Neues Strafrecht zu Völkermord: 514-mal Politikversagen im Bundestag
Deutsche Völkermörder um Generalleutnant von Trotha, den Oberkommandierenden der "Schutztruppe" in "Deutsch-Südwestafrika". Bild: Deutsches Bundesarchiv (183-R27576). Lizenz: CC-BY-SA-3.0
Themen des Tages: Was eine Gesetzesnovelle mit mangelnder parlamentarischer Sorgfalt zu tun hat. Wie die Kämpfe in der Ukraine wieder aufflammen. Und warum Verbraucher steigende Gaspreise zunächst selbst schultern müssen.
Liebe Leserinnen und Leser,
1. Das Herbstwetter ist bislang äußerst mild. Das ist gut so. Denn die Bundesregierung wird bei Heizkosten so schnell nicht helfen.
2. Verharmlosung von Völkermord unter Strafe? Eine gute Idee, doch nicht so, wie es der Bundestag gerade mehr oder weniger heimlich gemacht hat.
3. In der Ukraine stehen größere Kämpfe bevor, die von einem Informationskrieg flankiert werden.
Doch der Reihe nach.
Gaspreisbremse: Schnelle Entlastung? Fehlanzeige!
Die Bundesregierung tut sich schwer damit, Wirtschaft und Bürger vor den hohen Energiepreisen im Winter rasch zu schützen, berichtet heute Telepolis-Autor Bernd Müller [1]. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Oktober in einer Regierungserklärung versprochen: "Niemand, keine Familie, keine Rentnerin, kein Student und auch kein Unternehmen soll Angst haben, von den Preisen für Strom, Gas und Fernwärme [2] überfordert zu werden".
Die Hoffnung war groß, dass dieses Versprechen eingehalten werden würde – doch am Ende, so scheint es, bleiben die Menschen einmal mehr enttäuscht zurück. Denn die sogenannte Gaspreisbremse greift erst im März und für Januar und Februar sind bislang keine Entlastungen angedacht.
Taiwan-Politik: Anerkennungsfragen und Taipeh-Reisen
Bundesregierung und Parlament verfolgen einen seltsamen Schlingerkurs zur Taiwan-Frage. Zuletzt waren Abgeordnete zum Unmut Beijings nach Taipeh gereist. Vor vier Jahren war das anders. Da antwortete Staatsministerin Michelle Müntefering (SPD) auf die Frage, warum Deutschland dem Vorsitzenden des taiwanischen Parlaments, Su Chia-chyuan, die Einreise verweigere:
Die Bundesregierung erkennt Taiwan nicht als souveränen Staat an und unterhält diplomatische Beziehungen im Rahmen der Ein-China-Politik nur zur Volksrepublik China. Wegen der Vermeidung der impliziten Anerkennung einer Staatlichkeit Taiwans bestehen grundsätzlich keine Kontakte auf der Ebene der höchsten Staatsämter. Dazu gehört auch das Amt des Parlamentspräsidenten.
Michelle Müntefering
Was sich seither getan hat, lesen Sie im Bericht von Telepolis-Autor P [3]hilipp Fess.
Gegenwind für Scholz in Paris
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz habe bei seinem Parisbesuch keinen leichten Stand [4], so das US-Magazin Politico: Es werde heute kein Foto für Scholz mit Macron geben und keine Pressekonferenz, obwohl der Kanzler mit einem großen Medienaufgebot angereist sei. Es ist kalt geworden zwischen Frankreich und Deutschland: "Sie sind sich nicht einmal einig, ob sie sich gemeinsam vor der Presse zeigen sollen." Über die Hintergründe berichtet Telepolis-Redakteur Thomas Pany.
Was eine Strafrechtsänderung zu Völkermord mit Politikversagen im Bundestag zu tun hat
Völkermord schien lange ein Thema des kriegsbelasteten 20. Jahrhunderts. Was für ein Irrtum! Der Krieg "unserer" saudischen Partner im Jemen, das Gemetzel im äthiopischen Tigray, der Angriff Russlands auf die Ukraine: Das Zeitalter relativer Ruhe ist vorbei, auch in Europa.
Es ist daher gut und richtig, dass die Billigung und Rechtfertigung von Völkermord unter Straße gestellt werden, wie das Regierungsfraktionen nun versucht haben. Nur ist die mit ihren Stimmen und der Unterstützung der Union beschlossene Änderung des Strafgesetzbuches nicht nur in der Erarbeitung problematisch, sondern vor allem auch in der zu erwartenden Umsetzung.
Denn wo beginnt das "öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche (sic!) Verharmlosen" von Völkermord? Was ist Völkermord? Wer bestimmt das? Und mehr noch. Das künftige Verharmlosungsdelikt sowie ein entsprechender Umgang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen werden auch nach deutschem Recht nur dann strafbar, "wenn die Tat in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören".
Damit bleibt nicht nur das Rechtsobjekt, sondern gleich auch noch die Auslegung im Vagen. Dazu einige Fragen, die sich die meisten Abgeordneten offenbar nicht gestellt haben, wie das mutmaßlich von den Fraktionsführungen von SPD, FDP, Grünen und Union vorgegebene, weil konforme Abstimmungsverhalten vermuten lässt – die zwei Enthaltungen ausgenommen.
1. Der russische Krieg gegen die Ukraine wird oft als Völkermord bezeichnet. Gilt das auch für die jahrelangen Angriffe der Ukraine auf zivile Strukturen im Donbass?
2. Die Bundesregierung lehnt die Entschädigungsforderungen der Herero und Nama aus Namibia nach wie vor ab. Inwieweit ist diese De-facto-Weigerung der Übernahme von Verantwortung fernab von Lippenbekenntnissen nun strafbar?
3. Wann wird der erste türkische Diplomat wegen Leugnung des Völkermordes an den Armeniern zur Persona non grata erklärt und des Landes verwiesen?
4. Wann wird der erste saudische Diplomat wegen Leugnung des andauernden Völkermordes an den Jemeniten zur Persona non grata erklärt und des Landes verwiesen?
5. Inwieweit erfüllt die Weigerung, bei der Documenta in Kassel den in einem zensierten Wandbild thematisierten Massenmord an etwa einer halben Million Menschen in Indonesien Mitte der 1960er-Jahre (und der westdeutschen Beteiligung) als Völkermord anzuerkennen den o.g. Straftatbestand?
6. Inwieweit ist Berichterstattung über diese und andere einschlägige Fragen künftig strafbar?
7. Inwiefern sind Foren- und Wikipedia-Einträge über diese und andere einschlägige Fragen künftig strafbar?
Eine Debatte darüber wäre gut gewesen. Sie fand bislang aber nicht statt. Darin besteht das Politikversagen von 514 Abgeordneten, die offenbar aus Desinteresse oder Unwissen einer halbgaren und daher gefährlichen Gesetzesnovelle zugestimmt haben.
Artikel zum Thema:
Harald Neuber: Zunächst unbemerkt: Bundestag stellt Leugnung von Völkermord unter Strafe [5]
Rolf-Henning Hintze: Deutsche Regierung lehnt Wiedergutmachung für den Völkermord an den Herero und Nama ab [6]
Elke Dangeleit: Türkei: das verbotene Gedenken an den Völkermord an den Armeniern [7]
Ost- und Süd-Ukraine: Die Zeichen stehen auf Sturm
In der Ost-Ukraine stehe offenbar schwere Kämpfe bevor, teilweise sind sie schon ausgebrochen. Ein Vertreter der prorussischen Verwaltung in der dortigen Region Luhansk hat angegeben, dass in den Bezirken Kreminna und Swatowe schwere Gefechte zwischen russischen und ukrainischen Truppen entbrannt sind. Seitdem die ukrainische Armee dort Gebiete zurückerobert hat, vor allem im nahen Charkiw, stehen sich in den beiden Gebieten die Truppen gegenüber.
Der ukrainische Militärgeheimdienst geht indes nicht davon aus, dass sich die russischen Truppen aus der Stadt Cherson im Süden der Ukraine zurückziehen. Man verfüge über Informationen, nach denen sich die russische Armee dort ganz im Gegenteil auf eine Verteidigung der Besatzung vorbereite. Das bestätigte der Chef des Geheimdienstes, Kyrylo Budanow [8], am Montag.
Die Ukrajinska Prawda zitiert Budanow:
Die russischen Besatzer erwecken nur die Illusion, dass sie Cherson verlassen, tatsächlich bringen sie aber neue Militäreinheiten dorthin.
Von beiden Seiten kommen zu der Frontlage widersprüchliche Meldungen, die mit Vorsicht zu genießen sind.
Auf den Informationskrieg verweis auch Budanow. Er bezeichnete die russischen Angaben zu einem Abzug der Besatzungsverwaltung, russischer russischen Banken sowie zur Räumung von Krankenhäusern als ein wahrscheinliches Ablenkungsmanöver. Russland habe neue Truppen in die Region verlegt und sei darauf bedacht, dass ihnen im Fall einer ukrainischen Offensive ein Rückzugskorridor über den Fluss Dnipro erhalten bleibe.
Seit Beginn des Krieges am 24. Februar – vor gut acht Monaten also – ist mit Cherson eine ukrainische Gebietshauptstadt von der russischen Armee erobert worden. Die russische Regierung hat unlängst den Anschluss der Stadt und weiterer Gebiete an Russland erklärt.
Die Ukraine hat allerdings einige Gebiete zurückerobern können. Erwartet werden größere Gefechte, auch unter Beteiligung von privaten Militärdienstleistern.
Artikel zum Thema:
Paul Sailer-Wlasits: Eskalation und Lüge: Wie im Krieg die Wahrheit massakriert wird: https://www.heise.de/tp/features/Eskalation-und-Luege-Wie-im-Krieg-die-Wahrheit-massakriert-wird-7319861.html [9]
Roland Bathon: "Schmutzige Bombe": Wie Moskau das Gerücht zu untermauern versucht [10]
Peter Nowak: Kann nur ein Abkommen zwischen Putin und Biden den Krieg beenden? [11]
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7321356
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Gaspreisbremse-Verbraucher-bleiben-im-Januar-und-Februar-ohne-Hilfen-7320491.html
[2] https://www.heise.de/tp/article/Fragen-und-Antworten-zur-Fernwaerme-und-wie-sie-gruener-werden-soll-9186781.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Bringt-Deutschland-auch-Opfer-fuer-Taiwan-7320827.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Scholz-und-Macron-Harte-Nuesse-zum-Arbeitsessen-7321242.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Zunaechst-unbemerkt-Bundestag-stellt-Leugnung-von-Voelkermord-unter-Strafe-7320524.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Deutsche-Regierung-lehnt-Wiedergutmachung-fuer-den-Voelkermord-an-den-Herero-und-Nama-ab-3356091.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-das-verbotene-Gedenken-an-den-Voelkermord-an-den-Armeniern-7070547.html
[8] https://www.pravda.com.ua/news/2022/10/24/7373194/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Eskalation-und-Luege-Wie-im-Krieg-die-Wahrheit-massakriert-wird-7319861.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Schmutzige-Bombe-Wie-Moskau-das-Geruecht-zu-untermauern-versucht-7319832.html
[11] https://www.heise.de/tp/features/Kann-nur-ein-Abkommen-zwischen-Putin-und-Biden-den-Krieg-beenden-7319411.html
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