "institutionellen Putsch" gezählt, während andere Oppositionsparteien sich zunächst stärker abwartend zeigten.

Am 14. Januar versuchte dann auch die sozialdemokratische Partei "Forum für Arbeit und Freiheitsrechte" Ettakatol (diese gehörte von 2011 bis 2014 der Übergangsregierung an; im Jahr 2020 ging der vorübergehende, glücklose Premierminister Fakhfakh aus ihren Reihen hervor, trat jedoch vor Antritt seines Regierungsamt aus der Partei aus) auf die Straße zu gehen.

Aber einige Tage vor dem Jahrestag forderte nun auch die stärkste Partei im faktisch aufgelösten Parlament, die islamistische Formation En-Nahdha ("Renaissance"), zum Protestieren auf. Seit 2011 war sie an allen aus dem Parlament hervorgegangenen Regierungen bis im vergangenen Sommer beteiligt. Völlig sicher bei ihrer Sache schien sie sich jedoch nicht zu sein. Rief En-Nahdha doch offiziell nur dazu auf, sich einem von ihr als breit und überparteilich dargestellten Bürgerprotest anzuschließen.

Zugleich legte die Partei die Uhrzeit des Demonstrationsbeginns jedoch so, dass diese mit dem Gebetsende in den Moscheen zusammenfällt. Erstmals seit dem Beginn der Übergangsperiode 2011 stützte sie sich dergestalt in erster Linie auf den härteren Kern ihrer ideologisch ausgerichteten Basis., statt sich darum zu bemühen, für breite Schichten wählbar zu erscheinen. Ihre Protestversuche fanden räumlich (und inhaltlich) getrennt von denen der politischen Linken statt.

Im zurückliegenden Hochsommer 2021 musste die Partei, deren Führungsinstanzen – wie dargelegt – damals bezüglich der einzuschlagenden Strategie erheblich gespalten waren, zunächst auf Protestmobilisierungen auf der Straße verzichten; erste Versuche dazu waren mangels Masse gescheitert.

In relevanten Kreisen der Gesellschaft machte man damals in erster Linie En-Nahdha für das Scheitern der in den politischen Transformationsprozess seit 2011 gesetzten Hoffnungen verantwortlich, aufgrund ihrer ununterbrochenen Beteiligung an der Exekutive.

Rückkehr zu alten Praktiken?

Aus ihrer Sicht hat die Partei derzeit allerdings handfeste Gründe zu Wut und Zorn. Am 31. Dezember 2021 wurde einer ihrer Spitzenfunktionäre, der 63-jährige Noureddine Bhiri, durch Zivilbeamte aus dem Auto gezerrt und verhaftet.

Er war Vizevorsitzender der Partei und steht ihrem Chef Rached Ghannouchi nahe. Die ersten Meldungen, die En-Nahdha dazu verbreitete, waren dramatisch: Bhiri werden an einem geheim gehaltenen Ort festgehalten, an dem – unter Kontrolle des Innenministeriums – bereits unter der Ben Ali-Diktatur politische Häftlinge festgehalten worden seien. Bhiri befinde sich "zwischen Leben und Tod", erklärte seine Ehefrau Saïda Akremi.

Noureddine Bhiri (2011). Bild: Parti Mouvement Ennahdha / CC-BY-2.0

Er befinde sich im Hungerstreik, und lebenswichtige Medikamente würden ihm verweigert, verlautbarte dazu, während das Justizministerium behauptete, er verweigerte ihre Einnahme. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen schalteten sich ein, forderten Aufklärung oder gleich Bhiris Freilassung. Am 02. Januar 22 wurde Letzterer in ein Krankenhaus überführt.

Am 06. Januar wurde dann publik, es gebe eine Vereinbarung, derzufolge Bhiri akzeptierte, auf dem Infusionsweg behandelt zu werden. Ihm drohte sonst ein Versagen seiner geschwächten Nieren. Die Staatsanwaltschaft am zuständigen Gericht in Tunis ihrerseits beschwerte sich darüber, die Kriminalpolizei habe eigenmächtig gehandelt, statt ihr Bhiri sowie eventuelle Beweismittel gegen ihn unverzüglich zu überstellen.

Ein Berater Ghannouchis mit Namen Riadh Chaïbi erklärte seinerseits, die Staatsanwaltschaft habe zuvor eine Festnahme Bhiris abgelehnt, doch Staatschef Saïed persönlich habe ein Durchgreifen angeordnet.

Die En-Nahdha feindlich gesonnene tunesische Internetzeitung Kapitalis referiert die Information, nicht ohne hinzufügen, es sei – so behauptet sie jedenfalls – "schwer vorzustellen", dass Saïed sich "offen in Justizangelegenheiten einmischen" würde; vielleicht fehlt es ihr an dem Punkt auch nur gewollt an politischer Fantasie.

Vorgeworfen wird Bhiri konkret, einem syrischen Ehepaar, dem jihadistische Aktivitäten geworfen werden, einen tunesischen Pass über die Botschaft in Wien beschafft zu haben. En-Nahdha behauptet, dies sei im Einverständnis mit dem damaligen bürgerlichen Präsidenten Béji Caïd Essebsi geschehen, wohl um syrische Opponenten zu schützen.

Bhiri amtierte in den Jahren 2012/13 als Justizminister. In breiteren Kreisen wird er dafür kritisiert, Korruption und islamistische Einflussnahme in Justizkreisen begünstigt und Ermittlungen zu dem jihadistisch motivierten Mord an dem Abgeordneten Chokri Belaïd dauerhaft verschleppt zu haben. (Einige Monate nach ihm fiel im Juli 2013 auch der Abgeordnete Mohammed Brahmi einem vergleichbaren Mord zum Opfer, doch Bhiri hatte zu dem Zeitpunkt das Ministerium verlassen, behielt allerdings noch beträchtlichen Einfluss im Justizapparat.) Die aktuellen Vorwürfe stehen damit jedoch nicht im Zusammenhang.

Das internationale, in Paris ansässige Magazin Jeune Afrique erinnert daran, die gegen Bhiri angewandten Festnahmemethoden seien aufgrund hochgradig repressiver Gesetze aus der Ben Ali-Ära möglich gewesen – in zehn Jahren Regierungsbeteiligung habe En-Nahdha sich jedoch nie darum bekümmert gezeigt, an ihnen etwas zu ändern.

Hauptsache, es traf, aus ihrer Sicht, nicht die Falschen? So, jedenfalls, betreibt man keine Revolution.