Nicaragua: Der Ortega-Komplex

Opposition in Nicaragua wächst

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Zum zweiten Mal in weniger als vier Wochen gingen am Mittwoch in Managua tausende Demonstranten gegen die neo-sandinistische Regierung von Präsident Daniel Ortega (FSLN) auf die Straße. Der Protest richtete sich gegen hohe Lebensmittelkosten und die Entscheidung des Obersten Wahlrates, zwei im Parlament vertretene Parteien von der Teilnahme an den Kommunalwahlen im November und den Präsidentschaftswahlen 2011 auszuschließen. Betroffen ist neben der konservativen PC (mit 100jähriger Geschichte die älteste Partei des Landes, die seit einiger Zeit aber kaum noch eine Rolle spielt) auch die „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ (MRS), die sich 1995 als sozialdemokratische Tendenz von der FSLN abgespalten hatte und heute über 10.000 Mitglieder zählt. Die Frente Sandinista möchte indes die Zahl der Mitglieder ihrer „Massenorganisation“ nicht bekannt machen.

Seither bestimmen sozialdemokratische Ideen die politische Linie der MRS, die von zahlreichen internationalen Organisationen unterstützt wird, die in einigen Fällen den US-Demokraten nahe stehen und bei den Wahlen mit 6,4 Prozent unter den Erwartungen geblieben. Aber auch ehemalige sandinistische Schwergewichte wie der Befreiungstheologe und Ex-Kulturminister Ernesto Cardenal, Revolutionsbarde Carlos Mejía Godoy und drei Ex-Comandantes haben sich unter dem Dach der Bewegung eingefunden, die revolutionär-sandinistische Strömung „Rettungsbewegung des Sandinismus“ (Rescate Sandinista) stellt mit der Ex-Comandante Monica Baltodrano eine Parlamentsabgeordnete. Die ehemalige Befehlshaberin der sandinistischen Befreiungsarmee Dora María Téllez, welche mit einem 12tägigen Hungerstreik gegen die Entscheidung des Wahlgerichtes protestierte, genießt als Vertreterin der MRS-Linken wachsende Popularität.

Die Basis bröckelt

Trotz der Entscheidung des Wahlgerichtes wittert die Sandinistische Erneuerungsbewegung zur Zeit Morgenluft. Die Opposition gegen Ortegas Pakt mit dem wegen Korruption verurteilten liberalen Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán (PLC) sowie dem Ex-Somoza-Mann Jaime Morales Carrazo (der ehemalige Contra-Kommandant ist heute Vizepräsident unter Ortega) und das von der FSLN-Fraktion getragene absolute Abtreibungsverbot in Nicaragua war bislang auf den überschaubaren Kreis intellektueller Organisationen begrenzt geblieben; das scheint sich nun zu ändern. Wichtige Hochburgen der Sandinisten sind Campesino-Organisationen - und auch dort beginnt es an der Basis zu rumoren.

Die Kritik beginnt bei der Umsetzung des „Null Hunger“-Programms, welches 75.000 mittellose Kleinbauernfamilien mit insgesamt 150 Millionen US-Dollar fördern soll. Doch dieses sei zu mechanisch und gehe nicht auf die Stärken und Schwächen der jeweiligen Campesinos ein. Und die Kritik geht heute bis hin zum Unverständnis über den Ausschluss der Parteien von den Wahlen, der vom Wahlrat mit dem Verstoß gegen parteieigene Statuten begründet wurde.

Die aktuelle Strategie der MRS-Führung schreckt nicht wenige altgediente Sandinisten ab. Wie zum Beispiel der Vorschlag von Ex-Comandante Luis Carrión nach der Bildung einer „großen Front“ gegen die FSLN, gemeinsam mit Politikern und Wirtschaftsvertretern, die vom Dunstkreis der Somoza-Diktatur inspiriert worden sind. Da klingt es schal, wenn junge Redner der MRS-PC-Allianz auf der Massendemo am vergangenen Freitag eine „neue Revolution für demokratische Rechte, Brot und soziale Gerechtigkeit“ forderten.

Die Armen an die Macht?

Nicaragua ist nach Haiti das zweitärmste der amerikanischen Kontinente. Die Hälfte der Bevölkerung leben in Armut - auf dem Land sind es sogar 70 Prozent -, fast 15 Prozent aller Nicaraguaner sogar in extremer und acht von zehn Erwachsenen müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag ihr Auskommen bestreiten. Daran hat sich auch im zweiten Jahr nach Ortegas Wahlsieg wenig geändert und die aktuelle weltweite Lebensmittelkrise verschärft die Situation noch.

Eine wichtige Basis findet seine Regierung unter den Armen in Stadt und Land, die fest daran glauben, dass sich die Dinge noch zum Besseren wenden werden. Diese Mal soll es indes ohne Revolution glücken, Ortega setzt auf einen „friedlichen Wandel von innen“. Etwa 38 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten im November 2006 für diese Option unter dem Motto „Die Armen an die Macht!“. Dabei gab es eine starke Zustimmung von Jungwählern, welche der korrupten neoliberalen Elite überdrüssig waren, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes lenkte.

Vor 28 Jahren war Ortega einer der Comandantes gewesen, welche in der sandinistischen Revolution die faschistische Somoza-Diktatur stürzten. Er gehörte der sozialistisch orientierten Regierung an und wurde 1984 zum Präsidenten gewählt. Die Sandinisten - benannt nach dem 1934 ermordeten Freiheitshelden Augusto Sandino - scheiterten insbesondere am schmutzigen Krieg, den die USA gegen das kleine Land führten.

Konservativen Ortega-Kritikern ist heute vor allem die Partnerschaft des neo-sandinistischen Nicaraguas mit Venezuela ein Dorn im Auge. Derzeit übertreffen die Hilfszahlungen aus Lateinamerika an Nicaragua jene aus der Europäischen Union deutlich. Ortega unterstützt auf internationalem Parkett Hugo Chávez und die Bolivarische Alternative für die Amerikas (ALBA). Als einziger ALBA-Staat ist Nicaragua aber zugleich Mitglied im neoliberalen CAFTA-Vertrag, den die USA initiiert haben. Das hat der Präsident zwar öffentlich bedauert, dagegen unternommen hat die Frente Sandinista aber weder etwas zur Zeit der Ratifizierung noch nach der Regierungsübernahme.

Abtreibungsverbot wie im Iran

Der Fall des durch Vergewaltigung geschwängerten 12jährigen Mädchens Mirianita hat die Diskussion um das absolute Abtreibungsverbot im Land wieder angeheizt. Mit dem von den Sandinisten getragenen Gesetz zur Abschaffung des Gesetzes für therapeutischen Schwangerschaftsabbruch hat sich Nicaragua beim Thema Frauenrechte um 100 Jahre zurückkatapultiert.

Bei der Zustimmung zum Abtreibungsverbot handelte es sich nicht um ein Kurzzeit-Manöver, bis heute weigert sich die Frente etwas daran zu ändern. Für fortschrittliche Frauenpolitik gibt es dort keinen Spielraum mehr; im ersten Regierungsjahr sind die beiden weiblichen Minister zurück getreten.

Martha Juaréz, Sprecherin der feministischen Frauenbewegung Nicaraguas

Persönlich beteiligen sich der Präsident und seine mitregierende Ehefrau Rosario Murillo an der gerichtlichen Verfolgung von neun Feministinnen, welche die Abtreibung im Falle der „Niña Rosa“, einem anderen vergewaltigten neunjährigen Mädchen, unterstützten. Der Staat tue nichts gegen frauenfeindliche Gewalt; weder die Regierung, noch die Parlamentsfraktionen von FSLN, Liberalen und Konservativen. 2007 habe sich die Zahl der Frauen, die bei Sexualstraftaten ermordet wurden, verneunfacht. Die Polizei erfasste 62.322 Delikte gegen Frauen, 54 wurden ermordet - die Mehrzahl von ihren Partnern - und weitere 82 starben aufgrund von Komplikationen in der Schwangerschaft, listet Frauenrechtlerin Martha Juaréz auf. Von ungefähr käme das nicht, denn Ortega sei nicht nur eine strategische Allianz mit der erzkonservativen katholischen Kirche eingegangen, er festige deren Herrschaft nun strukturell.

Einen kleinen Erfolg konnte indes die Bewegung für die Rechte Homosexueller verbuchen: Im Zuge einer Strafrechtsreform der Sandinisten wurde die seit 1992 kriminalisierte gleichgeschlechtliche Sexualität ab März 2008 wieder straffrei gestellt sein.

Rätedemokratie oder Diktatur?

Umstritten ist auch die Einrichtung der so genannten Komitees der Bürgermacht (CPC), die in allen Gemeinden Nicaraguas als parallele Machstruktur zu den Kommunalverwaltungen eingerichtet werden. Mit einem eigenen Haushalt ausgestattet, ist es ihre Aufgabe, sich um kommunale Angelegenheiten zu kümmern; außerdem werden sie national vernetzt. Ortega hat die Bürgerkomitees als „Elemente der direkten Volksdemokratie“ ins Leben gerufen und sieht sie als Fortsetzung der Revolutionskomitees, welche in den 90iger Jahren abgeschafft worden waren.

An einigen Orten funktionieren die Komitees gut, anderen Orts kommen sie sich aber mit bereits bestehenden kommunalen Entwicklungskomitees ins Gehege. Oftmals sind die Zuständigkeiten nicht geklärt. Doch die Argumente gegen die Komitees sind unterschiedlich, viele Liberale und Konservative halten sie nicht nur für verfassungswidrig, sie fürchten, den Armen werde zuviel Macht gegeben. Andere Kritiker betonen, die Komitees dienen der Festigung der Herrschaft des Ortega-Sandinismus, denn nur linientreue FSLN-Mitglieder könnten dort Positionen übernehmen. Zu allem Überfluss habe First Lady Rosario Murillo die Oberaufsicht. Die einzige Frau, die im Land etwas zu sagen habe wurde von niemandem demokratisch gewählt, bemerken Feministinnen zynisch.

Daniel Ortega ist ein Caudillo, sehr fraglich ist aber, ob er tatsächlich eine Diktatur in Nicaragua errichten möchte, wie ihm das Kritiker von der Konservativer Partei bis hin zur Erneuerungssandinisten vorwerfen. Da scheint die Einschätzung realistischer, dass die von seinen Anhängern eisern dominierte Frente Sandinista (FSLN) gemeinsam mit der liberalen Oppositionspartei PLC mit einem Zweiparteiensystem liebäugelt.

Torge Löding arbeitet für das unabhängige Kommunikationszentrum Voces Nuestras, San José, Costa Rica.