Nichts ist schöner als Bausünden

Unterhaching bei München. Bild: Turit Fröbe, © 2020, DuMont Buchverlag

Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe hat den Bogen heraus, wie Bausünden zu erkennen sind. Irren ist inbegriffen

Was ist Kitsch? Das ist "the unanswered question", seit es Kitsch gibt. Seit wann gibt es Kitsch? Die Herkunft des Wortes ist ebenso rätselhaft wie die Sache selbst. "Engelein umschweben unser täglich Brot", heißt es in der Verszeile eines geheimnisvoll raunenden Gedichtes, das unfreiwillig einen emotionalen Overkill im Schilde führt. Versüßt Kitsch unseren Alltag, Nutella für den Geist? Oder ist Kitsch das Negative, das von der hohen Kunst verbannt ist? Ein Sündiges, wenn nicht gar ein die Ratio umschiffendes Böses?

Das Negative, das im Kitsch "Fleisch" geworden ist, hat wider Erwarten eine positive Funktion. Es hilft, Kunst zu definieren. Wer Kitsch sieht, weiß was Kunst ist. Das Hässliche und das Schöne bedingen einander, gewinnen durch ihre jeweilige Negation Gestalt. Der Philosoph Karl Rosenkranz veröffentlichte schon 1853 eine "Ästhetik des Hässlichen", wenn auch noch ganz klassisch das Schöngute obsiegte. Die Kunstfiguren, die uns im Alltag begegnen, sind Hybride. Sie reiben sich so lange an ihrem Gegenteil, bis sie sich an ihm entzünden.

Nichts ist schöner als Bausünden (25 Bilder)

Karstadt Braunschweig. Bild: Turit Fröbe, © 2020, DuMont Buchverlag

Leider gibt es nicht mehr die eine Kunst, die eine Ästhetik. Wo wird das offenkundiger als in der Architektur? Schon ein kleiner Stadtspaziergang nötigt uns, zigmal den Maßstab zu wechseln, wenn wir über Gartenzäune hinweg oder an Fassaden hoch blicken. Obwohl wir glauben, über einen sicheren ästhetischen Kompass zu verfügen. Die Dualismen von schön und hässlich, gut und böse sind gesprengt, aber ohne diese Leitplanken würde einst fest Gebautes im Namen der Innovation real gesprengt, um einer neuen Architektur Platz zu machen, die von Anfang an mit dem Makel der Nivellierung behaftet ist. Abrissbirnen verheißen nichts Gutes.

Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe sucht der Verunsicherung, der Umwertung aller Werte beizukommen, indem sie das gegensätzlich scheinende Paar von Kunst und Kitsch auf einen kleineren Maßstab herunterbricht. Der "Kunst der Bausünde" geht Fröbe in mittlerweile zwei Bildbänden nach.1

Fröbe löst den philosophisch begründeten Gegensatz in die Unterscheidung von guten und schlechten Bausünden auf. Dazu muss sie in der Bausünde bohren, bis sie positive Fragmente findet. Bausünden sind etwas Zwiespältiges. Man könnte sagen, Fröbe löst die angewiderte Verdammung des Falschen, des Unästhetischen, in Leichtigkeit und Heiterkeit auf. Das erhöht die Einsichtsfähigkeit in Architektur und Städtebau.

Gute Bausünden verpassen dem Betrachter eine homöopathische Schocktherapie. Wir können jahrelang an einem Gebäude vorbeigehen, aber die "kognitive Dissonanz" gebietet unserem Auge, reflexhaft darüber hinwegzusehen und nur an Objekten hängenzubleiben, die das Stadtmarketing als schön etikettiert hat. Plötzlich aber, ausgelöst durch mehr zufällige Impulse, springt uns die Bausünde ins Auge, und wir fragen uns: "Wie konnte das passieren?" Ein Blickunfall sozusagen.

Fröbe spricht in einem Einzelfall von einem "Gebäude wie eine Sehstörung", und meint es durchaus positiv. Bausünden ragen aus dem Meer der Mittelmäßigkeit heraus. Sie sind ein Vergehen am vermeintlich guten Geschmack. Ein Indiz, um gute Bausünden zu erkennen, ist das Unverständnis und die Ablehnung, auf die sie stoßen - zunächst stoßen, denn das Prädikat Bausünde ändert sich je nach Zeitgeschmack. Entsprechend bewegt sich die Bandbreite der Beurteilungen zwischen "Geht gar nicht" und "Hat doch etwas."

Gute Bausünden verfügen über eine hohe Bildqualität, Wiedererkennbarkeit und einen ureigenen Charme, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Sie sind nicht austauschbar. Als besonders eigenwillig lobt Fröbe die nach Plänen von Gottfried Böhm 1977/78 errichtete Karstadt-Filiale in Braunschweig. Eine ausladende skulpturale Geste findet sich auch an etlichen Parkhäusern der Nachkriegszeit. Gute Bausünden sind jedoch so schwer zu finden wie gute Architektur.

Wenn man sich also dafür entscheidet, die guten Bausünden zu erhalten, ließen sich damit auch automatisch all jene Bauten retten, die für Bausünden gehalten werden, weil sie vielleicht gerade nicht mehr dem Zeitgeschmack entsprechen, in Wirklichkeit aber gute Architektur sind.

Turit Fröbe

Bausünden sagen viel über die Stadt aus, in der sie zu finden sind. Sie wirken zwar wie Fremdkörper, aber die jeweilige Kommune liefert in ihren Charakteristika den Nährboden, in dem die guten Bausünden wurzeln. Braunschweigs Baupolitik ist experimentierfreudig, während Mönchengladbach im Mittelmaß versinkt. Die schlechten Bausünden weisen auf die Misere der Städte insgesamt hin. Sie decken das Übel auf. Fröbe hat jedoch ihr Urteil über Mönchengladbach inzwischen revidiert. So kann es einer Bausündenforscherin ergehen.

Am Anfang war die Ente

Berlin mit seinem unreflektierten Hang, Narben zu kitten und Zwischenräume zu schließen, ordnet Fröbe eher dem Pool der schlechten Bausünden zu. Aber abgespaced im wörtlichen Sinn ist der "Bierpinsel", ein ehemaliges Turmrestaurant, das 47 Meter über dem Straßenniveau wie eine Raumkapsel an einer Hochstraße aufragt.

Das (Flug-)Objekt ist seit Jahren nicht genutzt. Stilistisch liegt es zwischen Pop-Art und Betonbrutalismus. Ein neues Kleid aus Graffiti nimmt ihm die vormalige Schärfe. Es ist angekommen, um zu bleiben. Es wird akzeptiert. So werden aus Bausünden "Friendly Aliens". Von denselben Architekten stammt das wilde, die Technik und den Verkehr verherrlichende ICC Berlin, Dessen Chancen auf Erhalt steigen.

Das "Ahornblatt" in der Nähe des Alexanderplatzes, eine Preziose der DDR-Moderne, wurde nach der Wende durch eine schlechte Bausünde größter Langeweile ersetzt. Der Architekt jenes Großrestaurants, Ulrich Müther, wendete auch hier sein Markenzeichen an, eine Hyparschalen-Konstruktion, die das geflügelt wirkende Dach extra leicht machte. Die Form folgt dem Kraftfluss.

Müthers internationales Renommee konnte den Abriss des denkmalgeschützten Gebäudes im Jahr 2.000 nicht verhindern. Es war eine gute Bausünde ersten Ranges. Der Abriss half, die Spuren der Ostmoderne zu verwischen. Bestand in der Bauverwaltung die Furcht, dass sich das Ahornblatt zu einem Symbol des Widerstandes gegen eine Baupolitik entwickelt, welche die Bausünden der DDR durch die neuen Bausünden des Westens, darunter Rasterfassaden, ablöst? Ähnliches spielte sich um den Palast der Republik ab.

Bausünden stehen als solche im Kontext der Moderne, die sich ihrerseits auf die Neue Sachlichkeit der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts berief, aber in den seriellen Wohnungsbau à la "Platte" und in maßstabslose Monumentalbauten umkippte. Das geschah im Zeichen ungebremsten Wachstums. Diese "schlafenden Riesen" begannen als schlechte Bausünden und läuterten sich in dem Maße, wie sie sich in ihre Umgebung eingewöhnten. Das geht auf der anderen Seite nicht ohne die Gewöhnung des Auges des Betrachters ab.

Der Gewöhnungsprozess dürfte nur teilweise gelingen. Heraus kommt ein Oxymoron: "Hübsch hässlich" sind die aufgeblähten Hinterlassenschaften der Nachkriegsmoderne. Sie gewinnen an Authentizität und an Charme, je mehr ihre ursprünglichen Nutzungen obsolet werden. Sie stellen sich und den in Beton gegossenen Fortschrittsoptimismus aus ihrer Gründungszeit in Frage. Sie enthalten Veränderungspotential, etwa zur Umwandlung in Apartments.

Um es im Sinne Karl Rosenkranz’ zusammenzufassen: Was einst als Bausünde verworfen worden war, offenbart, sofern es in der Zwischenzeit nicht weggeschmissen worden ist, einen Schatz neu zu entdeckender Qualitäten. Die Bauwerke harren der Erweckung.

Die schlafenden Riesen oder "gestrandeten Wale" stellen auch eine Herausforderung für das veränderte soziale Milieu dar, in dem sie austrocknen. Die Modernisierung zu Wohnhochhäusern dürfte dem linksalternativen Publikum als Gentrifizierung sauer aufstoßen, und so wird der Zirkel aus Akzeptanz und Zurückweisung aufs Neue angestoßen.

Gute Bausünden haben einen Urvogel. Nicht Archaeopteryx, sondern eine Ente. Der Architekt Robert Venturi stieß auf sie in Flanders/New York und löste mit ihrer Hilfe eine Architekturdebatte aus, die seit den 60/70er Jahren anhält. Ein freistehendes Ladengeschäft, das ursprünglich Geflügel und Drumherum verkaufte, war in Form einer riesigen begehbaren Ente gestaltet worden. Es ist bis heute ein Blickfang von hohem Wiedererkennungswert. Die Form des Baus ist mit der Botschaft verschmolzen.

Als ein Vertreter der Postmoderne missachtet Venturi bewusst seriöse europäische Symbol- und Zeichentheorien, wonach eine Ente nicht das Symbol einer Ente sein kann. Der ganze Bau ist eine Ente, was Venturi auch umdreht und den von ihm favorisierten plastischen Architekturtyp "Ente" nennt. Streng genommen ist es gar keine selbständige Architektur mehr.

Venturi, der maßgeblich an dem Schlüsselwerk "Learning from Las Vegas" (1972) beteiligt war, leugnet nicht, dass sein Credo für eine "Enten-Architektur" sich mit den trivialen und mitunter hässlichen Formen des Bauens deckt, die für Städte so bemerkenswert sind. Die Städte stellen nach Venturi dennoch tagtäglich ihre Funktionalität unter Beweis, und ihre gegen den guten Geschmack verstoßende Alltagsbaukunst ist bei der Mehrheit der Einwohner populär.

Herr, vergib uns, wie auch wir vergeben unsern Nachbarn

Bertolt Brecht behauptete: "Das Volk ist nicht tümlich." Brechts klassenbewusste Position ist längst von einer Bewusstseinsindustrie okkupiert und überspielt, die das Volkstümlerische nicht erst in den Köpfen platzieren muss, weil es dort je schon vorhanden ist.

Der Austausch zwischen den inneren Bildern und Wunschvorstellungen einerseits und den Angeboten der Kulturindustrie andererseits nennt sich Selbstverwirklichung. Sie scheint am besten einem Mittelstand zu gelingen, der sich im neuen Eigenheim vor der Stadt niederlässt. Oder sind die Traumbilder von einer trauten Trutzburg im Grünen etwa vorfabriziert von der Bauindustrie, die ein Instant-Ambiente frei Haus verspricht?

An dieser Stelle lahmt die Selbstverwirklichung bereits. Individualität wird nachgereicht, wird der Fassade, dem Eingangsbereich und dem Vorgarten verpasst mit allem, was die Baumärkte zu bieten haben. Diesen Besonderheiten widmet sich Fröbe in ihrem jüngst herausgekommenen Bildband "Eigenwillige Eigenheime". Wie im Band davor, der größere Einheiten zum Thema hatte, geht sie bei der Dokumentation von Einfamilienhäusern nicht mit dem architekturpädagogischen Zeigefinger vor, sondern mit feinherber Ironie. Die Eigenheimkolonien sind zu schön, um modern zu sein. Wenigstens nach der Intention ihrer Bewohner.

Fröbe nimmt die Häuser, wie ihre Eigentümer sind. Sie müssen selbst erkennen, wann und wo ihre gestalterischen Bemühungen ins Komische umschlagen. Humor ist, wenn man selber über sich lacht.

Die Individualisierungssucht kann zwanghaft werden, sobald sie auf Nachbarn stößt, die ebenfalls davon befallen sind. Die Distanzierung vom ungeliebten Nachbarn wird besonders an Doppelhaushälften sichtbar. Fassadenmaterial und Anstrich, Friese und Fenster, Aufgänge und Zäune - alles wird strategisch eingesetzt, um die Bausünden der Nachbarn "zu beantworten, zu kommentieren, zu übertrumpfen oder um ganz einfach neben ihnen bestehen zu können." Die Doppelhaushälften sehen dann aus, als sei ein scharfes Messer in sie gefahren. Durch den Riss in der Mitte bekommen solche "Schizohäuser" zwei unterschiedliche Gesichtshälften.

Das Wettrüsten geschieht nach dem Motto: Viel ist nicht genug. Eine durchgehende Erscheinung sind "pseudo-neohistoristische" Fassadengestaltungen. Aber anything goes. Etwa: Bayrischer Barock meets Tausendundeine Nacht. Oder: Gelsenkirchener Barock verläuft sich nach Bayern. Einig sind sich die eigenwilligen Eigenheimbesitzer nur in einem Punkt: Bausünden sind immer die der anderen.

Zur Straße hin entwickeln die Häuser geradezu Street-Art-Qualitäten, findet Fröbe. Mottogärten künden von fremden Kulturen. Miniaturisierte Themenparks inszenieren die italienische Renaissance. Säulen schmücken Schuppen und Garagen. Anklänge an die Antike erheben den Garagenkubus zum sakralen Bezirk eines Auto-Schreins. Wer Glück hat, dem wird das im Schrein Verborgene im Vorübergehen offenbart. Eine neue Sünde tut sich hier auf, die "Autosünde" SUV. Die Garage vermittelt die Innenwelt mit der Außenwelt.

Die Bausünde hat sich nach draußen ausgebreitet. Mit Schottergärten und Gabionen macht man nicht viel verkehrter, als es ohnehin schon ist. Grünpflege war gestern. Doppelstabmattenzäune, in die Fototapeten mit Ziegel, Bambus oder sogar Gabionen-Imitate eingefädelt werden, sind auf dem Durchmarsch von den Baumärkten in die schlechte Realität eigenwilliger Eigenheime. Aus der Montageanleitung eines Baumarktes für Doppelstabmattenzäune: "Du kannst dem Nachbarn zeigen, was Du drauf hast." Steht der Zaun erst einmal, lässt sich jedoch nichts mehr zeigen.

Zum guten Schluss stellt Turit Fröbe einen kleinen Katechismus für Bauherren auf. Daraus:

Sei mutig! / Überrasche deine Mitmenschen! / Bau deine Bausünde nicht für dich, sondern für die anderen! / Sei deinen Nachbarn immer einen Schritt voraus. Sie werden es dir danken! / Alles kann zur Bausünde werden! / Passt nicht geht immer! Vergib deinen Nachbarn!

Die Analogien und Schlüpfrigkeiten zwischen Dichtkunst und Baukunst, von denen dieser Beitrag seinen Ausgang nahm, können nun rekapituliert werden. Der Dichter Robert Gernhardt sagte über Gedichte wie das eingangs zitierte von den "schwebenden Engelein": Schlechte Gedichte müssen außerordentlich gut sein, um komisch zu wirken. - Das trifft nicht weniger auf die Kunst der Bausünde zu.

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