No Christmas 2022: Ein Plädoyer gegen das Fest
Unterm Baum ist der Schrecken gebannt – oder auch nicht. Ein "Fest der Liebe" war es nie. Über den Zynismus eines Kommerz- und Konsumfests in Kriegs- und Krisenzeiten.
Die alten Ankerplätze sind verloren.
Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung
Muss Weihnachten unbedingt sein, besonders dieses Jahr? Ein Wohlstand, der auf Ausbeutung beruht, hält uns gerade das Stoppschild vor die Nase. Der Fortschritt hat uns in eine Welt des Schreckens versetzt. Das Hotel Erde schafft unsere Ansprüche nicht. Wir sind Zuschauer, wie unser System kollabiert, von dem wir ein Teil sind. Das Menetekel der Pandemie hätte uns die Augen öffnen sollen.
Eine in Symbolismus gefangene und in der Substanz aufgebrauchte Politik erweist sich zunehmend nicht als Lösung, sondern als Agens der Widerwärtigkeiten, in denen wir feststecken. Religion entpuppt sich mehr und mehr in ihrem Doppelgesicht als gewalttätige und zugleich leichenhaft dürre und gespenstische Sinnprovinz – iranische Mullahs, römischer Papismus, evangelikale Trumpisten, überhaupt die Agonie der Kirchen.
Wir brauchen den falschen Schein nicht; schon gar nicht im heiligen Kostüm. Die Flucht in die Vergangenheit ist überaus kindisch, sie löst keines der anstehenden Probleme. Im Gegenteil, sie befördert die geistige und intellektuelle Trägheit und verstärkt unsere Ohnmacht.
Im Folgenden drei Gründe gegen das Fest.
1. Selig klingeln (immer noch) die Kassen
Dass man auch in China heute Weihnachten liebt und das dazugehörige Brimborium eifrig kopiert, belegt nur die Faszination des Mythos und zugleich seine Entleerung. Im Bürgertum des Westens war das Fest ein Stabilisator; in der Massenkultur sowie auch den Schützengräben zweier Weltkriege, in denen man am 24. Dezember für wenige Stunden Schießpausen einlegte, enthüllte sich seine sentimentale Falschheit.
Covid-19 hat Weihnachten vorübergehend aus dem öffentlichen Raum verbannt. Eigentlich eine gute Gelegenheit, sich von einer Leiche zu verabschieden. Gelegenheit verpasst. Gerade erlebt das Fest seine Post-Corona-Auferstehung; die Weihnachtsmärkte können den Ansturm kaum fassen. Lichterketten verunstalten Privathäuser und Vorgärten wie selten zuvor.
Der Ursprung der Feierlichkeiten aus dem römischen Kultbestand des sol invictus, der unbesiegten Sonne (Fest der Wintersonnenwende), kulturgeschichtlich gut belegt, wird immer noch von christlichen Stereotypen überlagert. Dabei gehört der holde Knabe unterm Baum von jeher dem magischen Gedankenkreis vom "Göttlichen Kind" an, das als Heilsbringer die Dunkelheit vertreibt.
Dem Wesen nach ein kulturübergreifender Topos und keineswegs eine okzidentale Erfindung. Das Ideal, wie auch immer man es nennen mag, ist längst verkonsumiert. Selig klingeln hauptsächlich die Kassen. Die Kundschaft fügt sich der Grundregel vom Warentausch, der das Miteinander okkupiert. Dieses Jahr wegen schwindender Budgets möglicherweise etwas moderater, jedenfalls nicht aus Einsicht.
2. Die Entwirklichung
2022 ist das Fest ein Fausthieb für alle, denen es dreckig geht! Und das sind Millionen, deren nackte Existenz nicht mehr, wie Jahrhunderte zuvor, in weite Ferne geschoben ist. Unser abendliches Wetterleuchten stammt von den Raketeneinschlägen, die wir in Echtzeit verfolgen. Vor unserer Haustür, in der Ukraine, tobt ein unbarmherziger Krieg.
Die Strecke Berlin-Lwiw beträgt gerade mal 795 Kilometer. So weit nur ist der Krieg entfernt. In Kiew, Odessa, gerade wieder aufflammend im Donbass, verfolgen wir Abend für Abend die Apotheose der Gewalt.
Umfragen zufolge lässt die Empathie mit der Dauer des Krieges nach. Der Tod ist angekommen. In unserer Mitte. Wir tauchen ein in die Entwirklichung. In Köln und anderswo müssen Sperren errichtet werden, um den Ansturm von Einheimischen und der Touristen aus den Nachbarländern zu beherrschen, die in die Städte strömen, um zu vergessen.
Die Weihnachtsmärkte bieten vorübergehend Asyl diesen Unbehausten der anderen Art. Ihre Torschlusspanik verläuft als seelische Demarkationslinie entlang den Lügen von einer Zeitenwende. Auch wenn die Klientel mit Auto, Bus und Bahn aus beheizten Wohnungen und Einfamilienhäusern anreist, sie sind Obdachlose, Entwurzelte.
3. Im Karussell des Immergleichen
Viel ist davon die Rede, ein Zeichen zu setzen. Jetzt, vor einem ausweglos anachronistischen Weihnachten, wäre Gelegenheit dazu. Am Beispiel der Fußball-WM in Katar wird überdeutlich, wie absolut Sport (als postulierter Wert) und Kommerz verflochten sind, wie unauflöslich die Verstrickung gediehen und wie falsch das Ethos ist, wenn es aufgesetzt daherkommt.
Echte, gelebte Grundsätze sind nicht vorhanden. Das gerade macht eine äußere Symbolik unglaubwürdig, ja lächerlich und anstößig. "One Love" herrscht sicherlich zwischen Fifa und den katarischen Eliten, um beim Beispiel zu bleiben. Punkt.
So leichthin wird das Liebesthema überstrapaziert, das gilt umso mehr für Weihnachten, das nie ein Liebesfest war, sondern schon immer ein Täuschungsmanöver.
Die Saturierten, getrieben vom krassesten Eigeninteresse, feiern sich selbst, noch dazu als begnadet – Religion ist ihnen Maske und Alibi. Weiter unten auf der sozialen Skala sind die Festtage dagegen eher dringend benötigte Atempause im unduldsamen Produktionsprozess, wonach das Rad des Lebens (dieses horrende Karussell) sich desto bereitwilliger weiterdreht. Die Kinderaugen: quarzerleuchtet.
Den Armen im Rest der Welt spendiert man Brosamen im Gegenzug für Kinderbildchen und Adressaufkleber.
Mit Terry Gilliam: No Christmas!
Ich musste die Tage an einige unsterbliche Szenen aus dem Film "Brazil" von Terry Gilliam denken (1985), der eine an den Rand des Wahnsinns gelangte dystopische Zivilisation heraufbeschwört, die mitten in ihrer pechschwarzen Inhumanität nicht versäumt, Weihnachten zu feiern. Die blutverschmierten Trümmer und menschlichen Überreste der Anschläge und Detonationen, die hier tagtäglicher Bestandteil des Daseins sind – so auch Weihnachten –, werden mit eilends herbeigeschafften Paravents zugestellt. Worauf das Schmausen lustig weitergeht.
100.000 Soldaten sind seit Februar auf ukrainischer Seite gestorben, Schätzungen sprechen von 20.000 getöteten Zivilisten. Und ja, die Migrationsrouten nach Europa, die sich als Todesfallen erwiesen haben, zielen mitten ins Herz des alternden Kontinents, der mit seiner inneren Düsternis zu kämpfen hat, die sich im falschen Lichterglanz tarnt.
Christmas 2022: Wir nähern uns dem kafkaesken Wahn. Als geklaute Ressource und verkappter Seelenwärmer war das weihnachtliche Getue in Kriegs- und Krisenzeiten ein Anker, aber das ist fragwürdig genug und diese Art Vergangenheit müssen wir nicht kopieren. Beenden wir also Nebel und Konfusion. Die alten Ankerplätze sind verloren.