"Nicht einmal Pseudosolidarität"
Setzen, sechs! Die Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise ist beschämend
Es gibt eine Wirklichkeit jenseits der Corona-Medienberichterstattung mit ihren speziellen Erregungsschwerpunkten, die schwer zu erfassen ist. Besonders, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Auch hier blinken immer mehr Alarmlampen auf, etwa wenn die deutschen Jugendämter Bescheid geben, dass in den vergangenen Monaten mehr Jugendliche "einfach abgetaucht sind".
"Es sei zu erwarten, dass in diesem Jahr rund 104.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen - doppelt so viele wie in Nicht-Pandemiejahren. In den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021 werde es insgesamt rund 210.000 Schulabbrecher geben", berichtet die Tagesschau von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter.
Entwicklungsdefizite
Die warnt vor "enormen Entwicklungsdefiziten" mit dem bemerkenswerten, weil die gemütliche Einteilung mancher Bessergestellten verstörenden, Zusatz, dass die Bildungsprobleme, die sich während Corona-Krise ausgewachsen haben, "längst zu einem Mittelschicht-Problem" geworden seien.
Es geht laut Schätzung von Lorenz Bahr, dem Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft, um rund vier Millionen Kinder und Jugendliche, vor allem zwischen 6 und 13 Jahren. Er geht davon aus, dass für diese nicht wenigen schon etwas verloren gegangen ist. Er nennt es "persönliche Entwicklung". Was in zwei Jahren Kindheit an Entwicklung verloren wurde, könne nicht nachgeholt werden, so Bahr: "Es kann und muss künftig eine stärkere Kinder- und Jugendhilfe geben", meint er. Wer setzt sich dafür ein? Wie groß ist die Lobby?
Der Sportmediziner Perikles Simon, den die FAZ zu den Folgen der Pandemie-Maßnahmen befragt hat, hat, was Lobbies betrifft, eine sehr realistische Einschätzung: Politische Unterstützung gibt es für den Spitzensport, der wie die Großindustrie eine Sonderstellung einnimmt, aber nicht für den Breitensport und auch nicht für den Schulsport. Letzterer bekommt von Simon die Note 6 plus.
In einer Pandemie zeigt sich bei steigender Sitz- und Bildschirmzeit hervorragend, wie gut unsere Organisationsform des Sports - aber auch die anderer Schulfächer - in der Schule zurzeit ist. Ich gebe dem Schulsportunterricht die nicht vorhandene Note Sechs plus. Die Sechs für die Lehrpläne und das Plus für die viel zu wenigen Lehrerinnen und Lehrer, die überhaupt noch Schulsport unterrichten konnten. Die haben sich in der Krise aufgerieben, damit die Kinder gesunde, adäquate und dringend benötigte Qualitätszeit in physischer Interaktion miteinander hatten.
Perikles Simon, Sportmediziner
Es gab keine Gnade, kaum Hilfe, "nicht einmal Pseudosolidarität", so Simon, als man auch beim Thema Sport Prioritäten festlegte, die den Finanzstarken (Profisport, Sportbereiche mit Strahlkraft, Nachwuchsleistungssport als wichtiger Zulieferer) geholfen und die die Finanzschwachen "indirekt gelähmt" haben. Niemand, der sich dafür starkmachte, neue Wege in der Pandemie für den Breitensport und den Schulsport zu finden.
Wie diese hätten konkret aussehen sollen, weiß Simon allerdings auch nicht. Er appelliert an eine Kreativität, für die Politiker erst langsam aufnahmebereit werden (Vom Homeschooling zum Outdoorschooling). "Die Pandemie hätte zu nie für möglich gehaltener Kreativität im Umgang mit Wind, Wetter und den soziogeographischen Gegebenheiten führen können", so der Sportmediziner. Das ist unverbindlich, konkreter ist seine Verärgerung.
Sie gilt der "Besorgnis einiger weniger", die Schulleitungen dazu veranlasst hätte, den für die "allermeisten Schüler sehr wichtigen" Sport-Unterricht einzustellen ("zu gefährlich, zu unkontrollierbar, versicherungstechnisch problematisch, zu kalt, keine Dusch- und Umkleidemöglichkeiten") - ihn ausschließlich als Gefahrenherd zu begreifen und ansonsten nicht so wichtig zu nehmen, was sich dem politischen Konsens bequem anschmiegte.
Wie immer man zu den Risiko-Schadens-Abwägungen der Corona-Maßnahmen steht, bestimmte, möglicherweise längerfristige Auswirkungen geraten erst langsam mehr in den öffentlichen Blick.
In Frankreich hat man sich die Mühe gemacht, die Anstiege der Sesshaftigkeit vor dem Bildschirm und die Verluste an Bewegungszeit zu erfassen. Die Kinder in der Pubertät sind demnach mit einem Verlust von mehr als 50 Prozent an Bewegungszeit und einer genau gegenläufigen Bildschirmzeit noch etwas stärker betroffen als Kinder unter zwölf Jahren.
Perikles Simon, Sportmediziner
Eine Eltern-Befragung des Ifo-Institutes, durchgeführt im Februar und März dieses Jahres, gibt an, dass Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt etwa 4,6 Stunden am Tag "mit passiven Aktivitäten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen oder dem Konsum von sozialen und Online-Medien" verbringen. 2,9 Stunden pro Tag würden auf Tätigkeiten wie Lesen, Musizieren oder Bewegung entfallen.
Abtauchen
Als Lernzeit, Unterricht plus Aufgaben, wurden durchschnittlich 4,3 Stunden pro Tag ermittelt. Vor Jahresfrist, als der Fernunterricht noch ganz neu war, waren es 3,6 Stunden. Vor Corona waren es 7,4 Stunden. Der subjektive Eindruck von Eltern, wonach ihre Kinder nun weniger für die Schule machen, bestätigt die Befragung von 2.000 Eltern ("von Schüler*innen an allen allgemeinbildenden Schulen - Grundschulen, Haupt-, Real- und Gesamtschulen, Gymnasien und sonstigen weiterführenden Schularten -, die über ihr jüngstes Schulkind befragt wurden".) 18 Prozent hatten sogar noch nie Online-Unterricht.
Zwar wird eine positive Tendenz generell eine positive Tendenz im Vergleich zu den Schulschließungen vor einem Jahr festgestellt - der Online-Unterricht habe sich verbessert und der Durchschnitt der Lernzeit habe sich nicht nur für Einzelne erhöht, sondern sich insgesamt nach oben verschoben, doch taucht auch in dieser Bilanz nicht ganz ein Viertel der Schüler in einen Bereich ab, wo die schulische Wissensvermittlung nur eine kleine Nebenrolle spielt.
Während der Schulschließungen Anfang 2021 haben sich 23% der Schulkinder höchstens zwei Stunden mit schulischen Aktivitäten beschäftigt, bei 58% waren es höchstens vier Stunden. Bei 9% der Schüler*innen war es sogar nur maximal eine Stunde. Im Vergleich: Während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 lagen diese Anteile noch bei 38%, 74% und 14%.
Ifo-Institut
Nur eine Minderheit der Eltern, nämlich 28 Prozent, sei der Auffassung, dass die Schulschließungen ihrem Kind mehr genutzt als geschadet haben. Eine deutliche Mehrheit von 57 Prozent stimme dieser Aussage nicht zu. Als besonders negativ werden die sozialen Auswirkungen bewertet. Die große Mehrheit der Schulkinder (86 Prozent) trafen sich deutlich seltener mit Freundinnen und Freunden. "Für gut drei Viertel (76 Prozent) der Kinder waren die fehlenden Treffen mit Freund*innen während der Corona-Pandemie laut den Eltern eine große Belastung." 31 Prozent der Eltern sagten, ihr Kind habe in dieser Zeit zugenommen.