"Niemand in Belarus ist an einer Vereinigung mit Russland interessiert"

Blick auf den Minsker Unabhängigkeitsplatz (Archivbild, 2009). Foto: Zedlik / CC BY-SA 3.0

Ein angeblich sensationelles Kreml-Papier und die Lage in Weißrussland. Ein Gespräch mit dem Minsker Politologen Artjom Schrajbman.

Als Sensation behandeln aktuell große deutsche Medien ein geleaktes Kreml-Dokument, nach dem eine Unterwanderung von Belarus mit dem Ziel einer Vereinigung mit Russland bis 2030 in Arbeit ist. Zeigen solche Dokumente eine neue Entwicklung in der Kreml-Strategie gegenüber Weißrussland? Wie ist die Lage in Minsk vor Ort?

Telepolis sprach darüber mit dem aus Minsk stammenden Politologen Artjom Schrajbman, der heute im Exil lebt.

Der Politologe Artjom Schrajbman war jahrelang politischer Redakteur bei der heute verbotenen Minsker Onlinezeitung tut.by und Gastanalyst des Carnegie-Zentrums in Moskau – bis zu dessen Schließung durch die russische Regierung. Er musste aufgrund einer drohenden Verhaftung aus Belarus fliehen und lebt heute im Ausland.

"Es ist nicht neu, dass es Dutzende solcher Dokumente gibt"

Herr Schrajbman, es gibt ja formell schon seit Jahrzehnten einen unfertigen Unionsstaat Belarus-Russland, der auf halbem Weg zur wirklichen Vereinigung längerfristig hängen geblieben ist. Soll dieser Weg jetzt in den nächsten sieben Jahren vollendet werden?

Artjom Schrajbman: Es ist nicht neu, dass es Dutzende solcher Dokumente wie das aktuell viel beachtete gibt. Wenn nicht sogar Hunderte in verschiedenen Abteilungen der Russischen Regierung. Aus dem neuen Dokument folgt nicht, dass es von irgendjemandem schon abgesegnet wurde, etwa von Putin persönlich. Es hat nur eine Abteilung der Präsidialverwaltung einen Plan erstellt – und es ist bei weitem nicht die wichtigste im Kreml. Und er wurde vor dem Krieg, besser gesagt vor 2022 geschrieben. Inwieweit er und die zugrundeliegenden Ideen veraltet sind, wissen wir nicht wirklich.

Enthält das Dokument bisher unbekannte Ansätze?

Artjom Schrajbman: Ich sehe keine großen Neuerungen, um ehrlich zu sein. Die Nachricht ist, dass bestimmte Szenarien auf irgendeiner Ebene in den russischen Behörden diskutiert wurden, vor dem aktuellen Krieg. Das sind vielleicht Neuigkeiten für Historiker oder für Archivare. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das für jetzt überhaupt Neuigkeiten sind.

Es ist ja in den verbundenen Presseberichten von einer Unterwanderung von Belarus durch Russland die Rede. Gibt es eine solche?

Artjom Schrajbman: Es wird im Ausland über eine Machtergreifung dort gesprochen. Eine solche gibt es nicht. Das herrschende Regime in Belarus ist das gleiche wie in den letzten 29 Jahren. Ja, es betreibt heute eine prorussischere Politik im In- und Ausland als früher. Das ist eine Tatsache.

Und es ist offensichtlich, dass die Integration der beiden Länder vor allem seit Kriegsbeginn enger geworden ist. Das bedeutet aber nicht, dass in Weißrussland ein von Russland direkt und für immer kontrolliertes Regime errichtet wurde.

Sollte es die Möglichkeit bekommen, so wird sich das belarussische Regime sofort wieder hin zu mehr Unabhängigkeit bewegen, als es heute hat. Lukaschenko schätzt seine eigene Macht weit mehr als alle russischen Interessen oder eine Agenda der "Russischen Welt" oder die Wiederherstellung eines Imperiums. Das belarussische Regime passt sich nur an die aktuelle Situation an, ändert aber nicht sein Wesen.

Ist Lukaschenko dann weiter ein "Bremser" der russisch-weißrussischen Vereinigung?

Artjom Schrajbman: Ja, ist er. Der Plan einer schnellen Vereinigung ist, wie Sie sagen, ein Wunsch von jemandem im Kreml. Das ändert Lukaschenkos Interessen und die seines eigenen Apparates nicht. Niemand in Belarus ist an einer Vereinigung mit Russland interessiert. Das ändert sich auch nicht durch Dokumente, die in der Kremlverwaltung zirkulieren.

Halten Sie es dann, anders als manche westlichen Journalisten, für unwahrscheinlich, dass sich Belarus mit eigenen Truppen am Ukraine-Krieg beteiligt? Oder eine russische Offensive von weißrussischem Boden startet?

Artjom Schrajbman: In naher Zukunft halte ich das für nicht sehr wahrscheinlich. Auf dem Territorium von Belarus gibt es nicht genügend Truppen – weder für einen Kriegseintritt noch für eine von dort ausgehende russische Offensive.

Die Militärexperten, die ich kennen, meinen, dass Russland ohne zusätzliche Mobilmachung nicht ausreichend Kräfte für eine zusätzliche Front hat oder für neue Offensiven aus anderen Richtungen, als der momentanen. Ohne neue Mobilisierung wäre eine Weißrussische Front für Russland mit großen Schwierigkeiten verbunden.

Sollte sich diese Lage ändern, werden wir das im Vorfeld sehen. Vorbereitungen dafür können nicht versteckt werden. Truppen und Ausrüstung für eine Offensive müsste verlegt werden. Pionierausrüstung, um Minenfelder zu überwinden oder gesprengte Brücken im Norden der Ukraine. Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Aber momentan ist es schwer, Prognosen für mehr als sechs Monate zu treffen.

Es ist auch zu lesen, dass eine Vereinigung von Weißrussland und Russland nur ein erster Schritt von Putin zu einer Wiederherstellung eines russischen Imperiums sei, das darüber weit hinausgeht. Ist das nicht illusorisch angesichts der Tatsache, dass Russland durch den aktuellen Krieg eher geschwächt als gestärkt ist?

Artjom Schrajbman: Die Wiederherstellung eines russischen Imperiums ist heute nur innerhalb der Grenzen möglich, die Russland militärisch kontrolliert. Das sind neben Russland selbst Südossetien, Abchasien, die besetzten Gebiete der Ukraine. Selbst Weißrussland würde militärisch dazu gezwungen werden müssen und nicht freiwillig zustimmen, ein Teil Russlands zu werden.

Das betrifft sowohl das Regime als auch die große Mehrheit der Bevölkerung. Es ist mir unklar, wie Putin oder andere russische Offizielle ohne Gewalt so etwas durchsetzen wollen, also ohne direkte Übernahme der militärischen Kontrolle.

Ist nicht russisches Militär in Belarus stationiert?

Artjom Schrajbman: Es ist ein kleines russisches Militärkontingent in Belarus stationiert. Das ist aber weit entfernt von einer militärischen Besatzung.

"Wünsche sind weit von einer Umsetzung entfernt"

Würde Putin nach einem erfolgreichen Ukraine-Krieg über eine solche Besetzung von Weißrussland entscheiden? Wäre das der Beginn eines neuen russischen Imperiums?

Artjom Schrajbman: Ich weiß es nicht. Ich kann ein Szenario einer Besetzung leider auch nicht ausschließen. Wenn dies wahr würde – ein Anschluss von Belarus auf dem militärischen Weg – würde das neue Russische Reich dann nur die Grenzen von Belarus zusätzlich beinhalten. Niemand in Zentralasien oder im Kaukasus will sich mit Russland vereinigen.

Das sind Horrorstorys, die durchaus das Denken eines Teils der russischen Elite widerspiegeln. Aber solche Absichten und Wünsche sind weit von einer Umsetzung entfernt. Russland ist hier bei der Verwirklichung seiner Pläne nicht sehr erfolgreich.

In Russland gab es ja innenpolitisch seit dem Kriegsausbruch eine Entwicklung von einer Autokratie hin zu einer echten Diktatur. Sehen Sie eine ähnliche Entwicklung in Belarus?

Artjom Schrajbman: Im Prinzip ja. Weißrussland ist in vielerlei Hinsicht noch diktatorischer als Russland. Die Repressionen gehen noch tiefer, sind noch schwerwiegender. Etwa die Anzahl der politischen Gefangenen, die fehlende Toleranz für andere Sichtweisen, die Totalität.

Aber in Russland kommt es zu vielen Verhaftungen.

Artjom Schrajbman: Zu langen Haftstrafen werden, wie es mir scheint, vor allem Oppositionsführer und Antikriegsaktivisten verurteilt. In Belarus sprechen wir von 1.000 politischen Gefangenen in einem kleinen Land und Hunderte von ihnen verbüßen lange Haftstrafen.

In Belarus ist noch eine viel größere Zahl von Betätigungen im Rahmen der Meinungsfreiheit strafrechtlich verboten. In Russland schaffen es immer noch Politiker wie die Partei Jabloko zu existieren, eine Art minimale Kritik zu formulieren.

Einige Publikationen versuchen noch immer Ausgewogenheit zu bewahren, etwa RBK, Kommersant oder die Medien von Sobtschak. Das sind Blogger, die in Belarus unmöglich wären. Solche Grautöne existieren dort nicht mehr, sie wären schon lange im Gefängnis.

Die Entwicklung zum Totalitarismus hat in Belarus früher stattgefunden, 2020 wurde hier zu einem Wendepunkt, die Niederschlagung der Oppositionsbewegung. Sie ist vergleichbar mit der Zerschlagung von Solidarnosc Anfang der 80er Jahre, ein Ausnahmezustand. Die Opposition in Weißrussland sitzt im Gefängnis. Im Exil existiert eine konterrevolutionäre Bewegung. Hier hat das Regime in Belarus nichts neues erfunden.