Nicht gefährlicher als eine normale Grippe?
Beispielhafte Kritik an einer der üblichen scheinwissenschaftlichen Argumentationen, die zeigen wollen, dass "das öffentlich akzeptierte Narrativ zu Covid-19 falsch ist"
Die am 25. Juli bei "Freitag" veröffentlichte Studie von Gunnar Jeschke "Wie gefährlich ist Covid-19?" will ich nicht unkommentiert lassen. Sie ist nämlich recht typisch für sich seriös und wissenschaftlich gebende Äußerungen, die mit einer Art faktenbeladener Spiegelfechterei nicht-wissenschaftliche Schlüsse präsentieren.
1. Die Form
Zunächst wird die WHO kritisiert und ihr bewusste oder unbewusste Täuschung vorgeworfen. Dies anhand einer Grafik, über die man natürlich verschiedener Meinung sein kann. Ob man dieser Grafik viel entnehmen kann, sei dahingestellt. Genau deshalb ist es aber auch unsinnig, ihr "Täuschung" oder "Manipulation" vorzuwerfen. Sie ist ebenso verwirrend wie nichtssagend.
Generell ist zu bemerken, dass die Bebilderung von Fakten mit Grafiken und Tabellen nur bedingt zum Verständnis des Dargebotenen beiträgt. Oftmals verwirren diese Darstellungen mehr, als sie erklären.
Es ist aber zu beobachten, in Publikationen der verschiedensten Art, dass der ziemlich reichliche Einsatz von dergleichen optischen Hilfsmitteln meistens den Umstand verdeckt, dass an dem Artikel/Buch oder der Studie nicht viel dahinter ist. Sie dienen oft zum pseudowissenschaftlichen Aufblasen von recht dürftigen Gedanken. Der Autor will damit vermitteln, er habe sich die Sache wirklich genau angeschaut, deshalb seien seine Analysen und Schlussfolgerungen ernst zu nehmen.
Genau das ist bei diesem Artikel auch der Fall. Der Krankheitsverlauf und die Daten verschiedenster Länder werden zusammengeworfen und mit Schätzungen in denkbar unübersichtlicher Form präsentiert, sodass am Schluss nichts an Einblick übrigbleibt. Da setzt der Autor wieder ein und führt den verirrten und verwirrten Leser aus dem Dickicht der Grafiken wieder auf die Asphaltstraße seiner Schlussfolgerungen.
2. Der Inhalt
"Mir ist in der Vergangenheit vorgeworfen worden, ja doch nur reine Empirie zu betreiben, die nicht zu einem Verständnis der Zusammenhänge führe", leitet Jeschke zu seinen eigentlichen Aussagen über. Wenn es doch nur so wäre! Dann wäre der Artikel (und vermutliche andere auch) zwar überflüssig, aber harmlos. "Tatsächlich kann man durch eine empirische Untersuchung der Daten nur belegen, dass das öffentlich akzeptierte Narrativ zu Covid-19 falsch ist."
Schon die Formulierung "empirische Untersuchung der Daten" ist Unsinn und auch noch doppelt gemoppelt. Was soll denn eine Untersuchung anderes zum Ausgangspunkt haben als die Wirklichkeit, also Daten und Fakten? Und was heißt in diesem Zusammenhang "empirisch"? Daten werden untersucht, und dann noch dazu "empirisch", also solche, die vorliegen, die da sind - weil die, die es nicht gibt, kann man ja auch nicht untersuchen.
Man fragt sich weiter, was eigentlich das "öffentlich akzeptierte Narrativ" ist? Das lautet ja in Deutschland anders als in Schweden, Brasilien, Spanien, den USA usw. Das "öffentliche Narrativ" im Falle der Coronavirus-Krise, also das, was die Politiker und die ihnen assistierenden Medien als Sichtweise ausgeben, hängt nämlich erstens vom nationalen Krankheitsverlauf als auch von der nationalen Politik ab. Es ist keineswegs so, wie der Autor hier suggeriert (nicht ausdrücklich behauptet, wohlbemerkt), dass sich alle den Vorgaben der WHO anschließen würden.
Im Weiteren wird die Sache auch noch dazu sprachlich etwas unklar:
"Man kann nicht erklären, was zu dem beobachteten Verhalten führt." Welchem Verhalten? Dem, das er der WHO/der Politik/ dem Leser? unterstellt?
"Dennoch erscheint es mir bereits nützlich, Irrtümer als solche zu erkennen." Seine vielen Grafiken erklären nichts, sollen aber jemandes anderen "Irrtum" nachweisen. Das, wogegen er sich wendet, ist also bereits als "Irrtum" qualifiziert, und der Autor hat auf jeden Fall Recht.
"Das ist sicher nötig, wenn man je zu einem Verständnis gelangen will." "Verständnis" von was?
Der Autor gibt sich bezüglich seiner Schlussfolgerungen bescheiden:
"Heute will ich darüber hinaus eine mögliche Interpretation anbieten. Diese ist natürlich spekulativ, weil mir nicht mehr zuverlässige Daten zur Verfügung stehen, als ich bereits in der Auswertung verwendet habe. Ich kann eine Hypothese also nicht überprüfen. Ich kann aber eine prinzipiell überprüfbare Hypothese formulieren."
Interpretation, möglich, spekulativ, Hypothese - diese Zigeunerin-Kristallkugel-Seriosität ist also das Schlaraffenland, in das man sich durch den Grießbrei der vielen Grafiken durchfressen musste? Es folgt Belangloses über Grippe und Statistiken, dann der Weisheit letzter Schluss:
"Die bisher erhobenen Daten belegen nicht, dass Covid-19 im Vergleich zu einer mittelschweren Grippe-Epidemie etwas Besonderes ist."
Das liegt nicht nur an der von Jeschke betriebenen selektiven Verwendung der Daten, sondern daran, dass Daten nie etwas "belegen" können. Es bedarf ihrer Auswertung und Analyse, um daraus Schlüsse ziehen zu können. Jedes wissenschaftliche Ergebnis ist daher Ergebnis geistiger Tätigkeit und als solches zu würdigen, anstatt auf Daten zu deuten, wie auf eine Rechnung, die eine Ausgabe "belegt".
Aber Jeschke will ja auf etwas ganz anderes hinaus:
"Der Unterschied ist lediglich, dass mittelschwere Grippeepidemien bisher keine Wirtschaftskrisen und gesellschaftlichen Verwerfungen hervorgerufen haben." Was soll damit gesagt werden?
Hier halte ich einen allgemeinen Exkurs für notwendig, zu dem inzwischen unter Corona-Dissidenten populären Vergleich zwischen "gewöhnlichen" Grippewellen und Covid-19.
Erstens, die "gewöhnlichen" Grippewellen finden wann und wo statt? Das ist nach Regionen völlig verschieden und - entgegen der Behauptungen von Jeschke & Co - datenmäßig in vielen Staaten nicht erfasst. Schon die Behauptung, sie seien "gewöhnlich", ist eine Erfindung, als seien sie üblich und akzeptiert und jeder findet sie völlig normal, trotz der behaupteten hohen Letalität. Viele Staaten führen darüber keine gesonderten Statistiken, diejenigen der WHO beruhen auf Schätzungen. Der Vergleich zwischen normalen Grippewellen und CV-19 entbehrt also zumindest international einer datenmäßigen Grundlage.
Zweitens, selbst wenn es so wäre, dass "gewöhnliche" Grippewellen genauso letal wären wie Covid-19, so müsste man doch erst einmal nachfragen: Warum wurde bisher gegen die Grippe so wenig unternommen, und nicht: Warum wird gegen CV-19 so viel unternommen?
Diese Art von Vergleich beruht auf einem ähnlich verächtlichen Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, wie es Bolsonaro oder Trump verkörpern: Die Bevölkerung ist da, um die Nation groß zu machen, wenn dabei viele auf der Strecke bleiben, so macht das nichts, Hauptsache das Endergebnis stimmt!
Der Vergleich zwischen anderen Grippewellen und CV-19 hinkt noch aus anderen Gründen: Covid-19 ist ja keineswegs vorbei und wütet in Nord- und Lateinamerika ziemlich ungebremst. Die Opfer anderer Kontinente zählen aber für Jeschke offenbar nicht.
Jeschke kritisiert eigentlich mit einer gewissen heuchlerischen Schein-Objektivität (ich halte mich nur an Daten! und ich formuliere nur Hypothesen!) die Politiker weltweit dessen, dass sie wegen einer mäßig letalen Grippe völlig unnötig die Profitmaschinerie ihrer Länder zum Stillstand gebracht haben. Damit ist natürlich der Boden bereitet für Verschwörungstheorien aller Art, was und wer da wohl "dahinterstecken" mag?
Ansonsten werden in solchen mit Grafiken und "Fakten" beladenen Artikeln bzw. Studien nur alle Härten und Ideologien unseres Gesellschaftssystems bekräftigt und gutgeheißen: Die Politik hat dem "Volk" bzw. der "Nation" zu dienen, indem sie die Marktwirtschaft, d.h. Profitemachen und Wachstum, befördert. Opfer sind unvermeidlich, da darf man nicht kleinlich sein. Das gilt nicht nur für Grippetote, sondern kann auch auf alle anderen ausgedehnt werden, die durch den Rost fallen oder durch die Konkurrenzgesellschaft krank werden und sterben.
Die Schlussfolgerung solcher "wissenschaftsorientierter" Autoren lautet dann konsequenterweise: Unser Wertesystem ist durch dunkle Kräfte in Gefahr.
In Anlehnung an die Freitag-Biographie des kritisierten Autors: Geschrieben von Amelie Lanier, Geisteswissenschaftlerin, in Österreich aufgewachsen, lebt in Zell am See.