Nicht reinkommen, nur gucken!
Wie Integration und Assimilation in den Debatten verwechselt werden
Schlimmer geht nimmer: Fast jedes zweite in Deutschland geborene Kind von Zuwanderern verfügt nicht über die notwendigen Grundkenntnisse in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften, das verrät der vor wenigen Tagen von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bundesbildungsministerium vorgestellte Bericht "Bildung in Deutschland". Und eine neue OECD-Studie belegt: In keinem anderen Industriestaat der Welt haben Migrantenkinder schlechtere Zukunftschancen als in Deutschland. Das belebt natürlich wieder einmal die Integrationsdebatte. Doch sie stimmt nicht. Integration und Assimilation werden gänzlich verwechselt. Ein Aufklärungsversuch.
"Integration ist keine Einbahnstraße" (Wolfgang Schäuble, CDU) oder: "Ohne optimale Sprachförderung wird Integration kaum gelingen" (Claudia Roth, Bündnis90/Die Grünen) oder: "Die Gesellschaft ist als Ganzes und jeder und jede einzelne ist selbst gefordert, damit Integration gelingen kann" (Strategiepapier der FDP-Bundestagsfraktion) und auch: "Integration nur mit gemeinsamer Sprache" (Edmund Stoiber, CSU) und schließlich: "Wir haben ein hohes Interesse daran, nicht die Falschen einzubürgern" (Günther Beckstein, CSU).
Die Debatte um Integration kommt nicht zur Ruhe. Alles soll besser werden, schließlich soll Neukölln bald nicht in Baden-Württemberg liegen. Zum Schrecken aller aber wurde nun jüngst das Ergebnis einer Pisa-Studie der OECD bekannt gegeben: In keinem anderen Industriestaat der Welt haben Migrantenkinder schlechtere Zukunftschancen als in Deutschland. Und je länger sie hier leben, desto schlechter sieht es aus; hier geborene Migranten schneiden sogar noch schlechter ab als die, die erst später gekommen sind - obwohl sie motiviert sind.
Auch der vor wenigen Tagen von der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bundesbildungsministerium vorgestellte Bericht "Bildung in Deutschland" belegt: Fast jedes zweite in Deutschland geborene Kind von Zuwanderern verfügt nicht über die notwendigen Grundkenntnisse in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Die Debatte um Integration in Deutschland ist darum notwendig. Sie war es vielleicht noch nie so wie derzeit.
Doch sie stimmt nicht. Integration und Assimilation werden gänzlich verwechselt. Denn Integration meint strukturelle Chancengleichheit und kulturelle wie soziale Annäherung von Zuwanderern und Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Bei Integration geht es also um die Angleichung von Lebenslagen als Resultat eines beiderseitigen Prozesses, unabhängig von Herkunft. Assimilation zielt hingegen auf die einseitige Anpassung von Minderheiten an die Majorität und deren Kultur. Hier geht es um die Übernahme kultureller Standards, Muster und Werte.
Wo steht Deutschland?
Die Integrationsforschung hat zur Beantwortung dieser Frage viel Aufklärungsarbeit geleistet. Denn durch sie kann der Integrationstand bis dato in Deutschland relativ gut aufgezeigt werden. In der Regel werden dabei vier Ebenen unterschieden: die strukturelle, kulturelle, soziale und die "identifikative" Integration. Was meint das?
Die strukturelle Integration setzt das Vorhandensein wichtiger Bürgerrechte und das Nichtvorhandensein ethnischer Schichtung voraus. Kulturelle Integration meint die wechselseitige Annäherung oder Angleichung von Kulturen, die soziale wiederum gibt die Richtung und Intensität von sozialen Alltagskontakten zwischen Deutschen und Nichtdeutschen wieder. Und die identifikative Integration ist in etwa die Quittung für bereits erfolgreiches Integrieren, wenn sich hier lebende Migranten integriert fühlen, weil sie eben integriert sind und sich darum mit Deutschland im Sinne eines Zugehörigkeitsgefühles identifizieren.
Wo also steht Deutschland? Ernüchterung ist da wohl die beste Medizin. Denn eine rechtlich strukturelle Gleichstellung gibt es bis heute nicht. Nicht-EU-Bürger haben bis heute praktisch keine politischen Rechte. Sie besitzen weder das kommunale noch das allgemeine aktive und passive Wahlrecht (EU-Ausländer besitzen nur das kommunale Wahlrecht). Sie dürfen also weder vor Ort mitentscheiden, ob eine Kindertagesstätte neben den Supermarkt soll, noch dürfen sie wählen gehen oder sich zur Wahl aufstellen lassen. Das betrifft den Großteil hier lebender Migranten, die keinen deutschen Pass haben: 69 Prozent der 6,7 Millionen Ausländer in Deutschland sind keine EU-Bürger.
Zudem dürfen Nicht-EU-Bürger in der Regel erst einen Job annehmen, wenn kein Deutscher in Frage kommt (es sei denn sie haben eine Niederlassungserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit unbeschränkter Erlaubnis zur Erwerbstätigkeit). Auch werden sie nicht so schnell eingebürgert, wie gerne geglaubt wird. Denn noch immer existiert in groben Zügen das Staatsbürgerschaftsrecht von 1913, das "ius sanguinis", das auf der Basis blutsinduzierter Abstammung beruht. Deutscher ist also der, wer deutscher Abstammung ist.
Einbürgerungszahlen gehen stetig zurück
Das Staatsangehörigkeitsrecht wurde zwar durch eine entsprechende Novellierung im Jahre 2000 dahingehend modifiziert, dass nun per Geburt Deutscher werden kann, wer seit dem 1. Januar 2000 hier geboren ist (das so genannte "ius soli"). Doch im Grunde wurden dem alten Hut nur neue Federn zugesteckt, denn ein Elternteil des Kindes muss mindestens seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland leben, das erfüllten aber Ende 2004 nur 67 Prozent hier lebender Migranten mit ausländischem Pass.
Auch muss eine Niederlassungserlaubnis oder seit mindestens drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis vorliegen, die Ansprüche verliert man jedoch unter anderem, wenn Sozialleistungen bezogen werden. Zudem wird die Staatsangehörigkeit nach Erwerb der Volljährigkeit "optiert". Menschen mit Doppelpass müssen sich bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres entscheiden, wer sie sein wollen, Türke etwa oder Deutscher. Nur in Ausnahmefällen wird "Mehrstaatlichkeit" hingenommen.
Seit Jahren gehen nun die Einbürgerungszahlen stetig zurück. Im Jahr 2000 gab es noch 186.688 Einbürgerungen, 2004 erhielt ein Drittel weniger den deutschen Pass als noch vier Jahre zuvor. Nur in Berlin gab es im letzten Jahr erstmals wieder nach fünf Jahren einen leichten Zuwachs (bundesweit liegen für 2005 noch keine Zahlen vor). Anscheinend können nicht nur, auch möchten viele gar keinen Nachweis der deutschen Staatsbürgerschaft in der Tasche haben, zudem scheint das Interesse von Seiten der Politik nicht sonderlich groß zu sein, hier lebende Migranten einzubürgern.
Schneller Verlust des Rechts auf deutsche Staatsbürgerschaft
Denn die Innenminister der Länder haben sich erst vor einem Monat nach wochenlangen Debatten über Einbürgerungsbestimmungen in zweitägigen Gesprächen über einen Kompromiss zur Einbürgerung verständigt: Wer künftig deutscher Staatsbürger werden möchte muss bundesweit Sprachtests und Einbürgerungskurse absolvieren. Einen einheitlichen deutschlandweiten Wissenstest nach Vorbild der Länder Hessen und Baden-Württemberg gibt es somit zwar nicht, dennoch wird die erfolgreiche Teilnahme überprüft. "Bloße Sitznachweise", so etwa der bayerische Innenminister Günther Beckstein, reichen da nicht aus.
Als "kontraproduktiv" wies der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, die neuen Bestimmungen zurück. Denn die künftigen Spielregelungen zielen darauf ab, die Bundesrepublik vor kriminellen wie auch vor ungebildeten Menschen anderer Herkunft zu "schützen". Sicher, Kulturrelativismus ist genauso wenig angebracht wie die Bagatellisierung terroristischen Potenzials, doch nun kann bereits bei einer Geldstrafe von 90 statt bisher 180 Tagessätzen der Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft verloren gehen.
Das heißt: Den deutschen Pass kann jetzt nur erhalten, abgesehen von der Option diesen per Geburt zu bekommen, wer mindestens seit acht Jahren in Deutschland lebt, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, in der Regel keine Sozialleistungen bezieht, auch ausreichend Deutsch sprechen kann, seine bisherige Staatsbürgerschaft aufgibt und nicht kriminell ist. Um letzteres zu präzisieren: Um als kriminell zu gelten könnte nach der neuen Rechtsprechung schon ein Verkehrsunfall genügen. Zudem können nun auch mehrere Verurteilungen addiert werden, so dass man schließlich auf insgesamt mehr als 90 Tagessätze kommt.
Das löst keine Integrationsprobleme, es produziert welche, denn es kriminalisiert hier lebende Migranten. Ähnliches gilt für das zweite Hauptanliegen der neuen Bestimmungen, Deutschsprachigkeit zu "fördern". Das erscheint zunächst logisch wie sinnvoll, es ist auch notwendig. Die deutsche Sprache ist nicht nur wichtig, um Interessen artikulieren zu können, sie ist auch die Eintrittskarte zur Berufswelt. Wer sie nicht beherrscht, kann es auf dem ersten Arbeitsmarkt glatt vergessen.
Entscheidend ist nun aber der Ansatz der Bestimmung: Man setzt "gelungene" Integration in Form bereits vorhandener Sprachkompetenz als Bedingung voraus, um "Integrationswillige" zu fördern, schreibt damit jedoch zugleich durch die Implikation "integrationswillig" fest, dass der Rest integrationsunwillig sei. Integrationsversäumnisse sind folglich ein Problem der Betroffenen selbst.
Integration: Pfeil in die andere Richtung
Man verwechselt da was. Integration wird nunmehr verstanden als Eigenleistung, als Vorverlagerung. Denn erst wenn diese geglückt ist, soll man in die ersten Reihen vorstoßen dürfen, dann kann man, rein rechtlich, Deutscher oder Deutsche werden, ansonsten bleibt die Losung: Bleiben Sie draußen und gucken rein. Die Basics, das Handwerkszeug, wie ausreichende Sprachkenntnisse, muss aber schon parat haben, wer rein möchte.
In der Soziologie wird das unter dem Begriff der "Akkommodation" als Vorstufe kultureller Integration erfasst, Kompetenzen zu besitzen, die es einem erst ermöglichen in der Aufnahmegesellschaft interaktions- und arbeitsfähig zu werden. Wer diese Kompetenzen besitzt, hat die besten Voraussetzungen zur Integration, wer nicht darüber verfügt, müsste integriert werden. Jetzt wird der Pfeil in die andere Richtung geschossen: Erst wenn man sich integriert, oder besser assimiliert hat und sich auch mit dem hiesigen Wertesystem identifiziert, wird man gegebenenfalls deutscher Staatsbürger.
Das heißt: Den Schlusspunkt des Ganzen bildet die strukturelle Integration durch das Staatsangehörigkeitsrecht, die Voraussetzung dafür ist ebenfalls die strukturelle in Form materieller Existenzsicherung, vor allem aber die kulturelle (Sprache) und die identifikative Integration.
Die Wirklichkeit ist anders
Genau anders herum verhält es sich aber in der Realität: Strukturelles Einbeziehen ist eine der Voraussetzungen für gelingende Integration, das Selbstidentifizieren als Deutsche(r) und hiesigen Werten ist der Schlusspunkt; es ist die Folge von bereits geglücktem Einbezug, wenn sich Zuwanderer in der neuen Umgebung zurechtfinden (Kulturation), ihre rechtliche Gleichstellung und materielle Existenzgrundlagen gesichert sind (strukturelle Integration) und Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung bestehen (soziale Integration). Kurzum: wenn sich Migranten integriert fühlen, weil sie integriert sind. Das soll nun anders herum funktionieren.
Das ist hausgemachter Blödsinn. Und man setzt sich damit auch gewissermaßen über den hiesigen Forschungsstand hinweg. Denn eine Grunderkenntnis ist es, trotz divergierender Ansätze, dass Sprache, und um die geht es hier hauptsächlich, nur durch Interaktion gelernt werden kann und dieser Prozess durch Diskriminierungserfahrung erschwert wird.
Gelungene Integration setzt aber das Nichtvorhandensein ethnischer Schichtung voraus. Soziale Schichten und Lagen dürfen demnach nicht in hohem Maße von einer ethnischen Minderheit bestimmt werden. Das Gegenteil jedoch ist in Deutschland der Fall: Ethnische Minderheiten wohnen überwiegend konzentriert in armen Wohnvierteln der Großstädte mit über einer halben Million Einwohner, womit zwar nicht zwangsläufig eine Isolierung und Benachteiligung einhergeht. Tendenziell ist das aber so.
Ethnische "Segregation"
Nun lässt sich sagen: sollen die Betroffenen doch wegziehen. Ethnische "Segregation" ist durchaus auch freiwillig gewählt, wenn Migranten nämlich in Quartiere ziehen, um unter Gleichgesinnten zu sein. Das bietet Schutzraum. Auch können so ethnisch-kulturelle Netzwerke aufgebaut werden.
Zugleich ist Segregation jedoch unfreiwillig, weil Migranten durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt meist nur in ethnisch segmentierten Märkten Anstellung finden oder dort selbständige Tätigkeiten ausüben können. Darum wohnen sie auch in diesen Gegenden. Zudem können sie sich oft keine teureren Wohnungen in wohlhabenden Vierteln leisten.
Insbesondere seit den 80er Jahren ist gerade der Prozentsatz von Türken, die lieber in einem von Ausländern geprägten Viertel leben, nach Angabe des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung massiv gestiegen. Und die Rechnung ist dann folglich ganz einfach: Starke ethnische Konzentration erhöht die Visibilität, diesen Prozess hatte der Migrationsforscher Amos H. Hawley bereits in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts treffend skizziert.
Die Anzahl der Mitglieder von ethnischen Minderheiten wird überschätzt. Konkurrenzempfindungen und Bedrohungsgefühle verstärken sich, und die soziale Distanz zwischen Majorität und Minorität wächst. Dann folgt erneuter Rückzug ethnischer Minderheiten.
Die deutsche Sprache kann folglich auch nur schlecht gelernt werden. Obwohl bis heute nicht klar ist, ob sich die Sprachkenntnisse hier lebender Migranten im Laufe der Jahrzehnte seit ihrer Einreise verschlechtert haben, wie immer wieder angenommen wird. Dazu gibt es keine flächendeckende Untersuchung, keine Pilotstudie, die das belegen kann. Sprachkenntnisse der zweiten Generation haben sich im Vergleich zur ersten sicher verbessert, das zeigten Studien.
Dennoch sind es in der Regel subjektive Selbsteinschätzung, das schmälert allerdings die Validität der Ergebnisse. Laut Statistischem Bundesamt (Datenreport 2004) haben sich die Sprach- und Schreibkenntnisse bei allen Zuwanderungsgruppen zwischen 1996 und 2003 verbessert, bei den Zuwanderern aus der Türkei jedoch verschlechtert. Ausnahmen, wo nun die Sprachkompetenz von den Interviewern eingeschätzt wurde, sind etwa die Untersuchungen des Instituts Marplan. Und die letzten Ergebnisse von 2001 zeigen: Je nach Nationalität der Befragten verfügen zwischen 41 Prozent (Türken) und 62 Prozent (Italiener) über gute bis perfekte deutsche Sprachkenntnisse. Generell reichten die Sprachkompetenzen nach Meinung der Forscher zur Verständigung aus.
Sprachkenntnisse reichen für Wettbewerbsfähigkeit nicht aus
Eines ist dennoch klar: Um ausreichend wettbewerbsfähig zu sein, reichen die Sprachkenntnisse von Migranten nicht aus. Gleiches gilt auch für die berufliche Qualifikation und den Bildungsrad ausländischer Arbeitnehmer(innen), denn auch diese haben sich seit den 70er bzw. 80er Jahren verbessert. Doch im Vergleich zu den Deutschen langt es nicht, die berufliche Qualifikation wie auch das Schulniveau sind schlechter, wobei die Werte schriftlicher Deutschkenntnisse hinter jenen von Sprachkompetenzen liegen und gerade die Ausbildungsquote von ausländischen Jugendlichen laut Berufsbildungsbericht 2005 auf nur 27,1 Prozent im Jahre 2003 sank (Deutsche 60 Prozent).
Das Resultat ist wiederum vermehrte Arbeitslosigkeit, dieser Effekt ist gerade in Deutschland zu erkennen und das betrifft gerade türkische Migranten, und womöglich ist Arbeitslosigkeit dann auch nur eines von wenigen Worten, das noch an all den Rütli-Schulen vollständig buchstabiert werden kann.
Was heißt das in Zahlen? Nur etwa zehn Prozent der ausländischen Schüler macht das Abitur im Gegensatz zu 26 Prozent der Deutschen und über 60 Prozent ausländischer Schulabsolventen verlässt die Schule nur mit dem Hauptschul- oder ganz ohne Abschluss. Das bringt nun rein gar nichts auf dem heutigen Arbeitsmarkt mit stetiger Aufwärtsdynamik in Richtung Bildung total, durch die es auch Akademiker nicht allzu leicht haben und von einem Praktikum zum nächsten rutschen oder sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen vertrösten müssen.
Selbstständig, "weil sie nichts finden"
40 Prozent der unter 26jährigen mit türkischer Abstammung sind ohne Ausbildung oder Beschäftigung, besonders problematisch sieht es bei jungen Frauen aus, wie der KMK-Bericht verrät. Und die Betriebe verlangen bei Migranten im Schnitt auch "deutlich bessere Schulleistungen" als von Deutschen.
Was bleibt? Immer mehr Migranten, insbesondere türkischer Herkunft, machen sich darum auch selbständig, weil sie eben nichts finden. Die Zahl türkischstämmiger Unternehmer hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdreifacht. Genau das zeugt aber von Integrationsproblemen. Denn der Mut zur Selbständigkeit ist nicht nur Zeugnis von Eigenwille, sondern auch eine Art Überlebensreflex. In den 60er Jahren, als der industrielle Sektor noch florierte, gab es Arbeitslosigkeit und ausländischen Arbeitern faktisch nicht.
Erst nach der Ölpreiskrise und dem Anwerberstopp 1973 pendelte sich ein erstes Maximum bei rund 100.000 ausländischen Erwerbslosen ein. Seit den 90er Jahren stieg die Arbeitslosenzahl dann sprunghaft auf 400.000 an, nachdem diese in den 80er Jahren etwas sank. 1998 waren es bereits 500.000 Ausländische ohne Job.
Es hat sich etwas verändert. Denn was damals ein Garant für ökonomische Einbindung war, eben als ungelernte Arbeitskraft im industriellen Sektor unterzukommen, das ist heute ein Exklusionskriterium. Die Arbeitslosenquote von Ausländern ist derzeit mit knapp 26 Prozent doppelt so hoch wie von Deutschen, bei den türkischen Migranten sieht es am schlechtesten aus.
Integration ist gescheitert. Das ist wohl einer der meist notierten Sätze auf deutschen Bierdeckeln der letzten Zeit, das klingt nach Konsens. Denn dazu braucht es keine Analyse, da reicht der Verweis auf den Mord am Filmemacher van Gogh in den Niederlanden, ein bisschen Reportageschauen über die verkorksten Verhältnisse der Rütli-Schule oder ein kerniges Zitat aus Werken von Samuel P. Huntington. Es müsste aber lauten: Assimilation ist gescheitert.
Denn zur Integration hat man von politischer Seite nie wirklich beigetragen, vielmehr versuchte man jahrzehntelang Migranten rein rechtlich zu separieren, sie durch ein dreigliedriges Schulsystem auszusieben und auch zum Fortzug zu bewegen. Nach dem ersten Anwerbervertrag 1955 mit Italien gab es 1973 den Aufnahmestopp, da man registrierte, dass manche Migranten doch bleiben werden. Zuvor gab es ein jahrzehntlang nicht einmal ein Ausländergesetz, das wurde erst durch den deutschen Bundestag 1965 verabschiedet. Bis dato galt die Ausländerpolizeiverordnung (APVO) aus dem Dritten Reich von 1938.
Dennoch gab man Migranten, die hier geblieben sind, ab 1973 die Möglichkeit der Familienzusammenführung, versuchte sie aber zehn Jahre später mit dem in Kraft getretenen Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft zum dauerhaften Verlassen der Bundesrepublik zu motivieren: so etwa mit finanziellen Anreizen wie dem Rückerstatten des Arbeitnehmeranteils von Rentenbeiträgen. Das Angebot nahmen aber nur etwa 250.000 Migranten dankend an.
Wer ist Deutschland?
Das hat Symbolkraft, auch wenn man sich nicht darauf einlässt. Genauso wie die Unterschriftensammlung der CDU/CSU aus dem Jahre 1998/99 gegen den "Doppelpass", selbst wenn es diesen nun temporär gibt, gefolgt von ständig aufgeblähten Leitkulturdebatten und "Du bist Deutschland"-Euphorien. Wer ist Deutschland? Damit meint man die, die so wahrgenommen werden. Da fallen viele Migranten raus.
Darum können sich auch viele von ihnen noch immer nicht mit Deutschland identifizieren, auch wenn die zweite Generation einen deutlich höheren Grad nationaler Identifikation mit Deutschland aufweist als die erste. Doch gerade Türken identifizieren sich im Vergleich zu anderen Zuwanderern mit Deutschland wenig, auch ist bei ihnen eine Art "Backlash" von Religiosität der letzten Jahre, teils mit Tendenz zum Fundamentalen, zu erkennen. Ethnisch-nationalistische Organisationen und islamistisch-fundamentalistische Gruppierungen stoßen gerade bei Jugendlichen der zweiten und dritten Generation auf Resonanz, wie Kemal Bozay in seinem Buch "... ich bin stolz, Türke zu sein!" feststellt. Ein Beitrag zum Miteinander ist das kaum.
Es befördert eher die soziale Distanz, Selbstethnisierung auf der einen Seite als reaktives Moment auf zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in diesem Lande, nationalistisches Abkapseln der Mehrheitsbevölkerung auf der anderen Seite, der deutsche Adler will nicht auf dem türkischen Halbmond landen. Soziale Distanz meint jedoch nicht nur physischen Abstand. Soziale Distanz meint vielmehr ein subjektives Empfinden, das nur ein gewisses Maß an Nähe zu anderen Gruppen zulässt. Robert E. Park prägte den Begriff "soziale Distanz" bereits 1924, sein Schüler Emory S. Bogardus setzte sein Konzept später empirisch um. Denn soziale Distanz wird nicht nur da deutlich, wo Menschen einen Bogen um andere Gruppen machen, sondern gerade dort, wo sie zwar über Arbeit oder alltägliche Begegnungen in Kontakt treten, aber sonst nichts miteinander zu tun haben wollen.
"Soziale Distanz"
Wie sieht das in Deutschland aus? Anja Steinbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin der TU Chemnitz, hat in ihrem Werk "Soziale Distanz" im Jahre 2004 die gegenwärtige Situation in der Bundesrepublik anschaulich skizziert. Denn die Forschung konzentrierte sich bislang entweder auf die Situation von Migranten oder auf Einstellungen, Meinungen und Handlungsabsichten über diese von Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Steinbach untersuchte nun die Wechselwirkungen. Das Ergebnis: Der Eingliederungsprozess von Zuwanderern wird zunehmend durch soziale Distanz zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten erschwert. Es folgt ein Rückzug in die eigene ethnische Community, das ist besonders bei Türkischstämmigen zu beobachten. Die soziale Distanz ist darum auch zwischen Türken und den Deutschen am größten, auch zwischen Vietnamesen und Deutschen ähnlich hoch, aber weniger ausgeprägt zwischen Griechen/Italienern und der deutschen Mehrheitsbevölkerung.
Konkurrenz ist dabei das zentrale Element: es geht um Positionsgüter wie politische Macht oder um konkurrierendes Partizipationstreben auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die Türken sind mit über zwei Millionen Personen nach den Deutschen die größte ethnische Gruppe in der Bundesrepublik, die am Arbeitsmarkt partizipiert, im Osten sind es auch Vietnamesen mit bundesweit etwa 100.000 Personen. Beide Gruppen werden darum als am bedrohlichsten empfunden. Zudem bringt man gerade mit türkischen Migranten die Kluft zwischen Okzident und Orient in Verbindung, sie stehen für eine Kultur, die als fremd erscheint. Und sie lassen sich mehr als andere Minderheiten aufgrund askriptiver Merkmale klassifizieren.
Abgrenzung funktioniert immer auch aufgrund biologischer Grenzziehung. Das heißt auch irgendwie Jim Knopf im Kopf haben, denn das betrifft keinen schweigenden Schweden mit blondem Haar in der U-Bahn, dennoch Afrikanischstämmige, die mit Vietnamesen und den Türken zu den am meisten Ausgegrenzten in Deutschland gehören. Dabei kommt es nicht auf die Natürlichkeit von Unterschieden, sondern auf die Bewusstmachung und das Anerkennen von Differenzen an. Auch geht es nicht um tatsächliche Mehr- und Minderheitenrelationen, sondern um "empfundene" Minderheiten, die erst aufgrund biologischer Merkmale wie Hautfarbe, soziologischer Kennzeichen wie Kopftücher oder durch Ausdrucks- und Verhaltensweisen sowie kultureller Standards, die mit einer Minderheit assoziiert werden, zu einem solchen Kollektiv werden. Minderheiten sind folglich immer sozial konstruiert. Und sie müssen auch keineswegs die zahlenmäßig kleinsten oder kleinere ethnische Gruppen sein, auch wenn das in Deutschland der Fall ist.
Zur empfundenen Minderheit gehören dann auch die, die womöglich den deutschen Pass haben - das betrifft zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund -, die aber für einen Großteil der Bevölkerung so aussehen, als hätten sie keinen. Auch ist ethnische Grenzziehung kein Zeugnis real erlebter Konkurrenz, es ist die Überbewertung von angeblichem bis tatsächlichem Konkurrenzpotenzial, die soziale Distanz erst erzeugt.
Insbesondere Türken und Muslime leben heute in Deutschland weitgehend unter sich
Wie groß sind die Abstände? Indikatoren, die das Miteinander zwischen Mehr- und Minderheiten in diesem Lande beschreiben, sind interethnische Kontakte, Netzwerke aber auch binationale Heiraten. Das meint soziale Integration. Doch gerade der Stand binationaler, vor allem aber interethnischer Heiraten ist schwierig zu beurteilen. Zwar zeigt die amtliche Statistik eine Zunahme binationaler Eheschließungen in den letzten Jahrzehnten an, die deutsche Heiratsstatistik berücksichtigt aber nur in deutschen Standesämtern geschlossene Ehen, viele Minderheitenangehörige heiraten jedoch im Ausland. Auch heißt binational nicht biethnisch. Deutsche mit Migrationshintergrund, wie etwa bereits Eingebürgerte, werden in der Statistik als Deutsche erfasst. Dennoch zeigt sich: Gerade Italiener gehen vermehrt Partnerschaften mit Deutschen ein, türkischstämmige junge Frauen hingegen suchen sich den Lover meist in der eigenen Ethnie. Und bei Kontakten zwischen Deutschen und Migranten zeigt sich: Insbesondere Türken und Muslime leben heute in Deutschland weitgehend unter sich, sie haben zwar teils Kontakte zu Deutschen (gerade jüngere), wünschen sich auch welche, ältere Türken haben aber so gut wie gar keinen Austausch mit der Mehrheitsbevölkerung und Muslime auch kaum deutsche Freunde. Das war schon Ende der 80er Jahre so.
Das hatte man sich anders vorgestellt. Fußend auf den Annahmen der Chicago-School zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man, dass sich Migranten im Laufe der Zeit durch stetige Wohlfahrtsentwicklung assimilieren würden. Alles also eine Frage der Zeit, alles kommt in Gang. Nun aber stehen die Zeichen Kopf. Dennoch schwingt mit dem Wort Integration immer die Konnotation mit, dass man es von politischer Seite ausreichend versucht habe. Man hat es aber nicht. Auch erlebt das Assimilationskonzept schon seit einiger Zeit eine "Renaissance". Nicht nur in der Politik, in der immer wieder von Integration gesprochen aber eigentlich Assimilation gemeint wird, auch in der internationalen Migrationsforschung der letzten Jahre.
Der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser fragte darum, was es eigentlich für Alternativen zur Assimilation gebe? Schließlich, so die Argumentation der Befürworter, existiere ein institutioneller und kultureller Kern der Aufnahmegesellschaft, der Migranten über Generationen hinweg an diesen Kern zwingt. Das mag bezüglich struktureller Integration auch zutreffend sein, keiner kann die Übernahme eines anderen Rechtssystems oder die Einnahme beruflicher Positionen von anderen Ländern erwarten. Auch sind Distinktionsreflexe überzogen, wenn eine Angleichung an das Sprachverhalten der Majorität unisono als "Germanisierung" verstanden wird. In diesem Punkt ist kulturelle Assimilation sogar notwendig, das trägt zur (relativen) Chancengleichheit bei. Es fragt sich nur, warum das unter Zwang passieren muss und warum man Bilingualität als Versäumnis, nicht aber als Bereicherung begreift.
Der Einspruch von Gegnern des Assimilationskonzeptes, es gebe heute keinen kulturellen Kern mehr aufgrund weltweiter Interdependenzen verschiedener Kulturen, der ist ebenso berechtigt. Und wie die Menschen verschiedenster Kulturen letztlich aufeinander zugehen, darin spiegelt sich nicht nur gegenseitiges Interesse wider, auch Machtbalancen werden sichtbar. Zur Integration gehören immer zwei oder mehrere Seiten, die Spielregeln zur Chancengleichheit aber, ob es etwa eine rechtliche Gleichstellung gibt oder das dreigliedrige Schulsystem reformiert wird, kann nur die Aufnahmegesellschaft bestimmen. Und das hat man bis heute verpasst.