Neues Musik-Hybrid fasziniert zugleich Underground und Pop-Mainstream

2-Step/UK Garage in England und Deutschland

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London jauchzt: Aus jeder Boutique, von jedem Schulhof und in jedem Café tönen die gebrochenen und mutierten Beats des 2-Step. Mit dem Musik-Hybrid 2-Step - synonym auch UK Garage genannt - hat die Stadt wieder zu ihrer Swinging-Sixties-Vorreiterrolle zurückgefunden. Seit den Beat-Zeiten waren künstlerischer und kommerzieller Erfolg nicht mehr so aufregend verknüpft. Die Beatles, Kinks, The Who, Rolling Stones heißen jetzt Artful Dodger, MJ Cole, Craig David, DJ Luck & MC Neat. 2-Step ist endgültig zum Zentralthema des Mainstream geworden. Selbst die Spice Girls und Uncle Ben's Reis engagieren sich für die hypervitalen Tanzrhythmen. Uncle Ben's lanciert die "2-Step Soße", Spice Girl Victoria Beckham singt mit den True Steppers "Out of your mind" im 2-Step-Arrangement ein und Spice Girl Mel B moderiert an der Seite des UK-Garage-Produzenten Spoony die UK Garage Awards. Mit den Awards feierte die Szene am ersten Oktober in Londons Apollo Theater den anhaltenden Höhenflug eines Musikgenres, das noch vor zweieinhalb Jahren selbst unter hellhörigen Musikliebhabern als ein kaum ernst zu nehmendes Phantom galt.

Craig David, erster Superstar des jungen 2-Step-Genres, kassierte 5 Millionen Pfund für den Plattenvertrag für seine erste LP

Mitte 1997 begannen erste Tracks aus einem gerade abgehakten Musikfeld - Speedgarage - durch ihre rhythmische Extravaganz zu irritieren. Speedgarage als Vorläufer von 2-Step/UK Garage hatte sich aus einer längeren englischen Tradition entwickelt, mit amerikanischer House-Musik umzugehen. Die englischen DJs griffen sich die prägnantest synkopierten, einen rhythmischen Hüpfeffekt auslösenden Housetracks von Armand van Helden, Todd Edwards, Mark Kinchen oder Masters at Work heraus. Sie verstärkten die Sprunghaftigkeit der Rhythmen, indem sie die Stücke mit Hilfe der Geschwindigkeitsregulierung am DJ-Plattenspieler schneller abspielten. Um englische Produzenten wie das Dreem Teem (deren Mitglied DJ Spoony ist), TuffJam, R.I.P. Groove oder 187 Lockdown entwickelte sich rasant eine musikalische Schule, die die besonderen Vorlieben des englischen Club-Publikums für möglichst dynamisch synkopierte Beats bediente. Speedgarage schuf mit extratiefen Bässen und messerscharfen HiHat-Zwischenschlägen einen programmierten Neo-Funk. Der traditionelle 4/4-Schlag der House-Musik lief als Basis aber immer mit.

Diese London-zentrierte Housevariante erwies sich schnell als zu gimmickverliebt und formatierungsanfällig, um nicht künstlerisch innerhalb eines Jahres gemolken und abgedeckt zu werden. Niemand erinnert sich freiwillig an den größten Chartserfolg dieser Zeit, 187 Lockdowns Novelty-Scherz "Kung Fu", der aus Speedgarage Bubblegum machte. Aber mit Dreem Teems "The Theme", Dem 2s "Destiny" oder Lenny Fontanas "Spirit of the sun" im Steve Gurley-Mix setzt bereits eine Weiterentwicklung der Speedgarage-Sprache ein, die so radikal ist, dass sie Bruch und Neuanfang bedeutet.

Experimentell und mitsingfreundlich

Diese Stücke haben gemeinsam, dass sie das Beatgerüst von dem geraden 4/4-Metrum befreien und die Rhythmusschläge auf die 2 und 4 beschränken, den geraden Beat durch einen gebrochenen Beat ersetzen, den 2-Step eben. Die Halbierung setzt nicht nur rhythmische Variablen frei, sie wirkt sich auf die Organisation des gesamten Stückes aus. Die Hierarchie von Rhythmus- und Leadinstrumentierung wird in der offenen Gruppierung um die funky Lücke aufgehoben. Vor allem der Gesang - das klassische Leadinstrument - wird durch Geschwindigkeitsmanipulation und Fragmentierung in das Spiel der befreiten Beats integriert. Die rhythmische Befreiung im 2-Step wirkt wie der Schlag durch den gordischen Knoten. So abstrakt, komplex und gleichzeitig leichtfüßig, so experimentell und doch mitsingfreundlich konnten die Produktionen nur durch den rhythmischen Halbierungskniff werden. Schulkinder und akademische Komponisten teilen deshalb die Begeisterung für das Genre, eben wie damals bei den Beatles.

Neben einem Hauptausstoß an Weißmustern veröffentlichen unabhängige Plattenfirmen wie Locked On, 500 Rekords oder Public Demand eine sprunghaft wachsende Menge an 12 Inches, die hauptsächlich über das lange etablierte Piratenradionetz in London öffentlich gemacht werden. 2-Step-Hits nach Shanks & Bigfoots "Sweet like chocolate" - dem Dammbruch-Stück - in den Charts waren vorher von den Radios und Clubs favorisiert worden. Von Doolallys "Straight from the heart" über MJ Coles "Sincere", DJ Lucks und MC Neats "A little bit of luck" bis Artful Dodgers/ Craig Davids "Re-Rewind" decken sich Spezialistenuntergrund und Chartshörer in ihren Vorlieben. Und anders als zu erwarten, führt das Chartsversprechen nicht zu einer stilistischen Einengung von 2-Step. Permanent differenziert sich das Genre in disparate Subgenres aus. R&B, Reggae, Rückgriffe auf frühen Drum and Bass und klassischer Soul beflügeln sich in der 2-Step-Umstrukturierung zu ungeahnten Hybridformen.

Dem massivsten Trend steht Chartsstürmer Craig David vor, der mit "Re-Rewind" bei Artful Dodger und "Fill me in" sowie "7 Days" unter seinem eigenen Namen vehement ausnutzt, dass die gebrochenen Beats ein perfektes Komplement zu einem Live-Gesang bieten, der die Gefühlspalette im Soul ausreizen will: 2-Step-Produzenten setzen nicht mehr auf Gesangssamples, die von den Acappella-Aufnahmen anderer (US-amerikanischer) Schallplatten gezogen werden, sondern laden sich (englische) Live-Sänger/innen ins Studio. MJ Cole arbeitet mit Elisabeth Troy und Concept Noir, Artful Dodger mit Romina Johnson, True Steppers mit Dane von Another Level und eben Victoria Beckham. Auf diesem Stand schließt 2-Step an den US amerikanischen R&B um Timbaland, Missy Elliott, Aaliyah oder Destiny's Child an. Mit Sänger/innen im Studio wird 2-Step zu einem gleichwertigen künstlerischen Konkurrenten zum R&B-Genre, zu dem die 2-Step-Produzenten bislang als ihrem großen Bruder aufgeschaut haben. Wookie, der 2-Step-Großproduzent in spe, jettet direkt nach Amerika, um mit der US-amerikanischen R&B-Künstlerin Angie Stone zusammenzuarbeiten. Bereitet sich hier der nächste musikalische Übersee-Merger mit kreativer Explosivkraft vor? Auf dem UK Garage Award vom ersten Oktober wird zumindest mit völlig gerechtfertigtem Selbstvertrauen auf eine künstlerische wie wirtschaftliche Prosperität angestoßen, die das Dreem Teem gerne als goldenen Streifen auf ihren Zoot Suits trägt.

Von 2-step.co.uk zu 2-step.de

MJ Cole

Neben den Piratenradios trägt zur Verbreitung der 2-Step-Botschaft immer ausgeprägter das Internet bei. Noch vor eineinhalb Jahren konnte man übersichtlich zwischen speedgarage.co.uk und speedgarage.com wählen. Eine stichprobenartig erfasste Liste auf cenci.btinternet.co.uk listet mittlerweile 76 Links zu speziellen 2-Step/UK Garage-Seiten auf, die sich genauso um Content wie um eine adäquate Ästhetik bemühen - im besten Fall. Wer einmal stöbernd durch dieses Informations- und Kommunikationsnetz von Fans und Aktivisten schweift, der registriert begeistert, wie sehr die Szene der notorischen Bevormundung der etablierten, diskurs-diktierenden Hype-Medien in England das Netz als selbstbestimmtes Medium zur Seite stellen kann. 2-Step auf MTV, als Titelgeschichte in The Face, auf Radio One, auf den Piratenradios und im Netz - ein besserer Panoramaüberblick zu allen Imagefacetten eines Genres, das genauso mit Große-Welt-Attitüde kokettiert wie auf Nachbarschaftszusammenhalt baut, ist kaum denkbar. Wie sehr bei aller England-übergreifenden Chartspopularität UK Garage immer noch zurecht das national zuweisende UK im Namen trägt, belegt ein Vergleichsblick nach Deutschland.

Ab 99 hören die deutschen DJs und Produzenten auf, wie die paralysierte Maus vor der Schlange von jenseits des Kanals zu sitzen, und werden selbst aktiv. Clubabende mit importierten 12 Inches etablieren sich in München, Hamburg, Dortmund und Berlin. Verbindungen werden mindestens so intensiv nach England gesucht wie zu den deutschen Mitstreitern. Neben reinen DJ-Party-Veranstaltern wie Tune und Brooke's Motel aus Hamburg oder Exquisit aus München wagen sich auch die ersten Produzenten daran, mit eigenen 2-Step-Formulierungen in die englische Szene einzusteigen und eine deutsche aufzubauen. Eine nationale Zugehörigkeit soll dabei in den Produktionen gerade nicht hörbar werden. Mit den eigenen Formulierungen geht es den Produzenten nicht um einen spezifisch deutschen Charakter von 2-Step, sondern um einen individuellen Charakter unabhängig von nationalkulturellen Überlegungen.

Als engagiertester Bannerträger setzt sich der Dortmunder 2-Step-Zusammenschluss Gush Collective dafür ein, dass auch in bundesdeutschen Einkaufsstraßen 2-Step aus jeder Boutique schallt. Das Collective veranstaltet nicht nur Partys und arbeitet an Englandkontakten samt Schallplattenimport über den NTT-Vertrieb. Sie geben vor allem durch die Gründung ihrer zwei Label Gush Collective und Ladies & Gentlemen für ihre eigenen Produktionen den entscheidenden Anstoß für Stufe 2 der Deutschlandadaption: traut euch aus euren Studios und veröffentlicht selbst. Mit sechs 12 Inches und einer "Collected Dubs"-CD, die die unterschiedlichen Profile der Gush-Mitglieder zu einer facettenreichen 2-Step-Party ordnet, ist das Collective an Präsenz und künstlerischem Niveau in Deutschland vorausgeprescht. Das Berliner Label Sonntagmusic folgt dem Collective-Anstoß jedoch mit 4 Veröffentlichungen, die von Nummer 1 an durch unverwechselbaren Charakter gleichziehen, dank des ausgesprochenen Sinnes für so exzentrisches wie elegantes Klangdesign ihres Produzentenduos Berry Black. Auch die Berliner Elektronauts (früher Elektronauten) haben mit Fab Factory ein 2-Step-Label gegründet, dessen erste Veröffentlichung die dunklere, Drum-and-Bass-lastigere Seite des Genres ausspielt. Erste Produktionen aus dem Umfeld des Berliner Internet-Musiksenders Twen FM sind noch nicht auf Schallplatte erschienen, liegen aber als Real-Player-Dateien auf der verbandelten 2-step.de-Seite.

Die Seiten der hier erwähnten Veranstalter und Produzenten von Tune bis Fab Factory sind hauptsächlich der Eigenwerbung vorbehalten. Um eine Konsolidierung der Szene über Information und Diskussion bemüht sich eine (noch) übersichtliche Zahl weiterer Sites, die die klassische Rolle von Fanzines übernehmen. Auf der schon erwähnten Seite www.2-step.de sowie auf planet-blunt.de, 2stepgarage.de, 2step.goingeasy.de, ukgarage.de, garage-music.de und 2step-garage.de werden Veranstalterdaten und Neuigkeiten weitergereicht, Foren zur Verfügung gestellt und mit unterschiedlichem Engagement an Hintergrundberichterstattung gearbeitet. 2-step.de ist zwar journalistisch zurückhaltend, nutzt aber als einziges Ezine die Möglichkeit zur Veröffentlichung eigener Tracks im Netz. Am stärksten an Auseinandersetzung und Reflektion sind die garage-music.de und ukgarage.de interessiert. Letztere findet auch in England Beachtung: "Check this garage site out if you can speak german!" heißt es auf cenci.btinternet.

Erstere hätte sie ebenso verdient, Content satt. Die Konzentration liegt auf dem Blick nach England. Zahlreichen Interviews mit englischen Künstlern steht auf ukgarage.de symptomatisch ein einziges Interview mit Tanith gegenüber. Der Chef von Timing Records - eigentlich ein Big-Beat-Label - aus (schon wieder) Berlin nimmt sich auch auf der eigenen Labelseite als Mentor der dunkelaggressiveren Seite von 2-Step an. Moment, die Blickkonzentration verschiebt sich, da wird gerade ein Interview mit dem Kölner Butterfly Potion auf ukgarage.de dazugeladen. Dennoch gilt in Deutschland bislang: Partys fett, Produktionen und Netzpräsenz beschränken sich aber noch auf punktuellen Aufbau. Alle sind jedoch im Fieber. Und bald wird man sich mit der Frage quälen, ob man lieber zu Hause bleibt, um die frischesten 2step.de-Seiten zu bestaunen, oder in den Club zieht, um zu Dubplates aus dem benachbarten Hinterhof zu tanzen. England hatte zwar die Beatles, Deutschland aber schließlich die Rattles.